In seinem Roman „A Plot against America!” entwarf Philip Roth 2004 das Schreckgespenst eines faschistischen Regimes in den Vereinigten Staaten von Amerika. Ganz in der Tradition der kontrafaktischen Geschichtserzählung geht Roth der provokativen Frage nach: Was wäre wenn? Was wäre wenn nicht Franklin D. Roosevelt, sondern der von Goebbels hofierte Hitlerfan und Luftfahrtpionier Charles Lindbergh als 32. Präsident der USA ins Weiße Haus eingezogen wäre? In konservativen Kreisen hielten das viele damals für eine gute Idee. Die Weltgeschichte wäre vermutlich in anderen Bahnen verlaufen.
Der europäischen Betrachterin erschien ein solches Szenario in den USA bislang nicht möglich. Roths Geschichtsschreibung war nichts als ein Hirngespinst. Zwar pflegten wir – und unsere 68er Elterngeneration – unseren Anti-Amerikanismus beständig. Doch die wohlfeil vorgebrachte Kritik richtete sich bislang weniger gegen vermeintlich faschistische Strukturen, als gegen die Auswüchse des amerikanischen Finanzkapitalismus, Kommerz und Konsum. Kaum ein anderes Land eignete sich hierfür derart gut als Projektionsfläche unseres eigenen Haderns mit der Moderne. Zumindest in dieser Frage herrschte immer Einigkeit unter den deutschen Rechten und Linken: Auf der einen Seite des großen Teiches die deutsche Kuschelecke mit ihrer romantischen Vorstellung von „Gemeinschaft“, auf der anderen der Wilden Westen, die multiethnische Gesellschaft, in der das bereits gelebt wurde, was uns im von Globalisierung und Migration „gebeutelten“ Europa angeblich noch blüht: kulturelle Beliebigkeit, Gen-Food und die grenzenlose Macht des Marktes. Der „große Satan“ musste bislang für die Erklärung jeden Übels herhalten und so wurde der Antiamerikanismus ein „ideologisches Welterklärungsmuster“ (T. Jaecker). So weit, so unbefriedigend. Aber ist der jüngste Ausdruck transatlantischer Reibungsflächen – Donald Trump – eigentlich wirklich nur ein amerikanisches Phänomen?
Die Zumutungen der Moderne nehmen auf beiden Seiten des Atlantiks zu. Ungleichheit, Verlustängste der Mittelschicht und Terror bestimmen das Leben in der gesamten westlichen Welt. Durch allzeitige mediale Präsenz nehmen weltweite Nachrichten rasend an Geschwindigkeit auf. Sie dringen in uns ein. Gleichzeitig verliert das bislang geltende Fortschrittsnarrativ an Überzeugungs- und Wirkungskraft. Menschen werden gezwungen, mit Ambivalenzen und Widersprüchen zu leben, ob sie wollen oder nicht.
Jeder tanzt auf mehreren Hochzeiten, zwischen Beruf und Familie und den Erfordernissen eines flexiblen Arbeitsmarktes. Geschlechtermuster lösen sich auf und soziale Rollenerwartungen werden komplexer. Machos machen sich unbeliebt, Softies aber werden belächelt. Hausfrau ist kein Beruf mehr, aber Karrierefrauen haben es schwer. „Burnout“ wird zum Synonym für Fleiß. Jede/r ist seines Glückes Schmied, aber gleichzeitig wird das soziale Netz immer unberechenbarer. Unsicherheit ist das bestimmende Gefühl, nicht Freiheit. Alles ist relativ und damit nichts berechenbar. Was Generationen vorher gewiss war, nämlich sich aus eigener Kraft „hocharbeiten“ zu können, ist nicht mehr gültig. Grenzen lösen sich auf – geografisch und gesellschaftlich. Gleichzeitig fühlen wir uns betrogen: Die Segnungen und Heilsversprechen, auf denen unser westliches Weltverständnis aufgebaut ist, werden nicht mehr eingelöst. Das Narrativ von Demokratie und Marktwirtschaft scheint abgenutzt. Religion ist uncool und kein Referenzrahmen mehr für persönliches Handeln. Ideologisch und politisch-programmatisch ist nichts mehr gültig. Willkommen in der Postmoderne! Postmoderne Politik heißt Angela Merkel, heißt Hipster, heißt alles ist möglich, heißt Wegfall der eigenen sozial gewachsenen, ideologischen Verortung, heißt es geht um mich und um sonst nichts. Das Kollektiv hat an mich keine Erwartungen mehr (zu haben).
