Elf Jahre nach der US-Invasion 2003 steht der Irak kurz vor dem Kollaps. Der seit 2013 wieder erstarkten Terrororganisation Islamic State of Iraq and al-Sham (ISIS) gelang es in der vergangenen Woche, zentrale Städte des Landes einzunehmen und das irakische Militär zu verdrängen. ISIS hatte bereits Ende 2013 die Kontrolle über die Städte Ramadi und Falludscha in der sunnitischen Provinz Anbar übernommen. Nun überraschte sie durch die Schnelligkeit und Vehemenz, mit der es ihr gelang, Teile des Irak richtiggehend zu überrennen.

Dabei war die Entwicklung des Irak in Richtung failed state schon in den vergangenen Monaten immer deutlicher geworden. Kontrollverlust über Teile des Staatsgebietes, Gewaltausübung durch Milizen, eine steigende Zahl von Binnenflüchtlingen, schwache öffentliche Dienstleistungen, eine hohe Armutsquote trotz Ressourcenreichtums, verbreitete Korruption und Kriminalität – dies sind nur einige Indikatoren, die das akute Staatsversagen illustrieren. Die Konsequenz des fehlenden Vertrauens der Bevölkerung in die Fähigkeiten der Regierung: Fehlende Loyalität. Das zeigte  sich nicht zuletzt in der hohen Zahl an Deserteuren der irakischen Armee in der vergangenen Woche.

 

Malikis vertane Chancen

Für viele Handlungsoptionen ist es bereits zu spät. Premierminister Maliki hat in seinen beiden Amtszeiten nicht nur zahlreiche Fehler begangen, sondern auch deutliche Alarmzeichen überhört. Sein Versprechen, alle Bevölkerungsgruppen gleichermaßen miteinzubeziehen, blieb leere Rhetorik. Statt auf Integration der sunnitischen Minderheit setzte er immer wieder auf systematische Marginalisierung – sowohl politisch als auch wirtschaftlich. Die sich im Laufe des Jahres 2013 zuspitzende Krise in der sunnitischen Provinz Anbar hätte als Warnschuss gewertet werden müssen. Zu einem strategischen Umdenken Malikis führte dies jedoch nicht. Etliche sunnitische Milizen schlossen sich ISIS an, so dass diese ihren Einfluss weiter ausbauen konnte.

Viele Blöcke erklärten, dass sie bereit wären, eine Allianz mit Malikis State of Law Coalition einzugehen, jedoch nur unter der Bedingung, dass Maliki auf eine dritte Amtszeit verzichte.

Die Parlamentswahlen im April 2014 boten Maliki eine weitere Chance, auf eine Strategie der nationalen Einheit zu setzen. Stattdessen ließ er sich als starken Mann feiern. Die Verhandlungen um die Regierungsbildung gestalten sich bislang zäh. Malikis Festhalten am Amt des Premierministers ist hierbei die zentrale Hürde. Viele Blöcke erklärten, dass sie bereit wären, eine Allianz mit Malikis State of Law Coalition einzugehen, jedoch nur unter der Bedingung, dass Maliki auf eine dritte Amtszeit verzichte.

Die Ablehnung Malikis zeigte sich unter anderem darin, dass es ihm in der vergangenen Woche nicht einmal gelang, das Parlament von der Verhängung eines Notstandes zu überzeugen als ISIS-Kolonnen nach Medienberichten kurz vor Bagdad standen. Denn die Sorge der Abgeordneten, Maliki könne jedes zusätzliche Privileg für persönliche Machtambitionen missbrauchen, schien augenscheinlich größer als die Furcht vor ISIS. 

Eine Verschlimmerung der aktuellen Krise kann nur abgewendet werden, wenn sich die politischen Blöcke zügig zu einer tragfähigen Allianz zusammenschließen, um die zentralen Regierungsämter zu besetzen und die Handlungsfähigkeit des Parlaments zu gewährleisten. Grundsätzlicher jedoch erfordert die gegenwärtige Situation eine Kombination aus militärischer Strategie und einem Bekenntnis zur nationalen Einheit, das die verschiedenen Blöcke über ethnische, religiöse und politische Konfliktlinien hinweg zusammenbringt.

Der Wunsch nach einer inklusiven und handlungsfähigen Regierung darf dabei kein bloßes Lippenbekenntnis bleiben. Sektiererische Tendenzen müssen überwunden und alle Teile der Bevölkerung gleichberechtigt in den politischen Entscheidungsprozess mit einbezogen werden. Hierzu zählt auch ein tragfähiges Bündnis zwischen der Zentralregierung und der Autonomieregierung Kurdistan. Doch lautet die entscheidende Frage: Wie realistisch ist eine Umsetzung all dieser Punkte? So hat sich beispielsweise das Verhältnis zwischen Erbil und Bagdad in der letzten Zeit insbesondere aufgrund der kurdischen Ölexporte dramatisch verschlechtert.

Die Sorge der Abgeordneten, Maliki könne jedes zusätzliche Privileg für persönliche Machtambitionen missbrauchen, ist größer als die Furcht vor ISIS.

