Es genügt ein kurzer Blick auf die vergangenen Jahre, um sich klarzumachen: 2015 dürfte weltpolitisch turbulent werden. 2014 war das Jahr der Ukraine-Krise und der Ebola-Seuche in Westafrika. Die eine trug die gesamteuropäische Ordnung von 1990 zu Grabe, die andere Tausende von Krankheitsopfern. Seit 2013 zerfällt die arabische Welt in Bürger- und Religionskriegen. 2012 wurde beherrscht von der Eurokrise, die die Zukunft der europäischen Einigung bedrohte (und tatsächlich noch immer bedroht). Der Außenminister hat Recht, wenn er in letzter Zeit häufig davon spricht, die Welt sei „aus den Fugen“ geraten. Weltpolitik ist – im Sinne der mathematischen Chaostheorie – turbulent geworden. Und Turbulenz bedeutet hier: Nichtlinear, mit unüberschaubar komplizierten Kausalzusammenhängen, kleine Ursachen, die große Wirkungen haben können, also: Unvorhersehbarkeit.

Die deutsche Außenpolitik sollte sich demnach darauf einstellen, erneut mit bösen Überraschungen konfrontiert zu werden. Diese konkret voraussagen zu wollen, ist in Zeiten von Turbulenz müßig. Wohl aber lassen sich einige Aussagen dazu treffen, warum die Weltpolitik so turbulent geworden ist und welche Schlussfolgerungen sich daraus für die deutsche Außenpolitik ergeben könnten.

 

Die Überlastung der Politik

In ihrem Kern lassen sich die weltpolitischen Turbulenzen der letzten Jahre auf zwei Ursachenbündel zurückführen. Das eine besteht aus den treibenden Kräften der Globalisierung, also all jenen Prozessen, die Menschen und Gesellschaften weltweit immer rascher, enger und intensiver miteinander in Verbindung bringen und voneinander abhängig machen. Ihre Dynamik bezieht die  Globalisierung aus dem historisch beispiellosen Fortschreiten von Wissenschaft und Technologie. Sie produziert damit die zweite Ursache für die Turbulenzen der Weltpolitik: Eine sich öffnende Schere zwischen dem Tempo des wissenschaftlichen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandels einerseits und der Fähigkeit der Politik, auf diesen Wandel angemessen zu reagieren, ihn zu zähmen und zu kanalisieren.

Der Anpassungsdruck, den die Globalisierung auf die Politik erzeugt, kommt dabei von innen wie von außen, von oben wie von unten. Er setzt sich um in vielfältige Forderungen an die Politik, ob auf der lokalen, der nationalstaatlichen, der regionalen oder der globalen Ebene, seitens anderer politischer Instanzen sowie der Wirtschaft und der Gesellschaft. Es sind dies Forderungen, die oft nur schwer oder gar nicht auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen sind. Gewiss versucht die Politik, sich darauf einzustellen, zu reagieren und sich anzupassen. Aber selten gelingt ihr das hinlänglich, häufiger nur unzulänglich, manchmal gar nicht.

Fragile, zerfallende oder zerfallene Staatlichkeit ist daher die gemeinsame Ursache vieler der Krisen in den vergangenen Jahren.

Die Folge ist eine Überforderung und Überlastung der Politik. Sie kann mehr oder minder ausgeprägt, sie kann offensichtlich sein oder eher im Dunkeln bleiben. Wird der Spagat über der sich öffnenden Schere zu groß, gerät die Politik in die Krise, brechen politische Strukturen und Institutionen womöglich ganz zusammen. Die wichtigste dieser Institutionen ist dabei der Staat, der durch den Spagat in besonderem Maße strapaziert wird. Fragile, zerfallende oder zerfallene Staatlichkeit ist daher die gemeinsame Ursache vieler der Krisen in den vergangenen Jahren. So konnte sich der Ebola-Virus in Westafrika vor allem deshalb so rasch und gefährlich ausbreiten, weil die staatlichen Gesundheitssysteme der betroffenen Länder unzureichend waren. Erst der völlig abgewirtschaftete und verkommene Zustand des ukrainischen Staates, wozu auch das ukrainische Militär und die Polizei zählten, öffneten Russland jene Einfallstore, die Moskau dann brutal und entschlossen nutzte, indem es die Krim besetzte und annektierte und die Ostukraine destabilisierte. Aber auch Russland selbst exemplifiziert die Wirkungen der sich öffnenden Schere zwischen den Anforderungen an die Politik und ihrer Leistungsfähigkeit: Das Regime des Präsidenten und Ministerpräsidenten Wladimir Putin, der nunmehr seit 15 Jahren an der Macht ist, scheiterte an der Aufgabe, Russland nachhaltig zu modernisieren und somit zukunftsfähig zu machen. Moskau suchte deshalb nach alternativen Möglichkeiten, den Herrschaftsanspruch seines Regimes zu legitimieren und verfiel dabei auf großrussischen Nationalismus und Neo-Imperialismus. Der dürfte freilich auf längere Sicht kaum geeignet sein, den Machtanspruch des Regimes zu festigen. Und natürlich verweisen auch die Erfolge des „Islamischen Staates“ IS (der weder islamisch noch ein Staat ist, sondern eine pseudo-islamische kriminelle Vereinigung) auf die Schwäche bzw. den Zerfall der staatlichen Strukturen in Irak und Syrien.

