Die Wiederwahl der brasilianischen Präsidentin Dilma Rousseff schien eigentlich relativ sicher. Allerdings nur bis der Kandidat der sozialistischen PSB und einer Koalition weiterer fünf Parteien, Eduardo Campos, am 13. August durch einen Flugzeugunfall ums Leben kam. Seitdem ist es in Brasilien zu einer überraschenden Veränderung der Kräfteverhältnisse gekommen.

Im Zentrum dieser Entwicklung steht Marina Silva. Erst Mitte August war sie überraschend der PSB beigetreten. Kurz darauf war sie PSB-Vizepräsidentschaftskandidatin, nach Campos Tod wurde sie Präsidentschaftskandidatin. Zuvor war Silva über 20 Jahre Mitglied der brasilianischen Arbeiterpartei (PT) und bis zu ihrem Rücktritt 2008 auch Umweltministerin der Regierung Lula gewesen. Anfang 2009 war sie aus der PT ausgetreten, um bei den Präsidentschaftswahlen vor vier Jahren für die grüne Partei PV zu kandidieren. Aus dem Stand kam sie auf 19 Prozent der Stimmen.  

 

Eine neue Politik?

Marina Silva zeichnet sich weniger durch neue Ideen aus, denn als Hybrid. Sie steht zwischen den beiden Blöcken um die PT und die Partei der brasilianischen Sozialdemokratie (PSDB) des ehemaligen Präsidenten Fernando Henrique Cardoso. In der Sozialpolitik und in Fragen der Beteiligung steht sie den traditionellen Forderungen der PT nahe. Anders aber in Wirtschaftsfragen: Dort vertritt sie den wirtschaftsliberalen Kurs der PSDB und zwar durchaus auf Kosten bisheriger Positionen zu Nachhaltigkeit und Umweltschutz, die sie international bekannt gemacht haben. So sind genetisch modifiziertes Saatgut und auch die früher so heftig kritisierten Staudammprojekte oder das Waldgesetz für Silva nun allesamt kein Problem mehr.

Zur Koordinierung ihres Regierungsprogrammes stehen ihr zwei Vertreter der brasilianischen Geldelite zur Seite. Gewerkschaften dagegen tauchen in ihrem Umfeld so gut wie nicht auf. Arbeitsmarkt- und Industriepolitik haben nur wenig Raum gegenüber der Handelspolitik und einer Reduzierung protektionistischer Instrumente.

Auch ihre Mitgliedschaft in einer der größten evangelikalen Kirchen der Pfingstbewegung verdeutlicht konservative Einstellungen, insbesondere in Bezug auf Schwangerschaftsabbruch und Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften, aber auch in Fragen der embryonalen Stammzellforschung oder der Drogenpolitik. Gerade die großen evangelikalen Kirchen lehnen die progressiveren Positionen der PT hierzu vehement ab.

Silva ruft nach einer „neuen Form der Politik“, mit der die für Brasilien schädliche Polarisierung zwischen den Blöcken aufgehoben werden soll.

Schon jetzt gilt als sicher, dass ihre Parteienkoalition zur Umsetzung ihrer Vorhaben im Kongress bei weitem zu klein sein wird. Bei Fragen nach der Umsetzbarkeit werden politische und gesellschaftliche Widersprüche sowie Machtstrukturen ausgeblendet. In einer „Zusammenarbeit der Besten“, gleich welcher politischer und sozialer Herkunft, sollen sich Lula und Cardoso ihrem Projekt ebenso anschließen wie Gewerkschaftsführer und Unternehmer, Umweltaktivisten und das Agrarbusiness, Millionäre und Vertreter von Sozialbewegungen. Silva ruft nach einer „neuen Form der Politik“, mit der die für Brasilien schädliche Polarisierung zwischen den Blöcken aufgehoben werden soll. Doch tatsächlich stehen hinter dieser „neuen Form“ viele der alten und bekannten Mechanismen. Ihre Koalition geht in den Bundesländern pragmatische Koalitionen mit Gruppen ein, die auf nationaler Ebene als Gegner gelten. Machtgruppen aus Wirtschaft und Kirche konnten Einfluss auf das Regierungsprogramm nehmen. Ihr professioneller Wahlkampfauftritt funktioniert wie der der anderen Parteien und ist streng personalisiert. Allem voran ist Silva ihr eigenes Programm. Denn sie versteht Parteien als Vehikel für Kandidaturen und nicht als programmatischen Rahmen.