Und auch der militärischen Antwort sind enge Grenzen gesetzt: Das irakische Militär ist schwach – eine Folge der kompletten Zerschlagung der Streitkräfte Saddam Husseins durch die amerikanischen Besatzer im Mai 2003. Eine weitere Ursache für die Schwäche des Militärs liegt in der Tatsache, dass auch dort Schiiten bevorteilt wurden und die Motivation somit vor allem bei den sunnitischen Soldaten gering ist. Trotz dieser schwierigen Voraussetzungen wird eine militärische Strategie zur Zurückdrängung von ISIS unverzichtbar sein.

Doch Vorschläge wie die von Tony Blair, John McCain und Hassan Rouhani, den Irak durch militärische Intervention zu unterstützen, dürften kaum zielführend sein. Die durch den Krieg begangenen Fehler lassen sich auch durch ein wiederholtes Eingreifen nicht wiedergutmachen. Der Stachel der amerikanisch-britischen Invasion des Landes sitzt in der Bevölkerung immer noch tief. Der Iran ist bereits heute stark in interne Entscheidungsfindungsprozesse des Irak involviert. Eine militärische Intervention würde diesen Einfluss erheblich zementieren.

Einzelnen Presseberichten zufolge sind bereits 2.000 iranische Voraustruppen im Irak im Einsatz. US-Präsident Obama entsandte 275 Soldaten von Spezialeinheiten nach Bagdad, deren Aufgabe jedoch lediglich der Schutz amerikanischer Staatsangehöriger sowie der Botschaft ist. Zwar sind sich die USA und der Iran über die Notwendigkeit der Unterstützung des Irak einig und sind offenbar auch zu einer Koordinierung ihrer Maßnahmen bereit – eine militärische Zusammenarbeit mit dem Iran schließt das Weiße Haus jedoch weiterhin aus.

 

Wie stark zerfällt Irak?

ISIS dürfte in den kommenden Wochen versuchen, eine stabile Kontrolle über ein gewisses Territorium zu etablieren und von dort aus immer wieder Vorstöße gegen Bagdad und andere Städte unternehmen. Die Einnahme weiterer Stadtverwaltungen wie Tel Afar Anfang der Woche bedeutet für ISIS dabei auch immer Ressourcengewinne. Bagdad jedoch wird für ISIS eine immense Herausforderung darstellen. Im politischen und militärischen Zentrum des Landes, wo die besten und loyalsten Einheiten im Einsatz sind, wird das Militär – quasi wörtlich – nicht so leicht die Flinte ins Korn werfen.

Mittelfristig dürfte es der Regierung und den Sicherheitskräften kaum gelingen, ISIS signifikant zu schwächen und aus der Mehrheit der von ihr besetzten Gebiete zurückzudrängen. Im Irak werden somit drei de facto Hoheitsgebiete existieren, die jeweils von der Regierung, von ISIS und der kurdischen Autonomieregierung kontrolliert werden. Nicht auszuschließen ist auch das Entstehen weiterer kleinerer Machtgebiete, über die Stammesführer oder andere lokale Persönlichkeiten herrschen. Die Grenzen dieser Hoheitsgebiete werden zweifellos umkämpft bleiben.

Der Zerfall des Irak in drei „Staaten“ im klassischen Sinne – einen sunnitischen, einen schiitischen und einen kurdischen – bleibt dabei unwahrscheinlich. Die Bevölkerungsverteilung ist hierfür in vielen Gebieten zu wenig homogen und unter den ethnisch-religiösen Gruppen selbst besteht nicht unbedingt Einigkeit. Ein wesentlicher Faktor liegt auch in der Kontrolle der Ressourcen, insbesondere der Öl- und Gasvorkommen – der wesentlichen Einkommensquelle des Irak. Sie erschweren die Grenzziehung, zumal sich „natürliche“ Grenzen nicht anbieten.

Der Erfolg jeglicher Strategien zur Stabilisierung des Irak wird letzten Endes davon abhängen, ob Maliki zu der Erkenntnis gelangt, dass er als Herrscher ausgedient hat.

Eine Ausnahme stellt dabei die Kurdische Autonomieregion dar. Doch selbst hier gibt es bis heute Streit, ob die sogenannten disputed territories um das unter Saddam Hussein arabisierte Kirkuk der Kurdischen Autonomieregion oder dem Zentralirak zuzurechnen sind. Die kurdischen Streitkräfte nutzten nun die Gunst der Stunde: Unmittelbar nach dem Rückzug der irakischen Armee aus Kirkuk, sicherten die Peshmerga die Stadt und verteidigten sie gegen die Vorstöße von ISIS.

Der Erfolg jeglicher Strategien zur Stabilisierung des Irak wird letzten Endes davon abhängen, ob Maliki zu der Erkenntnis gelangt, dass er als Herrscher ausgedient hat. ISIS verfügt über nur geringen Rückhalt in Teilen der Bevölkerung. Dort wo die Organisation Unterstützung erfährt, gründet sich diese jedoch in der Regel nicht auf den Wunsch nach einem islamischen Staat, sondern auf den gemeinsamen Gegner Maliki. Je früher Maliki das begreift, desto besser für den Irak.