Manfred Sapper, Chefredakteur der Zeitschrift Osteuropa

Die Polen haben der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) die Regierungsverantwortung übertragen. Das ist Sache der Polen, zumal sie wussten, worauf sie sich einlassen. Im Weltbild von Jarosław Kaczyński und seiner Partei gibt es nur Freund oder Feind. Diesen Begriff des Politischen haben sie mit allen Feinden der offenen Gesellschaft gemeinsam. Sie sind autoritär, antiliberal, antipluralistisch und haben allenfalls ein instrumentelles Verständnis von Recht.

Es ist kein Zufall, dass sich die PiS zuerst gegen zwei Schlüsselinstitutionen des freiheitlichen Rechtsstaats wendet: das Verfassungsgericht und den öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Der als „Verfahrensreform“ kaschierte Angriff auf das höchste Gericht ist ein Angriff auf dessen Unabhängigkeit und damit auf das Prinzip der Gewaltenteilung. Das verletzt die Grundlagen der europäischen Ordnung. Polen als Mitglied der EU und des Europarats hat Rechtsstaatlichkeit und Gewaltenteilung zu garantieren. Insofern ist es die Pflicht der EU zu intervenieren – bis hin zum möglichen Entzug des Stimmrechts im Ministerrat.

Es ist die Pflicht der EU zu intervenieren – bis hin zum möglichen Entzug des Stimmrechts im Ministerrat.

Doch so weit wird es nicht kommen. Brüssels Schritt hat in der PiS-Regierung bereits erhebliche Wirkung erzielt. Für alle Europäer ist es ein Signal, dass Rechtsstaatlichkeit nicht zur Disposition steht. Die Auseinandersetzung mit der PiS und den anderen Feinden der Offenen Gesellschaft geht uns alle an. Sind wir selbst bereit, die Freiheit der Medien und die Unabhängigkeit des Rechts im Dialog und Konflikt zu verteidigen? Darum geht’s!

 

Sabine Adler, Osteuropa-Korrespondentin des Deutschlandfunks

Es ist immer der Bote, dem bei schlechten Nachrichten der Kopf abgeschlagen wird. Der Präsident des Europäischen Parlaments, Martin Schulz, hatte die Reformen der neuen Warschauer Regierung als Veränderungen mit „Staatsstreich-Charakter“ kritisiert, als „gelenkte Demokratie nach Putins Art“. Der Vergleich tut weh, umso mehr, als dass vielen Polen Russland als Erzfeind gilt.

Doch Polens Gewaltenteilung ist bedroht. Die dafür wichtigste Institution, das polnische Verfassungsgericht, soll kaltgestellt werden, Richter und Staatsanwälte sollen vom Justizminister an die Kandare genommen, die öffentlich-rechtlichen und später womöglich auch die privaten Medien auf Linie gebracht werden. Wann, wenn nicht in einem solchen Fall sollte Brüssel aktiv werden? Es stimmt: Auch von der Regierung Tusk und auch in anderen EU-Ländern wurde und wird Macht missbraucht.

Die demokratischen Kräfte Polens haben Brüssels Solidarität verdient, aber nicht Polemik und Propaganda.

Und doch ist das nichts im Vergleich zu dem, was derzeit in Polen geschieht. Die Gesellschaft hat sich in wenigen Wochen grundlegend gewandelt. Die Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) mit ihrer absoluten Mehrheit in Sejm und Senat macht Angst. Sie teilt die Gesellschaft – wie der russische Präsident Wladimir Putin – nur noch in Freund und Feind. In dieser Polarisierung hat sich das politische Klima in kürzester Zeit auf eine Weise vergiftet, dass Freundeskreise, ja Familien bereits zutiefst zerstritten sind. Die PiS mit ihrem problematischen Vorsitzenden macht sich dessen zänkisches Naturell zu eigen, dessen Schwarz-Weiß-Denken, in dem Kompromisse als Niederlagen gelten. Brüssel wird mit Moskau zu kommunistischen Zeiten gleichgesetzt, die EU als von Deutschland dominiert betrachtet, die Achse Berlin-Moskau als ständige Bedrohung angesehen. Präsident Andrzej Dudas erster Besuch ging in die estnische Hauptstadt Tallinn, am Jahrestag des Hitler-Stalin-Paktes.

Die EU muss so oft als Blitzableiter herhalten. Die demokratischen Kräfte Polens haben Brüssels Solidarität verdient, aber nicht Polemik und Propaganda. Die liefert die PiS schon mehr als genug.

 

Dietmar Nietan, MdB, Vorstandsvorsitzender der Deutsch-Polnischen Gesellschaft

Der nun gegenüber Polen aktivierte erste Schritt des EU-Rahmens zum Schutz des Rechtsstaatsprinzips dient der Analyse und dem vertraulichen Dialog, keineswegs der Diffamierung oder Sanktionierung. Es ist richtig, dass die Europäische Union die Rechtsstaatlichkeit in ihren Mitgliedstaaten schützt und dabei auf Dialog setzt. Denn die konstruktive Auseinandersetzung auf EU-Ebene ist am ehesten dazu geeignet, Lösungen zu finden. Das europäische Vorgehen stärkt zudem jenen den Rücken, die sich innerhalb Polens gegen das Vorgehen der Regierung bei der Neubesetzung des Verfassungsgerichts und der Mediengesetzgebung aussprechen.

