Mein letztes längeres Gespräch mit dem Oppositionspolitiker Boris Nemzow fand Mitte Oktober 2014 statt. Die Krim gehörte schon zu Russland, im Osten der Ukraine loderte bereits der Krieg, der Westen hatte Sanktionen gegen Russland verhängt, der Ölpreis fing an zu sinken und erreichte 85 US-Dollar pro Barrel. Ich erörterte, wie hart diese Entwicklungen die russische Wirtschaft treffen könnten und was passieren würde, wenn die Ölpreise ihre Talfahrt fortsetzten. Das Fazit lautete folgendermaßen: Die russische Wirtschaft sei überaus stabil, sie beruhe vor allem auf Rohstoffexporten, und da die weltweite Nachfrage nach Rohstoffen nicht abnimmt, sei auch keine gravierende Krise zu erwarten; auch wenn die Währungsreserven der Zentralbank etwas geschmälert wurden, sei nicht zu befürchten, dass Verbindlichkeiten gegenüber dem Ausland auf die Zahlungsbilanz drücken würden; eine schrittweise Abwertung des Rubels werde für den Haushalt den Sturz der Ölpreise ausgleichen, und dank der Haushaltsreserven des Finanzministeriums könne der Staat bei einer Politik der Einschränkung des Haushaltsdefizits seine Leistungen noch eine Zeit lang garantieren.

Nemzow meinte, dass der aus dem Sturz der Ölpreise und der Kapitalflucht folgende Schock sich so verheerend auf die durch und durch korrupte, monopolisierte, verstaatlichte russische Wirtschaft auswirken werde, dass sie unvermeidlich zusammenbrechen werde.

Leider, sagte ich, werde das bei einem Ölpreis von 60 US-Dollar und selbst von 40 US-Dollar nicht passieren. Ich wolle und könne mich nicht für das russische Wirtschaftsmodell erwärmen, da es von der freien Marktwirtschaft so weit entfernt sei wie Simbabwe von der Mongolei. Auch das Korruptionsniveau, die staatliche Erpressung und die tatsächliche Rolle des Staates in der Wirtschaft seien mir bestens bekannt. Diese Faktoren könnten die Effizienz der Wirtschaft drastisch verrringern, das Wachstum verlangsamen, sie könnten aber nicht den wirtschaftlichen Zusammenbruch herbeiführen. Ich könne sogar garantieren, dass die Regierung bei einer zurückhaltenden Geld- und Fiskalpolitik mindestens zwei Jahre lang nicht mit unlösbaren wirtschaftlichen Problemen konfrontiert werde.

Einen Monat nach diesem Gespräch fiel der Ölpreis auf 60 US-Dollar, und noch einen Monat später ereignete sich die Dezember-Währungskrise. Da rief mich Nemzow an und sagte: „Siehst du, ich habe doch gesagt, dass alles auseinanderbricht!“ Ich erwiderte, dass die Währungskrise vollkommen selbstverschuldet sei – die Leitung der Zentralbank hatte zu viele Fehler begangen – und gerade deswegen nicht schwer zu überwinden sein werde. Dies geschah auch in den folgenden Wochen, und obwohl der Ölpreis auf 45 US-Dollar sank, erlitt die russische Wirtschaft keine schweren Schocks mehr.

Ein gutes Jahr später fragte mich ein Teilnehmer der beschriebenen Diskussion: „Ein Jahr ist vorbei. Also wird die Wirtschaft in einem Jahr zusammenbrechen?“ – „Leider“, antwortete ich, „wird sie weder in einem Jahr noch in zwei Jahren zusammenbrechen.“ – „Wieso denn? Du hattest ihr doch nur zwei Jahre gegeben?“ Mir war klar, dass Nemzow, der im Februar 2015 einem Attentat zum Opfer fiel, mir heute die gleiche Frage stellen würde, und ich versprach, darauf ausführlicher einzugehen.

 

Russland ist nicht die UdSSR

Eine Volkswirtschaft ist eigentlich unsterblich. Selbst in den schwersten Kriegsjahren arbeiteten Menschen weiter, sie stellten Lebensmittel und Kleidung her, verkauften oder tauschten sie. Diese Aktivitäten gingen zwar stark zurück, hörten aber nie auf. Daher ist auch die Wendung „wirtschaftlicher Zusammenbruch“ nicht ganz korrekt. Das Wirtschaftsleben kann zwar abflauen, jedoch nie zum völligen Stillstand kommen.