 

Die Krise der Staatlichkeit

Die Krise der Staatlichkeit insbesondere im Nahen und Mittleren Osten, in Afrika und in Zentralasien dürfte uns deshalb auch im kommenden Jahr weiter beschäftigen und beunruhigen. Doch beschränken sich die Phänomene der Politik-Überlastung keineswegs nur auf diese Staaten: In subtileren, (noch) weniger dramatischen Formen machen sie sich auch anderswo, etwa in den demokratischen westlichen Industriestaaten, in Japan oder in der Volksrepublik China bemerkbar.

Diese Phänomene der Überforderung der Politik gelten dabei nicht nur für Staaten: Betroffen sind auch zwischenstaatliche Organisationen, seien sie regional (wie die EU) bzw. funktional (wie die WTO) spezifiziert oder umfassend und global ausgelegt (wie die Vereinten Nationen). Viele von ihnen stecken ebenfalls in Krisen und suchen nach Wegen, sich an die neuen Bedingungen anzupassen, um so ihre Bedeutung zu wahren. Damit erfasst die sich öffnende Schere zwischen den Anforderungen an die Politik und ihrer Leistungsfähigkeit auch die internationale Ordnung insgesamt: Sie bröckelt, verliert ihre Fähigkeit, die internationale Politik in berechenbaren Bahnen zu halten und die anstehenden globalen Herausforderungen – wie Klimawandel, Wanderungsbewegungen oder die Ausbreitung von Massenvernichtungswaffen – zu bewältigen.

 

Die neue Bipolarität

Aus dieser erosionsgezeichneten Weltordnung schält sich als bestimmende Achse der Weltpolitik zusehends eine neue Bipolarität heraus, eine Bipolarität zwischen den beiden größten Mächten: Zwischen Amerika und China. Zu besichtigen war diese neue Bipolarität vor einigen Wochen in Beijing, während des Gipfeltreffens der APEC-Staaten, als sich der amerikanische und der chinesische Präsident auf einen klimapolitischen Kompromiss verständigten: Erst dieser bilaterale Kompromiss ermöglichte es, die internationale Klimapolitik wenigstens ein Stück weiter voranzubringen. Allerdings verweisen die Eckdaten dieses Kompromisses zugleich auf die engen Grenzen nationalstaatlicher Kompromissbereitschaft in der Klimapolitik. Washington und Beijing geben vor, auf welch bescheidendem Niveau die weltpolitischen Bemühungen, die Erwärmung des Erdklimas abzubremsen, sich in den kommenden Jahren bewegen dürften.

Wie und ob überhaupt sich Amerika und China bei den wichtigen Herausforderungen der Weltpolitik in Zukunft einig werden, dürfte sich immer mehr als die entscheidende Ordnungsfrage herausschälen. Zugleich aber fordert die Volksrepublik China die USA in ihrem Anspruch auf Weltmachtgeltung immer deutlicher heraus. Dem Anspruch Obamas: „Die USA müssen führen, weil es sonst niemand tut“, setzt Xi Jinping seine Forderung nach einer „Beziehung neuer Art“ zwischen den großen Mächten entgegen: China will mitbestimmen. Reibungslos dürften sich diese unterschiedlichen Positionen wohl kaum auf einen gemeinsamen Nenner bringen lassen: Die neue Bipolarität der Weltpolitik dürfte sich eher als konfliktträchtig denn als harmonisch erweisen.

Wie und ob überhaupt sich Amerika und China bei den wichtigen Herausforderungen der Weltpolitik in Zukunft einig werden, dürfte sich immer mehr als die entscheidende Ordnungsfrage herausschälen.

Was folgt aus alledem nun für die deutsche Außenpolitik? Zum einen bedarf sie dringend jener Fähigkeit, die gerade unter den Bedingungen der Krise als Dauerzustand so schwer zu gewinnen ist: Sie muss sich in die Lage versetzen, auf unerwartete Ereignisse nicht nur zu reagieren und unter Zeitdruck zu improvisieren, sondern gerade für das Unvorhersehbare – und damit scheinbar Unplanbare – zu planen, indem sie sich ihrer Strategien, ihrer eigenen Orientierungen ständig vergewissert und Flexibilitätsreserven schafft. Dazu bräuchte es Planungsstäbe, die wirklich planen, oder noch besser: permanente, institutionalisierte Reflexionsprozesse über bürokratische Zäune hinweg sowie rasch verfügbare finanzielle und personelle Ressourcen, um neue Situationen angemessen analysieren und Antworten formulieren zu können. In einer Welt, die aus den Fugen geraten und turbulent geworden ist, kann Außenpolitik nicht mehr im bürokratischen Routinemodus betrieben werden. Die Krise wird zum Normalfall, die Ausnahmesituation zur Regel.