Eine deutsch-polnische Debatte über die politischen Entwicklungen in Polen anzuheizen, ist nicht sinnvoll.

Eine deutsch-polnische Debatte über die politischen Entwicklungen in Polen anzuheizen, ist jedenfalls nicht sinnvoll. Auch im bilateralen Verhältnis besteht die Notwendigkeit von Analyse und Dialog. Berechtigte Kritik soll nicht ausbleiben, sie sollte jedoch immer auch mit Zuhören sowie dem ernstgemeinten Versuch des Verstehens der anderen Seite einhergehen und besonnen vorgetragen werden. Miteinander reden hilft eigentlich fast immer – allemal bei einem EU-Partner und Nachbarland.

 

Reinhard Krumm, Leiter des Referats Mittel- und Osteuropa der Friedrich-Ebert-Stiftung

Die polnische Regierung hat den Zorn der EU auf sich gezogen. Denn die Unabhängigkeit des Verfassungsgerichts soll ebenso eingeschränkt werden wie die der öffentlich-rechtlichen Medien. Um die Verpflichtung zur Rechtsstaatlichkeit auch in Polen durchzusetzen, hat die Europäische Union zum ersten Mal ein Prüfverfahren eingeleitet. Schlimmstenfalls könnten Sanktionen verhängt werden. Warschau kooperiert zähneknirschend.

Sinnvoll wäre freilich, die Entscheidungsgründe der demokratisch gewählten Regierung in Warschau zu untersuchen. Es scheint, als ob Polen von den europäischen und nationalen Herausforderungen überwältigt ist. Da steht Polen nicht allein da. Eine zunächst erfolgreiche wirtschaftliche Transformation ist an ihre Grenzen gestoßen: hohe Jugendarbeitslosigkeit und kein überzeugendes Wirtschaftsmodell für die Zukunft.

Eine Prüfung aus Brüssel kann nur ein Teil der Antwort sein.

Zudem ist diese Schocktherapie nicht mit einer Diskussion über Polens Rolle im 21. Jahrhundert einhergegangen. Die negative Agenda ist bekannt, gegen Kommunismus und Russland. Aber wo ist die positive, die nationale und europäische Interessen in Einklang bringt? Die Vorgängerregierungen haben damit zwar begonnen, doch ist der Prozess keineswegs abgeschlossen.

Deshalb kann eine Prüfung aus Brüssel nur ein Teil der Antwort sein. Notwendig sind bilaterale Gespräche der europäischen Regierungschefs sowie Diskussionen der Zivilgesellschaften, um Polen erneut die wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Vorteile der EU-Integration auf Grundlage gemeinsamer Werte aufzuzeigen. Schließlich und endlich sind die polnischen Bürgerinnen und Bürger für den Kurs ihre Regierung verantwortlich, mit dem Ziel, dass Warschau eine verantwortungsvolle Rolle in Europa übernimmt.

 

Gabriele Lesser, Polen-Korrespondentin der taz in Berlin

Der Ton macht die Musik. Das Wort vom „europäischen Druck auf Polen“ sollte ganz schnell wieder in der Mottenkiste verschwinden. Die Kritik zielt ja auch weder auf den polnischen Staat ab noch auf die polnische Nation, sondern auf eine einzige Partei: die rechtsnationale Recht und Gerechtigkeit (PiS) und deren Vorsitzenden Jarosław Kaczyński. Es ist erschreckend, dass sich so viele Politikerinnen und Politiker in Polen, darunter der polnische Präsident und die Ministerpräsidentin, zu Handlangern dieses machtbesessenen und rachsüchtigen Politikers machen lassen. Selbst EU-Ratspräsident Donald Tusk, dessen Vertragsverlängerung auf dem EU-Posten auch von der Empfehlung der polnischen Regierung abhängt, lässt sich immer öfter vor den PiS-Karren spannen.

Die Mitgliedstaaten der EU sind in den letzten Jahren zusammengerückt. Aus dem gemeinsamen Haus mit den abschließbaren Wohnungen ist eine großzügige Wohngemeinschaft geworden. Die Türen stehen grundsätzlich offen. Die Mitbewohner vertrauen sich gegenseitig. Ein gemeinsam beschlossenes Regelwerk ermöglicht ein halbwegs harmonisches Zusammenleben. Meint jemand, er könnte dieses gemeinsame Regelwerk zerstören, die Demokratie in seinem Land abbauen und ein autokratisches System ohne Gewaltenteilung und Pressefreiheit etablieren, müssen die Mitbewohner, sprich die anderen EU-Staaten, eingreifen.

