Die meisten Unternehmen ziehen sich leider oft aus der Verantwortung, wenn es darum geht, die Arbeits- und Menschenrechte in den Produktionsländern der Textilindustrie zu schützen. Die europäischen – darunter viele deutsche – Unternehmen seien angeblich auch gar nicht in der Lage, durch Nachverfolgung ihrer Lieferketten die Arbeits- und Umweltstandards einzuhalten. Aber stimmt das?
Hintergrund: Die globale Bekleidungsindustrie beschäftigt weltweit 75 Millionen Menschen. Etwa 70 bis 80 Prozent von ihnen sind geringqualifizierte Frauen. Der weltweite Gesamtumsatz im Handel mit Textilien beträgt über 2,86 Billionen Euro. Über 70 Prozent der in die EU importierten Bekleidung wird in Asien hergestellt, wobei China und Bangladesch die größten Produzenten sind.
Nach dem Einsturz der Fabrik Rana Plaza in Dhaka vor vier Jahren mit 1129 Toten und über 2500 Verletzten gab es erste Sofortmaßnahmen seitens der Industrie. Neben dem Vision Zero Fonds, einem im Jahr 2015 von der G7 initiierten Globalen Fonds für Unfallschutz, wurde gemeinsam mit Gewerkschaften und der Industrie der Bangladesh Accord for Fire and Safety gegründet, um die Gebäudesicherheit der Fabriken in Bangladesch zu erhöhen.
Konsumenten haben weltweit angefangen zu hinterfragen, unter welchen Arbeitsbedingungen ihre Kleidung hergestellt worden ist. Die Industrie hat teilweise mit selbstkreierten Standards und Zertifikaten reagiert, um ihre soziale Verantwortung zu zeigen. Die OECD hat bereits im Jahre 1976 zum ersten Mal ihre Leitsätze für multinationale Unternehmen verabschiedet, die Empfehlungen für verantwortliches Unternehmerverhalten bezüglich Transparenz, Arbeitsbeziehungen, Umwelt, Korruption oder Verbraucherschutz geben. Im Februar 2017 wurde von der OECD eine aktualisierte und spezialisierte Anleitung für Schuhe und Bekleidung veröffentlicht, die sogenannte OECD Due Diligence Guidance for Responsible Supply Chains in the Footwear and Garment Sector, die der Freiwilligkeit unterliegt. Interessant und bezeichnend dabei ist, dass die Leitsätze der OECD bei weitem nicht allen Unternehmen und Regierungen bekannt sind.
Konsumenten haben weltweit angefangen zu hinterfragen, unter welchen Arbeitsbedingungen ihre Kleidung hergestellt worden ist.
Auch einige europäische Staaten haben reagiert. So ist in Deutschland im Oktober 2014 das vom Entwicklungsminister Gerd Müller initiierte Bündnis für Nachhaltige Textilien ins Leben gerufen worden – eine Multi-Stakeholder-Initiative, die heute über 140 Mitglieder aus Industrie, Regierung, Gewerkschaften und Nichtregierungsorganisationen zählt. Das Vereinigte Königreich hat im Jahr 2015 den Modern Slavery Act eingeführt. Frankreich ging sogar mit einer Gesetzesinitiative noch weiter und machte Sorgfaltspflichten für französische Unternehmen verbindlich.
Diese freiwilligen oder auch verbindlichen Initiativen sind ein Anfang. Jedoch wünschen sich sowohl Unternehmen als auch die initiierenden Staaten eine ähnliche Koordination auf europäischer Ebene. Handelspolitik ist Europapolitik. Deswegen müssen Fragen der Bekleidungs-Lieferketten europäisch und gesetzlich bindend angegangen werden. Auch, wenn es seit langem viele freiwillige Initiativen seitens der Industrie gibt und auch wenn sie noch so viel Unternehmensverantwortung zeigen: Von dem Ziel, allen Arbeitern in den Produktionsländern wie Bangladesch, Pakistan oder Indien existenzsichernde Löhne zu gewähren, die Kernarbeitsnormen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) einzuhalten und damit das Streik- und Versammlungsrecht zu respektieren sowie Sklaven- und Kinderarbeit abzuschaffen, ist man noch weit entfernt.
Die Produktionsländer und deren teilweise autoritäre Regierungen missachten weiterhin Menschen- und Arbeitnehmerrechte. Ein trauriger Höhepunkt war zum Beispiel die Entlassung von 1500 Textilarbeitern und Verhaftung von Dutzenden Gewerkschaftsaktivisten in Bangladesch im Dezember 2016. Der Verhaftungswelle war ein Streik für existenzsichernde Löhne vorausgegangen. Unter anderem internationale Gewerkschaftsverbände wie IndustriALL Global appellierten in einem Protestbrief an die Unternehmen, die in Bangladesch produzierten, sofort mit der dortigen Regierung Kontakt aufzunehmen und die Freilassung von Gewerkschaftern zu fordern. Die EU-Kommission reagierte mit einem warnenden Brief an die Regierung in Bangladesch. Sollten weiterhin die von der ILO geforderten Reformen bei Menschen- und Arbeitnehmerrechten nicht eingeleitet werden, werde die EU Bangladesch aus dem Schema der allgemeinen Zollpräferenzen (Generalised Scheme of Preferences, GSP) entfernen.