Auch „Europa“, als Versprechen von mehr Wohlstand für alle, erzeugt nur noch Widersprüche, die in der Alltagsrealität vieler Menschen aus ihrer objektiven Sicht nicht mehr aufgelöst werden. Demokratie und soziale Teilhabe befinden sich seit Jahren nicht mehr auf demselben Nenner. Schlimmer noch: Der öffentliche Raum, in dem wir uns bislang angstfrei bewegten, diffundiert in eine Grauzone aus Angst vor Terror und Gewalt.
Das Land der unbegrenzten Möglichkeiten wurde für viele Amerikanerinnen und Amerikaner zur Armutsfalle. Wer nichts hat, dem gnade Gott.
Diese Entwicklung, die sich nicht erst mit Beginn der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008 durch alle westlichen Länder vollzog, gebar einen europäischen Volksverführer nach dem anderen. Nur ein einziges Land blieb bislang von einem erfolgreichen Rechts- oder Linkspopulisten verschont: die USA.
Was ist also neu am Phänomen Trump? Eigentlich nicht viel. Weshalb sollte die amerikanische Gesellschaft anders auf die Verwerfungen der Globalisierung reagieren als europäische? „Make America great again!“ ist ein genialer Werbeslogan für eine breite Schicht von narzistisch gekränkten Amerikanerinnen und Amerikanern, die die Welt nicht mehr verstehen. Ist einem arbeitslosen amerikanischen Familienvater in Detroit, der ohne die Segnungen eines deutschen oder skandinavischen Wohlfahrtsstaates auskommen muss, eine größere Leidensfähigkeit abzuverlangen, weil er Amerikaner ist? Sind Politikmüdigkeit und Vertrauensverlust in „die da oben“ einer Kriegswitwe in Texas einfach besser zuzumuten? Ist die Mixtur aus wachsender Ungleichheit und absolutem Politikstillstand in den no-go-areas von New Orleans besser zu ertragen als in einem französischen Banlieue? Und war man noch so tief gesunken, war man in der Vergangenheit immer noch Amerikaner, ein Angehöriger der „größten Nation“. Nun half selbst das nicht, als in Zeiten des Klimawandels Katrina und Sandy ganze Landstriche verwüsteten und den amerikanischen Traum buchstäblich verfaulen ließen.
Nachdem die Grand Old Party die Mehrheit im Senat erobert hatte, tat der Kongress nichts mehr. Nur die politischen Gräben wurden tiefer. Demokratie funktioniert jedoch nicht ohne Konsens und in den USA damit seit Jahren gar nicht. Wem nützt die Demokratie, wenn sie mir buchstäblich das Wasser abstellt? Wem nützt eine Demokratie, wenn sie schamlos die Reichen bevorzugt? Das Land der unbegrenzten Möglichkeiten wurde für viele Amerikanerinnen und Amerikaner zur Armutsfalle. Wer nichts hat, dem gnade Gott.
Nicht Donald Trump hat diesen Verrat in den Vorwahlen auf den Punkt gebracht, sondern Bernie Sanders. Er hat im Wahlprogramm Hillary Clintons tiefe Schneisen hinterlassen. Nach der Auseinandersetzung mit ihrem Rivalen musste sich Clinton deutlich weiter links positionieren, als es Viele erwartet hätten. So als habe sie seit ihrer Nominierung gerade noch einen Crash-Kurs in Keynesianischer Wirtschaftstheorie absolviert, erklärte sie, sie wolle in den ersten hundert Tagen ihrer Amtszeit „die größte Investition in neue Arbeitsplätze seit dem Zweiten Weltkrieg“ tätigen und Geld in die marode Verkehrsinfrastruktur stecken.
