Es war einmal ein Axiom des Liberalismus, dass Freiheit unveräußerliches Selbsteigentum bedeutet. Sie waren Eigentum ihrer selbst. Sie konnten sich für einen begrenzten Zeitraum zu einem einvernehmlich vereinbarten Preis an einen Arbeitgeber verdingen, aber Ihre Eigentumsrechte an sich selbst konnten weder ge- noch verkauft werden. Während der letzten zwei Jahrhunderte legitimierte diese liberale, individualistische Perspektive den Kapitalismus als ein „natürliches“, von freien Entscheidungsträgern bevölkertes System.

Die Fähigkeit, einen Teil des eigenen Lebens abzuschotten und innerhalb dieser Grenzen souverän und selbstbestimmt zu bleiben, war zentral für das liberale Konzept des freien Entscheidungsträgers und seiner Beziehung zum öffentlichen Raum. Um Freiheit auszuüben, brauchte der Einzelne einen sicheren Zufluchtsort, innerhalb dessen er sich als genuiner Mensch entwickeln konnte, bevor er Beziehungen zu anderen einging und Transaktionen mit ihnen abschloss. Hatte sich das Menschsein dann erst einmal herausgebildet, wurde es gestärkt durch Handel und Industrie: Netzwerke der Zusammenarbeit zwischen unseren persönlichen Zufluchtsräumen, die geschaffen und überarbeitet wurden, um unsere materiellen und geistigen Bedürfnisse zu befriedigen.

Der für die autonome Entwicklung eines authentischen Selbst unverzichtbare persönliche Rückzugsraum ist inzwischen fast verschwunden. Der Lebensraum des Liberalismus ist dabei, sich aufzulösen.

Doch die Trennlinie zwischen Menschsein und Außenwelt, auf der der liberale Individualismus seine Konzepte der Autonomie, des Selbsteigentums und letztlich der Freiheit gründete, ließ sich nicht aufrechterhalten. Der erste Riss trat auf, als industrielle Produkte passé wurden und durch Marken ersetzt wurden, die die Aufmerksamkeit, Bewunderung und Sehnsüchte der Öffentlichkeit einfangen. Und dann dauerte nicht lange und der Markenaufbau nahm eine radikale neue Wendung und schrieb Dingen eine „Persönlichkeit“ zu.

Nachdem Marken Persönlichkeiten erworben hatten (was die Kundentreue enorm steigerte, und entsprechend auch die Gewinne), sahen sich die Einzelnen genötigt, sich selbst als Marke neu zu erfinden. Und heute, wo Kollegen, Arbeitgeber, Kunden, Kritiker und „Freunde“ pausenlos unser Online-Leben überwachen, stehen wir unter ständigem Druck, uns zu einem Bündel von Aktivitäten, Bildern und Veranlagungen zu entwickeln, das eine attraktive, verkaufsfähige Marke ausmacht. Der für die autonome Entwicklung eines authentischen Selbst – den Zustand, der unveräußerliches Selbsteigentum möglich macht – unverzichtbare persönliche Rückzugsraum ist inzwischen fast verschwunden. Der Lebensraum des Liberalismus ist dabei, sich aufzulösen.

Die klare Abgrenzung von privatem und öffentlichem Raum trennte zugleich die Freizeit von der Arbeit. Man muss kein radikaler Kapitalismuskritiker sein, um zu erkennen, dass das Recht auf eine Zeit, zu der man nicht zum Verkauf steht, ebenfalls so gut wie verschwunden ist.

Man denke an die jungen Leute, die heute in die Welt aufbrechen. Wer nicht über einen großzügigen Treuhandfonds oder ein großzügiges erwerbsunabhängiges Einkommen verfügt, landet überwiegend in einer von zwei Kategorien. Die große Mehrheit ist verdammt zur Arbeit im Rahmen von Null-Stunden-Verträgen und Löhnen, die so niedrig sind, dass sie jede verfügbare Stunde arbeiten müssen, um über die Runden zu kommen, was jede Erwähnung von Freizeit, persönlichem Raum oder Freiheit beleidigend werden lässt.

