Im Mai 2014 veröffentlichte der Deutsche Ethikrat eine rund 300-seitige Stellungnahme „Biosicherheit – Freiheit und Verantwortung in der Wissenschaft“.  Die Stellungnahme befasste sich mit der Gefahr, dass Terroristen die Ergebnisse biologischer Experimente missbrauchen könnten, um immer gefährlichere Stämme von Krankheitserregern zu züchten. Diese Sorge wird von Menschen auf der ganzen Welt geteilt. Dies nicht zuletzt vor dem Hintergrund aktueller wissenschaftlicher Experimente in den Niederlanden, den Vereinigten Staaten und China in den Jahren 2012 und 2013. Dort schufen Forscher völlig neue Grippestämme, die in der Natur nicht vorkommen. Diese vereinen eine hohe Virulenz mit einer leichten Übertragbarkeit von Mensch zu Mensch.

Breiten sich neuartige, übertragbare Grippestämme großflächig aus, könnten sie ein Viertel der Weltbevölkerung oder mehr infizieren.

Es ist unstrittig, dass die missbräuchliche Verwendung biologischer Forschungsergebnisse verhindert werden muss. Grundsätzlicher ist aber zugleich zu fragen, ob derartige Experimente angesichts des bestehenden Risikos einer versehentlichen Freisetzung nach ethischen Maßstäben überhaupt erlaubt sein sollten. Diese Frage wird in der Stellungnahme des Ethikrates nur kurz gestreift.

 

Furchtbare, statt fruchtbare Ergebnisse

1947 wurde nach den Prozessen gegen die Nazi-Ärzte der so genannte Nürnberger Kodex erstellt. Er gilt als das wichtigste Dokument der medizinischen Forschungsethik. Dem Kodex nach müssen medizinische Versuche an Menschen so gestaltet sein, dass „fruchtbare Ergebnisse für das Wohl der Gesellschaft zu erwarten sind, welche nicht durch andere Forschungsmittel oder Methoden zu erlangen sind“. Außerdem darf eine Gefährdung „niemals über jene Grenzen hinausgehen, die durch die humanitäre Bedeutung des zu lösenden Problems vorgegeben sind“. Ethische Prinzipien sind zeitlos, aber die jeweiligen Grundsätze, nach denen geplante Experimente bewertet werden, müssen ständig weiterentwickelt werden. Nur so können wir mit der Tatsache Schritt halten, dass immer neue Arten von Experimenten möglich werden.

Einige der größten privaten biomedizinischen Forschungsstiftungen der Welt sowie diverse staatliche Geldgeber, darunter China, Hongkong, die Niederlande, Großbritannien, die Europäische Union und die Vereinigten Staaten, haben Experimente mit neuartigen äußerst ansteckenden Grippeviren finanziert. Im Rahmen dieser Studien übertragen Forscher hochpathogene Grippestämme von Vögeln oder von infizierten Menschen auf Frettchen. Dieser Vorgang wird als „Passage“ bezeichnet. Frettchen sind dem Menschen in ihrer Reaktion auf Grippeinfektionen am ähnlichsten. Durch diesen evolutionären Prozess entstehen neuartige Grippeviren, die sich genetisch von den anfänglichen Viren unterscheiden und sich biologisch so verändert haben, dass sie über die Luft übertragen werden können.

Die Versuche werden in sicheren Biocontainment-Laboren durchgeführt und natürlich ergreifen die Wissenschaftler zahlreiche Vorsichtsmaßnahmen, um die Gefahr von Infektionen durch Unfälle zu minimieren. Trotzdem haben sich Labormitarbeiter in den vergangenen zwei Jahrzehnten immer wieder versehentlich infiziert — etwa  am Ebola-Virus und am Marburg-Virus. Und das, obwohl für beide Viren eine noch höhere Sicherheitsstufe gilt als bei Grippeviren. In mindestens drei Fällen infizierten sich Labormitarbeiter mit dem SARS-Virus. 2004 steckten betroffene Labormitarbeiter in Peking sechs weitere Personen an, ehe der Ausbruch eingedämmt werden konnte.