Oft bekommt man die Frage zu hören: „Was ist denn mit der Sowjetunion, sie ist doch zusammengebrochen?“ Aber die Sowjetunion war eine Planwirtschaft, das heißt, die Entscheidungen, welche Güter in welcher Menge produziert werden, wurden hauptsächlich von Beamten in ihren Büros getroffen. Die Nomenklatura versuchte, für eine ausgeglichene und stabile Wirtschaft zu sorgen. Ende der 1980er Jahre war sie dazu aber nicht mehr in der Lage. Die Wirtschaft geriet immer stärker aus dem Gleichgewicht, es kam zu einer massiven Krise, die sich vor allem in der totalen Warenknappheit und der flächendeckenden Einführung von Bezugsscheinen äußerte.

Eine Volkswirtschaft ist eigentlich unsterblich.

In einer Marktwirtschaft wird das Gleichgewicht durch die freien Preisbewegungen gesichert. Daher besteht der entscheidende Schritt bei der Transformation von der Plan- zur Marktwirtschaft darin, die Preissetzung der staatlichen Kontrolle zu entziehen.

Die sowjetische Wirtschaft war seit Anfang 1991 so stark aus dem Gleichgewicht geraten, dass es nicht mehr möglich war, sie nur durch Bemühungen der Beamten wieder in Balance zu bringen. Die radikale wirtschaftliche Wende kam im Januar 1992, als die Regierung von Boris Jelzin und Jegor Gaidar die meisten Preise und den Rubelkurs freisetzte und damit die Voraussetzungen dafür schuf, dass die Wirtschaft langsam wieder ins Gleichgewicht zurückkehrte.

 

Gleichgewicht und Armut

Was man vom heutigen politischen Regime in Russland auch halten mag, man muss doch anerkennen, dass die Grundlagen der Marktwirtschaft – freie Preise und ein freier Rubelkurs – bisher nicht in Frage gestellt wurden, und die Regierung hat noch nie versucht, die Preise im großen Maßstab zu kontrollieren. Die Freiheit des Rubelkurses ist derzeit ebenfalls nicht in Gefahr. Da die russische Wirtschaft eine Marktwirtschaft ist und das marktwirtschaftliche Gleichgewicht durch die Preis- und Rubelkursbewegungen gesichert wird, kehrt sie zwangsläufig immer schnell zum Gleichgewichtszustand zurück, der wiederum durch exogene (Ölpreise) und endogene (politische Entscheidungen) Schocks gestört werden kann.

Dabei kann die russische Wirtschaft sowohl bei einem Ölpreis von 50 US-Dollar als auch bei 30 US-Dollar und selbst bei zehn US-Dollar ein Gleichgewicht finden. Im letzteren Fall kann zwar der Dollarkurs weit über 100 Rubel hinausschießen und die Inflation 20 Prozent überschreiten; möglicherweise büßt die Volkswirtschaft dabei weitere drei bis fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) ein und rutscht im weltweiten Ranking von Platz elf auf Platz 15. Die Zentralbank hat schon damit begonnen, den Staatshaushalt relativ intensiv durch Geldemissionen zu stärken (etwa ein Prozent des BIP 2015), und das Finanzministerium hat die „unantastbare“ Drei-Prozent-Defizitgrenze seit langem überschritten. Dies führt unausweichlich dazu, dass der Rubelkurs weiter sinkt, die Inflationsrate hoch bleibt und der Lebensstandard der Russen sinkt. Aus heutiger Sicht erscheint aber selbst ein jährlicher Preisanstieg von 30 Prozent unrealistisch: Mit Ausnahme der Länder, die sich im Krieg befanden, gab es seit 2000 weltweit nur zehn Staaten, die sich eine Inflationsrate von 30 Prozent oder mehr „erlauben“ konnten.

Die Russen haben die zehnprozentige Senkung des Konsums im vergangenen Jahr problemlos geschluckt.

Selbst dieses Szenario wäre kaum mit einem wirtschaftlichen Zusammenbruch gleichzusetzen. Hinzu kommt, dass die Russen die zehnprozentige Senkung des Konsums im vergangenen Jahr problemlos geschluckt haben, so dass die russische Regierung auch weiterhin die Politik verfolgen kann, die Gesamtlast der Krise auf die Bevölkerung abzuwälzen.