Vor jedem Tweet, den sie abschicken, jedem Film, den sie ansehen, jedem Foto und jeder Chatnachricht, die sie mit anderen teilen, müssen sie die Netzwerke in Betracht ziehen, die sie damit erfreuen oder verärgern könnten.

Den übrigen erzählt man, dass sie, um nicht in dieses seelenzerstörende „Prekariat“ zu fallen, jede wache Stunde in ihre persönliche Marke investieren müssen. Wie in einem Panoptikum können sie sich der Aufmerksamkeit derjenigen, die ihnen eine Chance verschaffen könnten (oder andere kennen, die das möglicherweise tun könnten), nicht entziehen. Vor jedem Tweet, den sie abschicken, jedem Film, den sie ansehen, jedem Foto und jeder Chatnachricht, die sie mit anderen teilen, müssen sie die Netzwerke in Betracht ziehen, die sie damit erfreuen oder verärgern könnten.

Wenn sie das Glück haben, ein Vorstellungsgespräch zu ergattern und den Job tatsächlich zu bekommen, verweist der Gesprächsleiter sofort auf ihre Ersetzbarkeit. „Wir möchten, dass Sie sich selbst die Treue halten und Ihren Leidenschaften folgen, selbst wenn das bedeutet, dass wir Sie gehen lassen müssen!“, erklärt man ihnen. Also verstärken sie ihre Bemühungen, „Leidenschaften“ an sich zu entdecken, die künftige Arbeitgeber zu schätzen wissen, um das mythische „wahre“ Selbst zu finden, das – wie die Mächtigen ihnen erzählen – irgendwo in ihnen steckt.

Ihre Suche kennt keine Grenzen und respektiert keine Limits. John Maynard Keynes zog einmal das Beispiel eines Schönheitswettbewerbs heran, um die Unmöglichkeit zu erklären, je den „wahren“ Wert von Aktien zu kennen. Die Aktienmarktteilnehmer seien nicht daran interessiert, zu bewerten, wer die schönste Wettbewerberin ist. Vielmehr beruhe ihre Entscheidung auf einer Vorhersage, wer nach der Durchschnittsmeinung am schönsten sei, und was die Durchschnittsmeinung für die Durchschnittsmeinung hält – womit sich die Katze in den Schwanz beißt.

Keynes’ Schönheitswettbewerb wirft ein Licht auf die Tragödie vieler junger Menschen von heute. Sie versuchen, herauszufinden, was laut der durchschnittlichen Meinung von Meinungsmachern das attraktivste ihrer „wahren“ Selbste ist, und rackern sich zugleich ab, dieses „wahre“ Selbst herzustellen – online und offline, bei der Arbeit und zu Hause, tatsächlich überall und jederzeit. Komplette Branchen von Beratern und Trainern und vielgestaltige Ökosysteme aus Pillen und Selbsthilfeprogrammen sind entstanden, um ihnen bei diesem Streben eine Richtschnur zu bieten.

Die Ironie ist, dass der liberale Individualismus von einem Totalitarismus besiegt worden zu sein scheint, der weder faschistisch noch kommunistisch ist, sondern erwachsen ist aus dem Erfolg des liberalen Individualismus, den Einbruch der Markenbildung und Kommodifizierung in unseren privaten Raum zu legitimieren. Diesen Totalitarismus zu besiegen und also die liberale Idee der Freiheit als Eigentum an sich selbst zu retten, erfordert möglicherweise eine umfassende Neuordnung der Eigentumsrechte an den zunehmend digitalisierten Mitteln der Produktion, Distribution, Zusammenarbeit und Kommunikation.

Wäre es nicht ein treffliches Paradoxon, wenn wir 200 Jahre nach der Geburt von Karl Marx beschlössen, dass wir, um den Liberalismus zu retten, zu der Vorstellung zurückkehren müssen, dass unsere Freiheit das Ende der zügellosen Kommodifizierung und die Vergesellschaftung der Eigentumsrechte an Investitionsgütern erfordern könnte?

Aus dem Englischen von Jan Doolan

(c) Project Syndicate