Massenhafte und landesweite Proteste, brennende Autos und knüppelnde Polizisten katapultierten Brasilien im Juni in die internationalen Medien. Eine allgemeine Unzufriedenheit, eine fern von den Realitäten regierende, sich selbstbereichernde Politikerriege, die Inflation, eine schlechte Wirtschaftslage, soziale Missstände sowie die Korruption wurden von den meisten Analysen als Gründe für die Proteste ausgemacht. Die Proteste in der Türkei, sogar der Mauerfall mussten als Vergleich herhalten.
Seit Juni ist die Frequenz der Demonstrationen vor allem in São Paulo und Rio de Janeiro noch erheblich gestiegen. Aktuell handelt es sich allerdings nicht mehr um denselben Typ von massenhafter und unorganisierter Unmutsäußerung, sondern neben kleineren Demonstrationen auch um die Gewerkschaften, Lehrer und Erdölarbeiter, die ihre Forderungen auf den Straßen stellen.
Ist dies eigentlich noch dasselbe Land, das bis vor kurzem mit positiven Schlagzeilen auf sich aufmerksam gemacht hat: sechstgrößte Wirtschaft der Welt, Erfolgsmodell der Armutsreduzierung und des Aufbaus einer "neuen Mittelschicht", ruhige, stabile und liberale Demokratie, Pionier des Einsatzes nicht-fossiler Energieträger in Lateinamerika, geopolitische Supermacht des globalen Südens, die ihrer Stimme ohne hegemoniale Ansprüche Gehör verschafft hat?
Proteste als Fortschrittsindikator
Ja, es ist dasselbe Land. Denn die Fundamente dieser Erfolge sind nicht brüchig, sondern werden stärker. Der Protest auf der Straße ist Zeichen und Resultat des demokratischen und sozialen Fortschritts. Die Post-Militärdiktatur-Generation kennt als politisches System nur die Demokratie. Brasilien gilt unter Sozialwissenschaftlern als solide Demokratie, die aber, trotz enormer Fortschritte in der letzten Dekade, weiterhin von einer Realität ungleicher Bürgerrechte und ungleicher Ausgangsbedingungen sowie außerordentlichen sozialen Problemen geprägt ist.
Im Vergleich zur Occupy-Bewegung oder zu den Straßenprotesten in Spanien oder Griechenland geht es in Brasilien nicht um soziale Auswirkungen einer finanzwirtschaftlichen Schieflage.
Im Vergleich zur Occupy-Bewegung oder zu den Straßenprotesten in Spanien oder Griechenland geht es in Brasilien nicht um soziale Auswirkungen einer finanzwirtschaftlichen Schieflage. Auch handelt es sich nicht um Proteste, die sich gegen eine disqualifizierte autoritäre Regierung richten und versuchen, einen "tropischen" Frühling einzuläuten. Dies wird nicht zuletzt vor dem Hintergrund der erstaunlichen Bilanz dreier Regierungen unter Präsidentschaft der Arbeiterpartei (PT) und gerade im sozioökonomischen Bereich deutlich.
Brasilien erlebte zwischen 1985 bis Mitte der 1990er Jahre zwei hyperinflationäre Prozesse und brachte erst zum Ende des Jahrhunderts eine praktisch 20-jährige Schuldenkrise unter Kontrolle. 2003 übernahm die erste PT-Regierung ein makroökonomisch stabilisiertes Land mit desaströsen Sozialindikatoren. 15 Millionen Menschen befanden sich in absoluter Armut, 35 Prozent der Bevölkerung waren arm. Mit ihrer Mindestlohnpolitik, realen Lohnzuwächsen sowie der Formalisierung von Arbeitsplätzen und damit verbunden dem Recht auf Rente, Urlaub und Lohnfortzahlung im Krankheitsfall haben die Regierungen Lula und Rousseff klassische sozialdemokratische Politiken eines Sozialstaats umgesetzt.
Mit Sozialhilfeleistungen wurden rasch weitere Fortschritte bei der Bekämpfung der Armut erzielt. Die hierdurch geschaffene Nachfrage trieb bei gleichzeitig vorteilhaften internationalen Rahmenbedingungen die Wirtschaft an. Seit 2003 wurden 18 Millionen Arbeitsplätze geschaffen. Schätzungsweise 40 Millionen Menschen schafften zwischen 2003 und 2011 den Sprung in die sogenannte »neue Mittelschicht«, die heute mit 58 Prozent der Bevölkerung die größte soziale Gruppe in Brasilien darstellt. Dabei handelt es sich jedoch in erster Linie um eine neue Arbeiter- und Angestelltenschicht, die der statistisch definierten Armut zwar entkommen ist, aber oftmals in prekären Verhältnissen lebt. 62 Prozent der Beschäftigten verdienen nur bis zu zwei Monatslöhnen (jeweils ca. 250 Euro; 2011) und 64 Prozent der neuen Arbeitsverträge (2009) werden nach weniger als einem Jahr auch wieder gekündigt. Trotzdem hat sich Brasiliens Einkommensverteilung sichtbar verbessert und auch die Lohnquote ist wieder auf ihren Stand von 1990 zurückgekehrt. Es bleibt noch viel zu tun, doch es wurde auch viel erreicht.