Besonders schlimm ist die Situation in den sogenannten freien Exportzonen, da dort arbeitsrechtliche Ausnahmen und Steuerbefreiungen sowie Einschränkungen der gewerkschaftlichen Tätigkeiten und Tarifverhandlungen häufig an der Tagesordnung sind.
Die Unternehmen, die ihre Produktion von Europa in Länder verlegt haben, in denen weniger Rechte für Arbeitnehmer gelten, holt nun das internationale Verbraucherbewusstsein und die gesellschaftspolitische Verantwortung ein. Man kann nicht außer Acht lassen, dass die Unternehmen zumindest indirekt von der menschenrechtsverachtenden Arbeitsmarktpolitik profitieren. Je niedriger die Löhne, desto mehr verdienen H&M, GAP und Co..
Die Produktionsländer und deren teilweise autoritäre Regierungen missachten weiterhin Menschen- und Arbeitnehmerrechte.
Deswegen muss endlich ein konsequenter Schritt auf EU-Ebene erfolgen: eine EU-weite Gesetzesinitiative, die einerseits die Unternehmen dazu bringt, andererseits sie dazu befähigt, ihre Lieferketten nachzuverfolgen und offenzulegen. Die EU-Kommission hatte dies schon vor zwei Jahren als große „Flagship initiative on the garment sector“, also Leitinitiative in der Bekleidungsbranche, angekündigt. Bisher ist nichts passiert. Dem EU-Parlament dauerte dies zu lang und es verabschiedete im April 2017 mit großer Mehrheit einen Initiativbericht, in dem es genau das fordert, was lange überfällig ist und was alle Fäden in einem Strang zusammenführen würde: einen Gesetzesentwurf zu verbindlicher Sorgfaltspflicht für alle europäischen Unternehmen, angelehnt an die OECD-Richtlinien. Die Unternehmen sollen dazu gebracht werden, ihr Corporate Social Responsibility (CSR) Engagement in eine kohärente EU-Regulierung einfließen zu lassen und sich nicht darauf auszuruhen. Die EU-Regulierung würde auch denen am anderen Ende der Lieferkette nützen, nämlich den Arbeiterinnen und Arbeitern in den Produktionsländern.
Der Bericht fordert nicht nur Verantwortung seitens der Unternehmen. Er bedenkt, dass Klein- und Mittelständischen Unternehmen (KMUs) die nötigen Ressourcen und technische Unterstützung bekommen sollten, um ihre Lieferketten offenzulegen. Dazu soll auch die Kommission in der Frage des Recyclings und der Textilforschung aktiv werden und finanzielle Mittel sowie Know-how zur Verfügung stellen.
Die Kommission muss in der Gesetzgebung übrigens das Rad nicht neu erfinden, sondern kann bestehende nationale Initiativen wie das deutsche Textilbündnis als Beispiel nehmen und diese auf EU-Ebene anhand der OECD-Richtlinien weiterentwickeln. Dies würde sicher nicht nur im Sinne der Nationalstaaten sein, sondern auch der Unternehmen, von denen etliche dem Textilbündnis beigetreten sind. Einige von ihnen wurden bereits vor dem Hintergrund ihrer Erfahrung von der EU Kommission angehört. Das ist ein Ansatz eines Multi-Stakeholder-Prozesses, den die Kommission für die Gesetzgebung aufnehmen kann.
Doch die EU-Kommission weigert sich leider weiterhin, das Thema wirklich anzupacken. Sie setzt auf Freiwilligkeit und präsentierte als Reaktion auf den Initiativbericht ein Arbeitsdokument, in dem sie lediglich ihre bisherigen Aktivitäten auflistet. Doch das reicht bei weitem nicht, ein Gesetz muss her. Das hat bei den Konfliktmineralien auch funktioniert. Die Argumentation der EU Handelskommissarin Cecilia Malmström ist, dass die Lieferketten in der Bekleidungsbranche viel komplexer seien und deswegen nicht nachverfolgt werden können, was ein Gesetz zu Sorgfaltspflichten obsolet macht. Aber genau das ist der springende Punkt: die Frage nach der Henne und dem Ei. Soll ein Gesetz deswegen nicht ins Leben gerufen werden, weil seine Ausführung zu kompliziert sein wird und soll somit weiter mit dem Leben der Arbeiter in den Produktionsländern gespielt werden?
Die EU-Kommission weigert sich leider weiterhin, das Thema wirklich anzupacken.
Für die Kommission wäre dies eigentlich ein hervorragendes Momentum, ihre Strategie der Nachhaltigkeitsziele (Sustainable Development Goals, SDGs) in der Handels- und Wirtschaftspolitik konkret in die Tat und als Best Practice umzusetzen.
Dass transparente Lieferketten und nachhaltige Produktion möglich sind, zeigen übrigens bereits progressive Unternehmen, die sich bewusst der Problematik stellen und die ihre Nachverfolgbarkeit der Lieferketten zum Business-Modell gewählt haben. Ein Positivbeispiel dafür ist MaxTex, eine internationale Vereinigung von Unternehmen und wissenschaftlichen Institutionen, die sich ernsthaft mit nachhaltigem Handeln in der Textilwirtschaft sowie mit der öffentlichen Beschaffung befassen.
Der Faden ist also sichtbar, er muss nur gemeinsam von der EU-Kommission sowie den Unternehmen geschickt aufgenommen und verwoben werden. Gleichzeitig muss der Verbraucher von seinem Informationsrecht Gebrauch machen, damit er sein T-Shirt mit ruhigem Gewissen tragen kann.