Am 9. Mai gedenkt Russland des Sieges der UdSSR im „Großen Vaterländischen Krieg“. Seit der Herrschaft Leonid Breschnews zählt die Moskauer Siegesparade zum wichtigsten Tag im sowjetischen – heute dem russischen – politischen Kalender. Angesichts der ungeheuren Opfer der deutsch-sowjetischen Auseinandersetzung und des anschließenden sowjetischen Aufstiegs zur Weltmacht ist das verständlich.

Doch mit Breschnew bildete sich eine durchaus fragwürdige Zentralfunktion des Siegeskultes heraus: das Verdrängen anderer Katastrophen. Denn die sowjetische – und heute die russische – Führung benötigt den Siegeskult, um Russlands Geschichte im 20. Jahrhundert einen Sinn zu geben. Der Sieg über Deutschland wurde zum geheiligten Moment, in dem die UdSSR durch die Niederschlagung des Faschismus trotz aller eigenen Verbrechen dauerhaft auf der Seite der moralischen Sieger verortet wurde.

Zweifel an der weltgeschichtlichen Mission der Sowjetunion wurden und werden so ausgeschlossen. Seit Sowjetzeiten folgte die Geschichtspolitik vielmehr einer einfachen Logik: Ein Staat, der sich durch den Sieg über Hitler legitimierte, brauchte keine Rechenschaft mehr über die Revolution von 1917, den Bürgerkrieg, die Kollektivierung mit folgender Hungersnot, die Deportationen, den Gulag oder den Großen Terror abzulegen. Nur hinter verschlossenen Türen konnte über diejenigen gesprochen werden, die nicht aus den Lagern zurückgekehrt waren, nur dort konnten diejenigen berichten, die den Gulag überlebt hatten. In die Öffentlichkeit gehörte nur der Triumph von 1945. Den Opfern der kommunistischen Herrschaft hingegen drohte parteistaatlich dekretierte damnatio memoriae.

 

Selektive Erinnerung und Tabuisierung

Doch selbst der Krieg wurde und wird nur selektiv erinnert. Die Tabuisierung beginnt mit der Chronologie. In sowjetischer Lesart begann der „Große Vaterländische Krieg“ mit dem deutschen Überfall 1941. Das deutsch-sowjetische Bündnis nach dem Hitler-Stalin-Pakt, die Annexion Ostpolens, die Massaker von Katyń, der Einmarsch in die baltischen Staaten und der Winterkrieg gegen Finnland waren kein Teil der großen Erzählung. Auch die Jahre 1941 bis 1945 wurden nur bruchstückhaft erinnert. Der Holocaust, die Deportationen zahlreicher Ethnien unter dem Vorwurf der Kollaboration, das Schicksal sowjetischer Kriegsgefangener oder Verbrechen der Roten Armee blieben tabu. Ebenso die gewaltsame Sowjetisierung Osteuropas.

Mit dem Ende der kommunistischen Diktatur pluralisierte sich in der Sowjetunion das Geschichtsbild zumindest zeitweise. Unter Gorbatschow entspann sich eine breite Debatte über die Tragödien und Verbrechen des 20. Jahrhunderts. In dem Maße, in dem der Staat sich als erinnerungspolitischer Akteur zurückzog, verlor das Ritual am 9. Mai für einige Jahre an Bedeutung. Doch das liberale Intermezzo war nur von kurzer Dauer. Spätestens mit der Machtübernahme Vladimir Putins im Jahr 2000 kehrte der Kult des Großen Vaterländischen Krieges in die Öffentlichkeit zurück. Von besonderer symbolischer Bedeutung war dabei die Wiederaufnahme der Militärparaden auf dem Roten Platz.

Faktisch hat der Siegeskult im heutigen Russland eine noch größere Bedeutung erlangt als in der untergegangenen Sowjetunion. Die Feier des 70. Jahrestages soll nicht nur den russischen Staat historisch legitimieren, sondern auch seine antiwestliche Außenpolitik und den Angriff auf die Ukraine.

Wie unter Breshnew steht wiederum das Vergessen im Zentrum offizieller Erinnerung. Verdrängt werden heute nicht nur die Schrecken des Stalinismus, sondern auch die Hoffnungen der Perestroika auf eine verantwortliche Regierung, auf einen Rechtsstaat, eine liberale und wohlhabende Gesellschaft und auf ein Russland, das von seinen Nachbarn nicht gefürchtet, sondern anerkannt wird. All diese Erwartungen haben sich nicht erfüllt. An ihre Stelle tritt heute der Verweis auf die Großtaten der Vorväter. Sie allein sollen genügen, um die Gegenwart zu rechtfertigen. Der Stolz auf historische Größe legitimiert die außenpolitische Isolation und die gesellschaftliche Stagnation des Landes.

Innenpolitisch hat die Regierung die Teilnahme an den Feierlichkeiten zum Loyalitätsbeweis erklärt. Das Tragen des „Georgsbandes“ – eines neuen Siegessymboles – wurde zur patriotischen Pflicht stilisiert.

Doch neben das Vergessen treten 2015 noch eine weitere Funktionen des Siegeskultes: das Ausgrenzen Andersdenkender und die Abgrenzung gegenüber Europa. Innenpolitisch hat die Regierung die Teilnahme an den Feierlichkeiten am 9. Mai zum Loyalitätsbeweis erklärt. Das Tragen des „Georgsbandes“ – eines neuen Siegessymboles – wurde zur patriotischen Pflicht stilisiert. Es wird in Schulen und anderen staatlichen Einrichtungen verteilt. Es steht aber nicht nur für die Erinnerung an die Opfer des Krieges, sondern auch für die aggressive Außenpolitik Moskaus. Die Teilhabe an den Siegesfeiern bedeutet nun, dass man die Erzählung vom erneuten Kampf gegen den Faschismus – dieses Mal in der Ukraine – unterstützt. Wer sich nicht entlang dieser Leitlinien einreiht, ist kein Patriot. Damit rechtfertigt die offizielle Erinnerung auch die Marginalisierung der russischen Opposition.

So trägt der Siegeskult Putinscher Prägung zur Isolation Russlands bei. Während in anderen Staaten nationale Erinnerungsmuster zunehmend in die Kritik geraten, relativiert und häufig diskreditiert wurden, folgt Moskau einem Narrativ, in dem sich seine Nachbarn nicht wiederfinden. Es ist auf einem Sonderweg des geschichtspolitischen Verdrängens, das in dem martialischen Spektakel am 9. Mai seinen Höhepunkt findet. Es ist ein Kult, der nicht der historischen Erinnerung, sondern primär der Legitimation des russischen Machthabers dient. Wo aber aus der Konstruktion von Geschichte nationale Sonderwege konstruiert und imperiale Ambitionen begründet werden, ist Distanz nicht nur gerechtfertigt, sondern Plicht. Das gilt nicht nur für Europäische Union, sondern insbesondere für uns Deutsche, denen die Erinnerung an historische Siege fremd geworden ist. Europa braucht heute keine Militärparaden, sondern einen kritischen Dialog über die Vergangenheit und einen gemeinsamen Blick auf durchlebte Katastrophen. Das ist die eigentliche Aufgabe des 9. Mai.