 

Passive Pessimisten

Wenn wir vom wirtschaftlichen Zusammenbruch sprechen, so beziehen wir uns auf die gesellschaftliche Wahrnehmung. In der UdSSR wurden Bezugsscheine zu einem sichtbaren Zeichen des Zusammenbruchs. Heute mag für einige das gewohnte Leben zusammengebrochen sein, weil sie sich kein neues Auto leisten können. Andere wiederum mögen die Absenkung des Einkommens unter das Existenzminimum nicht als Zusammenbruch empfinden (laut Regierungsstatistik betrifft das über 22 Millionen Russen). Ist diese subjektive Wahrnehmung des Zusammenbruchs messbar? Genau dafür gibt es soziologische Umfragen. Und hier stehen die Zeichen bisher nicht auf Sturm. Die großen Meinungsforschungsinstitute FOM und das Lewada-Zentrum liefern ähnliche Umfragewerte: Die Hälfte der Bevölkerung bewertet die aktuelle Wirtschaftslage als normal und etwas mehr als ein Drittel als schlecht.

Dabei wandelt sich das Bild relativ schnell: Seit Mai 2015 ist das Verhältnis von „Optimisten“ zu „Pessimisten“ (laut FOM) von fast 2:1 auf 1,15:1 gesunken. Da bisher kein Licht am Ende des Tunnels zu sehen ist und sich die Krisenerscheinungen in absehbarer Zukunft mehren werden, ist ein Anstieg der „Pessimisten“-Zahlen zu erwarten. Andererseits hat sich 2015 die Anzahl jener verringert, die gesellschaftliche Proteste für wahrscheinlich erachten. Also werden Wirtschaftsprobleme, auch wenn sie im Einkaufskorb gut sichtbar sind, noch nicht als eine Krise in den Köpfen empfunden.

Das militärpolitische Abenteuer im Osten der Ukraine kam die russische Wirtschaft teuer zu stehen, und hier meine ich nicht so sehr die Auswirkungen der Finanzsanktionen, sondern vielmehr die Abkopplung Russlands von dem Prozess der globalen Arbeitsteilung. Diese negative Entwicklung wird durch die russischen Gegensanktionen und die vermessene Importsubstitutionskampagne, die Milliarden von Rubeln aus dem Staatshaushalt verschlingt, nur verstärkt. All das wird zu einer technologischen Rückständigkeit und noch stärkeren Importabhängigkeit der russischen Wirtschaft, nicht aber zu deren Zusammenbruch führen.

Das Investitionsvolumen der russischen Wirtschaft sinkt seit über zwei Jahren.

Im Gegenteil: Es werden sich immer Unternehmer finden, die bereit sind, ihr Geld, ihr Vermögen und sogar ihre Freiheit aufs Spiel zu setzen, um ihrem Traum nachzugehen. Heute gibt es allerdings weniger solche Gründer als gestern, und gestern gab es nicht so viele wie vor zehn oder 15 Jahren. Deswegen sinkt auch das Investitionsvolumen der russischen Wirtschaft seit über zwei Jahren. Vielleicht werden solche Unternehmer künftig noch knapper sein, und das würde bedeuten, dass die russische Wirtschaft mittelfristig höchstens ein Wachstum von einem Prozent erreichen kann.

Zweifelsohne wird dies in historischer Perspektive katastrophale Folgen für Russland haben: Genauso wie unser Land die „Schiefergasrevolution“ in der Rohstoffförderung verpasste, wird es auch Durchbrüche in Biotechnologie und im Automobilbau, in der künstlichen Intelligenz und Gentechnik verpassen. Regierungsnahe Experten werden es als „Falle des mittleren Einkommens“ bezeichnen und erklären, dass wir hier nicht allein sind, dass viele Länder in diese Falle geraten und nur sehr wenige ausbrechen können. Für die Russinnen und Russen wird dies aber bedeuten, dass ihr Land im Hinblick auf den Lebensstandard nicht nur hinter den reichsten Industrieländern, sondern auch hinter den baltischen und osteuropäischen Staaten immer stärker und wahrscheinlich für immer zurückbleiben wird.