Silva hat Chancen, die Wahlen zu gewinnen. Denn sie hat mit Erfolg den Lagerwahlkampf zwischen den Koalitionen um PT und PSDB aufgebrochen und die Wählerpräferenzen in Bewegung gebracht. Hierfür gibt es im Wesentlichen drei Gründe.

Erstens gleicht ihr politisches und privates Leben dem Lulas. Aus ärmsten Verhältnissen kommend und unter widrigsten Umständen gelang beiden nicht nur der Aufstieg, sondern auch der Aufbau einer hohen politischen Glaubwürdigkeit. Zweitens wurde der Tod von Campos mit einer massiven Berichterstattung emotional extrem aufgeladen und so für die neue Präsidentschaftskandidatin politisch nutzbar gemacht. Am wichtigsten ist (drittens) jedoch, dass in einem relativ kurzen Zeitraum in der brasilianischen Bevölkerung ein massiver Wunsch nach politischem Wandel entstanden ist.

 

Die Stimmung ist deutlich schlechter als die Lage

Brasiliens Entwicklungserfolge der letzten Dekade sollten eine erneute Kandidatur von Rousseff eigentlich in ein Heimspiel verwandeln. Doch unter der neuen politischen Konstellation garantieren sie nun keinen Wahlerfolg mehr. Denn weder der Regierung noch der PT ist es gelungen, ein auf dem bisherigen Fortschritt aufbauendes positives Narrativ in der Gesellschaft zu verankern. Im Gegenteil, die Stimmung ist deutlich schlechter als die Lage. Und sie richtet sich vehement gegen Regierung und PT.

Das ist nicht zuletzt der im Vorfeld der Wahlen erfolgreich politisch motivierten Inszenierung von Problemen und der Verallgemeinerung konjunktureller Phänomene geschuldet. Die Konvergenz zwischen Wahlkampf der Opposition und der Berichterstattung der großen Medienkonzerne führte zu einer erfolgreichen Beeinflussung der Akteure im In- und Ausland. Dafür wurde auch die Fußballweltmeisterschaft instrumentalisiert. Der Opposition ist es wesentlich besser als bei den vergangenen Wahlen gelungen, die öffentliche Meinung mit der Perzeption einer bevorstehenden Krise durch Regierungsversagen zu beeinflussen. Die Notwendigkeit eines politischen Wandels wurde in der öffentlichen Meinung fest verankert.

Die soziale Mobilität des Landes ist mit einem Wertewandel und vor allem mit einem neuen Set gesellschaftlicher Erwartungen und konkreter Ansprüche an den Staat einhergegangen.

Aber es handelt sich dabei nicht lediglich um ein erfolgreiches Konstrukt. Der Stimmungsumschwung wäre ohne die gesellschaftlichen Veränderungen in der letzten Dekade nie so eindeutig gewesen. Die soziale Mobilität des Landes ist mit einem Wertewandel und vor allem mit einem neuen Set gesellschaftlicher Erwartungen und konkreter Ansprüche an den Staat einhergegangen. Gefordert werden breitere und qualitativ hochwertige öffentliche Dienstleistungen für eine Mehrheit der Bevölkerung, deren sozialer Aufstieg hiervon abhängt.