Gespräche mit Polen sind gut, je mehr, desto besser, aber auch strukturierte Verfahren mit Fragebögen, Inspektionen vor Ort und Fortschrittsberichten.

Gespräche sind gut, je mehr, desto besser, aber auch strukturierte Verfahren mit Fragebögen, Inspektionen vor Ort und Fortschrittsberichten. Da die PiS-Politiker permanent die Nazi-Keule schwingen und Berlin den Schwarzen Peter für die selbstgeschaffenen Probleme Polens in der EU zuschieben, wäre es gut, wenn vor allem Politiker anderer Mitgliedstaaten das Wort ergriffen. Die Nazi-Keule aber selbst zu schwingen, nur weil der Präsident des Europäischen Parlaments, Martin Schulz, von einer „Putinisierung“ der Politik Polens durch die PiS und insbesondere Kaczyński sprach, ist kontraproduktiv und nur Wasser auf den Mühlen der PiS. Wer eine Änderung erreichen will, muss in einer Sprache sprechen, die die andere Seite auch versteht. „Putinisierung“ ist ein Wort, das in der polnischen Diskussion immer wieder auftaucht und das – von einem Ausländer gesprochen – große Wirkmacht entwickeln kann.

 

Piotr Buras, Leiter des Warschauer Büros des European Council on Foreign Relations

Ob die Rechtsstaatlichkeit in Polen letztlich triumphiert, hängt vor allem von den Polen selbst ab. Die Mittel, die der EU zur Durchsetzung ihrer Prinzipien zur Verfügung stehen, sind mehr als bescheiden – zumal, wenn man sie mit den Anforderungen vergleicht, die die EU bei der Aufnahme ihrer Mitglieder stellt. Diese Schwäche ist bekannt und gewollt. Kein Staat will sich einer externen Aufsicht oder gar Einflussnahme ausliefern. Und doch ist der Rechtsstaatlichkeitsmechanismus, zu dem sich die Kommission 2014 selbst befähigte und der nun auf Polen angewandt wird, keine Anmaßung. Er ist ein (ziemlich zahnloses) Instrument eines strukturierten Dialogs, wenn sich – wie heute – die Anzeichen einer Verletzung des Rechtsstaats (und damit des EU-Fundaments) häufen.

Heute ist es wichtig, der polnischen Regierung und Gesellschaft zu vermitteln, dass eine europäische Diskussion (und Kritik) über die Rechtsstaatlichkeit in Polen eben keine illegitime Einmischung ist, sondern ein Teil der europäischen Öffentlichkeit. Damit dies gelingt und die Diskussion über Polen mehr Nutzen als Schaden bringt, müssen auch hier bestimmte Regeln beachtet werden.

Kritik von außen, die gezielt zu- beziehungsweise überspitzt, wie Martin Schulz mit der „Demokratie nach Putins Art“ oder dem „Staatstreich“, geht meistens nach hinten los.

Erstens, eine Kritik von außen, die gezielt zu- beziehungsweise überspitzt, wie Martin Schulz mit der „Demokratie nach Putins Art“ oder dem „Staatstreich“, geht meistens nach hinten los. Sie beraubt der Kritiker und der von ihnen repräsentierten Institutionen, der für ihr Handeln notwendigen Glaubwürdigkeit. Und sie stärkt ausschließlich die Argumentation jener, die sich jeglicher Kritik widersetzen. Zweitens, die Kritik muss differenzieren können. Nicht alles gehört in den Gesamtkorb „Gefahr für die Demokratie“. Zum Beispiel: ist das neue Gesetz über die Funktionsweise des Verfassungsgerichts ein Verstoß gegen die Unabhängigkeit und Arbeitsfähigkeit dieser Institution, so ist die Neuordnung der öffentlichen Medien (so umstritten und unschön sie sein könnte) nicht die gleiche Nummer. Vor allem ausländische Kommentatoren sollten sich vor Schnellschüssen hüten.

Drittens, zur Glaubwürdigkeit gehört auch, dass man die Vergangenheit nicht beschönigt, um die Gegenwart im noch schlimmeren Lichte erscheinen zu lassen. Ja, es gab Missstände in Polen in den letzten Jahren, die zwar nichts rechtfertigen, die aber die Temperatur des Konflikts und das weite Ausschlagen des Pendels heute erklären können. Viertens, es ist einfach, mit Verlaub, dumm, aus der heutigen Situation in Polen, den Schluss zu ziehen, es wäre seinerzeit besser gewesen, die EU-Osterweiterung einfach nicht geschehen zu lassen. Polen mag heute in der Post-Transformations-Krise stecken. Es hat aber, auch dank der EU, die Chancen der Transformation gut genutzt und war lange ein wichtiger Stabilitätsanker in Mittel- und Osteuropa. Es ist im Interesse der EU, dass Polen schnell wieder zu dieser Rolle zurückkehrt. Die neu-alten Trennlinien wieder zu beschwören, hat wenig Sinn.