Von den Protesten überrascht...
Aufgrund der grundsätzlich positiven gesellschaftlichen Veränderungen hatte niemand mit massiven Protesten und Demonstrationen gerechnet. Ursprünglich eine Reaktion auf die Erhöhungen der Bus- und Metrotarife in São Paulo und Rio de Janeiro schlossen sich aufgrund der Brutalität der Polizeieinsätze, die auch Unbeteiligte traf, immer mehr Menschen der Protestbewegung an und lösten eine Protestlawine aus, wie sie bis dato in der jüngeren brasilianischen Geschichte eher unbekannt war.
Die Demonstranten waren vornehmlich jung, urban und gebildet. Neben der Kritik an den Fahrpreisen wurde bald auch gegen den maroden Zustand des Gesundheits- und Bildungssystems, gegen die Korruption, die hohen Steuern und gegen die sportlichen Megaprojekte protestiert. Gerade weil die jüngeren Bürger Brasiliens in der Demokratie aufgewachsen sind, kritisieren sie eine Politikergeneration, die nun schon lange am Ruder ist. Es sind die von diesen Reformregierungen generierten gesellschaftlichen Veränderungen, die den Stimmungsumschwung begründen.
Statt um Armutsbekämpfung geht es nun um die Forderungen nach Qualität und Umfang sozialer Dienstleistungen.
Der Erfolg sozialer Mobilität produziert neue Forderungen. Statt um Armutsbekämpfung geht es nun um die Forderungen nach Qualität und Umfang sozialer Dienstleistungen. Es wird um das Steuersystem, um die Verwendung des Steueraufkommens, um das Rentensystem sowie um die Abschaffung von Privilegien, also um neue staatliche Regulierungen gerungen. Zunehmen werden dabei auch die Forderungen nach einer Ausweitung der Transparenz und einer Vertiefung partizipativer Elemente der Demokratie auf allen Ebenen.
Vielleicht beschleunigen die Proteste dabei letztlich eine Demokratisierung der Demokratie. Wie in vielen anderen westlichen Ländern auch, konzentriert sich in Brasilien Demokratie auf die Stimmabgabe am Wahltag. Die gesellschaftliche Dynamik findet gerade nicht innerhalb traditioneller Parteien statt. Der Austausch im virtuellen Raum hat sich zu einer "Gegenmacht" zu den klassischen repräsentativen Elementen entwickelt. Die Parteien als Transmissionsriemen von sozialen Protesten und politischen Forderungen reichen nicht mehr aus, überflüssig sind sie deswegen aber noch lange nicht.
Demokratisierung der Demokratie
Vielleicht sind die traditionellen Parteien oft zu bürokratisch und häufig auch unfähig, die neuen Formen von Politik zu begreifen, wie der spanische Soziologe Manuel Castells anmerkte. Auch Lula sieht die Gefahr einer alternden Linken in Lateinamerika und mahnt an, den Kontakt zur Bevölkerung nicht zu verlieren. Wo das geschieht, helfen die dezentralen Räume wie soziale Medien oder Straßenproteste, die traditionelle Politik zu erneuern.
Die Proteste sind daher kein Absang auf eine überkommene Phase des Enthusiasmus, sondern vielmehr die politische Taufe eines sozial aufsteigenden Teils der brasilianischen Gesellschaft.
Die Proteste sind daher kein Absang auf eine überkommene Phase des Enthusiasmus, sondern vielmehr die politische Taufe eines sozial aufsteigenden Teils der brasilianischen Gesellschaft. Die Gesellschaften Lateinamerikas fordern heute auf der Basis ihrer Wahldemokratien schlichtweg mehr von ihrer Demokratie. Sie fordern ein Mehr an Beteiligung und Rechten und ein Mehr an Qualität der Politik. Vor diesem Hintergrund sind die Proteste in Brasilien ein demokratisches Brodeln, das sich mit den erzielten Fortschritten nicht zufrieden gibt.
Die spontanen und massiven Meinungsäußerungen sind dabei weiterhin Warnzeichen, die eine Demokratisierung der Demokratie anmahnen – wie sich das auch viele in der verwalteten Demokratie Deutschlands wünschen.
Dieser Text ist eine leicht abgewandelte Version des Beitrags "Das demokratische Brodeln in Brasilien", erschienen in Neue Gesellschaft / Frankfurter Hefte (10/2013).