Das Problem:  Der Staat konnte diesen Erwartungen unter den gegebenen Ausgangsbedingungen, den finanziellen Spielräumen und angesichts der existierenden Machtverhältnisse schlicht nicht gerecht werden. Das war einer der Gründe der großen Demonstrationen vor einem Jahr. Denn trotz der Entwicklungsfortschritte sind die Lebensrealitäten eines Großteils der Brasilianer weiterhin prekär. Eine „neue Arbeiterschicht“, besonders junge Menschen, vergleicht die Situation nicht mehr mit der von vor zehn Jahren, sondern fordert Lösungen für die Defizite von heute. Sie lehnt zu einem großen Teil die Parteien insgesamt ab. Und versteht ihren sozialen Aufstieg auch nicht als Resultat politischer Veränderungen.

Diese Entwicklung jedoch wurde verkannt. Parteien und Gewerkschaften wurden von der Wucht der Demonstrationen überrascht. Leiden tut und tat darunter jedoch vor allem die PT. Einerseits wurden ihre Erfolge der letzten Dekade von der Bevölkerung als selbstverständlich absorbiert. Andererseits sind nach zwölf Jahren an der Macht die Regierung und auch die PT Teile eines politischen Systems, das seine Glaubwürdigkeit verloren hat. Denn das System erzwingt widersprüchliche Allianzen zwischen den Parteien. In denen aber geht es weniger um die großen Themen der Nation, sondern um einen – zu Recht – als opportunistisch wahrgenommenen Handel. Und auf diesen haben aufgrund der privaten Finanzierung der Wahlkämpfe obendrein die Wirtschaftseliten Zugriff.

 

Das Rennen ist offen

Die Nominierung von Silva hat die politische Konjunktur im Land gründlich verändert. Drei Wochen vor den Wahlen kann nicht vorhergesagt werden, welche der beiden Kandidatinnen das Rennen machen wird. Aus dem ersten Wahlgang dürfte voraussichtlich Dilma Rousseff mit 36-39 Prozent vor Marina Silva mit 28-33 Prozent hervorgehen. Im zweiten Wahlgang dürften beide Kopf an Kopf liegen. Das bedeutet auch: Eventuelle Skandale, ob konstruiert oder nicht, können ebenso den Ausschlag geben wie die fünf bis sieben Prozent der bislang Unentschiedenen. Silva baut darauf, im zweiten Wahlgang einen wichtigen Teil der Wählerstimmen der PSDB zu gewinnen, aus deren Sicht sie das kleinere Übel darstellt. Doch Wählerwanderungen sind noch im letzten Moment möglich – und zwar in beide Richtungen.

Die Glaubwürdigkeit von Silvas Diskurs der Nachhaltigkeit sowie ihres Versprechens einer „neuen Politik“ wird durch die von ihrem Vorgänger Campos eingegangenen politischen Abkommen mit Parteien und diversen Wirtschaftssektoren auf die Probe gestellt. Denn jede Änderung der politischen Positionierung zugunsten von Interessengruppen verstärkt die Zweifel der Öffentlichkeit.

Doch klar ist auch: Dilma Roussef ist heute weit von ihrer komfortablen Lage im Jahr 2010 entfernt. Ihr Vorgänger Lula schied damals mit einer extrem hohen Popularität aus dem Amt. Zwar konnte er einen Teil dieser Popularität durchaus auf seine Nachfolgerin übertragen, doch die Herzen der Brasilianer hat sie nicht erobert. Und auch zur eigenen Partei konnte Rousseff nie so eine affektive Beziehung aufbauen wie Lula.

Auf ihrer Habenseite steht jedoch der Erfolg, dass sie es war, die der unter Lula einsetzenden sozialen Mobilität trotz negativer wirtschaftlicher Entwicklung Kontinuität gegeben hat. So wird sie auch in den ärmsten Regionen weiterhin die meisten Stimmen erhalten. Dabei wird auch zu Buche schlagen, dass die PT als einzige Partei über eine aktive Mitgliedschaft und eine organisatorische Struktur bis herunter auf die Stadtteilebene im ganzen Land verfügt. Schon mehrmals gelang es ihr, im letzten Moment das Ruder herumzureißen. Für Roussef geht es um jede einzelne Stimme.