Doch es ist Donald Trump, der es perfektioniert hat, auf der postmodernen Politikwelle zu reiten. Wie die Postmoderne vollzieht er den Bruch mit allem, was gilt: Moral, gesellschaftliche Werte, Traditionen. Seine Wellen brechen dort, wo Tabus herrschten oder Absolutheiten galten. Nur er wagt sich so weit hinaus, um sich an der Bruchlinie angekommen, aufs Make-America-great-again-Board zu setzen, die nächste Medienwelle abzuwarten und erfolgreich auf ihr zu surfen. Dieses Modell ist in sich geschlossen und logisch, denn wo die Postmoderne die Relativität zum obersten Prinzip erhoben hat, macht sich ihre Beliebigkeit unangreifbar. Sie kennt nichts Absolutes und nichts Totalitäres. Wenn alles möglich und wahr ist, gesellschaftliche Normen oder Moral nichts gelten, dann ist die Lüge ein professioneller Begleiter und dann steht auch Gewalt (gegen den politischen Mitbewerber) oder Terror (mit Hilfe von Atomwaffen) einem Donald Trump nicht im Weg. Und ist er damit nicht erfolgreich? Ist seine Familie nicht schön, reich und glücklich?
Nicht nur Amerika, auch Europa braucht dringend einen neuen Gesellschaftskitt, eine transatlantische Brücke, die auf Pfeilern gebaut ist, die Freiheit, Sicherheit und Ermöglichung von Teilhabe für jedes Mitglied unserer Gesellschaft bedeuten. Starke öffentliche Institutionen könnten das Gerüst einer solchen Brücke bilden. Gemeinsam müssen Ordnungsrahmen geschaffen werden, auch, aber nicht nur, für die globalen Finanzmärkte oder den Welthandel. Die Verrohungen der Moderne und Post-Moderne können wir nur zusammen aus der Welt schaffen. Verbindlichkeit, Menschlichkeit, Empathie, Pluralität, Normen und Solidarität müssen (wieder) Referenzrahmen werden. Es gibt einen Unterschied zwischen Gut und Böse, zwischen Wahrheit und Lüge, und dies wieder deutlich zu machen, wird das Überlebenselixier unserer Demokratien werden.
Rund 75 Jahre vor Philip Roth, zu Zeiten von Charles Lindbergh, beschrieb schon einmal ein Schriftsteller, der große amerikanische Sozialkritiker und Literaturnobelpreisträger von 1930, Harry Sinclair Lewis, mit seinem Roman „So etwas passiert hier nicht“ eine faschistische Machtübernahme in Washington. Vielleicht ist Donald Trump ja der letzte Warnschuss für uns alle, und zwar auf beiden Seiten des Atlantiks: Es kann doch passieren!
8 Leserbriefe
2.Trump ist der einzige Präsidentsschaftsbewerber, dessen Kampagne von den US-Rüstungskonzernen NICHT mit Millionenbeträgen unterstützt wird. Und warum? Weil er, ebenfalls als Einziger(!), die US-Militärstützpunkte in 150 Länder schließen und die Soldaten heim holen will. Weil er die NATO für ein Angriffsbündnis hält und auflösen will. Weil er statt Konfrontation die Verständigung mit Rußland suchen will.
Das genaue Gegenteil von faschistischer Aussenpolitik also und hochgradig in deutschem Interesse. Trump undifferenziert zu verteufeln zeugt von mangelnder Sachkenntnis oder... Interessengeleitetheit.
Danke nochmals, Edmund GJ.
Europa hat sich gegen das skandinavische Gesellschaftsmodell entschieden und für den Neoliberalismus. (Auch die skandinavischen Länder sind inzwischen nach Rechts geschwenkt). Tony Blair meinte, Bill Clinton nacheifern zu müssen, Schröder war vom Charme und Erfolg Tony Blairs fasziniert, welcher meinte Bush jun. in Nibelungentreue in den Irak-Krieg folgen zu müssen...Die EU ist von einer Politik, die Europa und ihren Bürgern dient, weit entfernt.
Trump mag nicht den Vorzeige "Homo Intellectus" herauskehren und linksliberalen, halluzinierenden Fantasten zuwider sein, aber,
der passt sich den gegenwaertigen, politischen "Protagonisten" des Washingtoner "Establishments" nicht
an, und wird wohl einigen "Filz" ausmisten! Deswegen ist er, teilweise, dort so verhasst!
Wichtig fuer Amerikanische Waehler ist, er unterliegt keinen "Wahl-Lobby-Verpflichtungen" und koennte auf Grund seines Vermoegens
ein sehr bequemes, politikfreihes Leben fuehren! Er tut es nicht, er ist Amerikaner und kein "Faschist". Carpe Diem !
Uebrigens, habe "Die Gnade der spaeten Geburt" !