 

Katastrophale Konsequenzen

Die Infizierung auch nur eines einzigen Labormitarbeiters mit einem hochgradig aktiven und ansteckenden Grippestamm aus den Passage-Experimenten könnte zu einer Kette von Krankheitsübertragungen führen, die alle Eindämmungsmaßnahmen zunichtemachen könnten. Ein solches Szenario ist unwahrscheinlich, aber möglich. Wenn es zu einer Infektion mit einem übertragbaren Grippestamm kommt, liegt das Risiko einer weitreichenden Übertragung bei schätzungsweise 5 bis 20 Prozent. Die Konsequenzen eines solchen Ausbruchs wären womöglich katastrophal: Breiten sich neuartige, übertragbare Grippestämme großflächig aus, könnten sie ein Viertel der Weltbevölkerung oder mehr infizieren. Das Risiko ist nicht hypothetisch: Man geht davon aus, dass die H1N1-Grippe, die sich zwischen 1977 und 2009 weltweit ausbreitete, auf einen Laborunfall zurückgeht.

Nach den ethischen Prinzipien des Nürnberger Kodex kann die Gefährdung menschlichen Lebens dann akzeptabel sein, wenn der humanitäre Nutzen groß genug und nicht auf andere Weise zu erzielen ist. Die Befürworter von Laborversuchen mit potenziell pandemischen Erregerstämmen führen im Allgemeinen zwei Vorteile ins Feld: Das Studium des Anpassungsprozesses der Erreger helfe den Gesundheitsbehörden pandemische Bedrohungen zu erkennen, noch ehe sie ausbrechen. Zum anderen könne man mit geringerem Aufwand Impfstoffe produzieren.

 

Wozu das Ganze?

Viele auf die Überwachung von Viren und die Entwicklung von Impfstoffen spezialisierte Fachleute bezweifeln diese Argumente jedoch. So verweisen die Entwickler von Impfstoffen darauf, dass bisher fast alle existierenden Impfstoffe ohne detailliertes Verständnis davon produziert wurden, was genau die Infektion übertragbar macht. Denn die Herausforderung bei der Herstellung von Grippeimpfstoffen liegt nicht darin, die Übertragungswege zu verstehen, sondern darin, eine lang anhaltende, effektive Reaktion des Immunsystems zu stimulieren. Was die Überwachung angeht, finden die bisherigen Anstrengungen, Viren von Vögeln zu sammeln und ihre Eigenschaften zu analysieren, nur in extrem limitierter Form statt. Nur ein geringer Teil der großen Vielfalt an Viren, die unter Wildvögeln und Geflügel zirkulieren, wird überhaupt registriert. Anschließend dauert es Monate oder sogar Jahre, bis die Informationen über die wenigen gesammelten Viren zu anderen Experten gelangen. Die Chancen, einen hochgradig gefährlichen Virus zu finden (wenn wir ihn überhaupt als solchen identifizieren können) und rechtzeitig Maßnahmen zu ergreifen, um das Verbreitungsrisiko zu minimieren, sind selbst im besten Falle gering.

Ein Beispiel: China hat in den vergangenen zwei Jahren hunderte von menschlichen Infektionen mit der H7N9-Grippe festgestellt. So wurde bewiesen, dass Menschen sich mit diesen Viren infizieren und dass diese in wenigen Fällen auch von Mensch zu Mensch übertragen werden können (wenn auch nicht effizient genug, um für eine Epidemie zu sorgen). Trotz dieser und anderer starker Warnsignale im Hinblick auf das pandemische Potenzial der H7N9-Grippe sind nur zaghafte Anstrengungen unternommen worden, um die Ansteckungsgefahr für den Menschen zu kontrollieren. So wurden zum Beispiel chinesische Vogelmärkte wieder eröffnet. Damit wurde die wichtigste Kontrollmaßnahme rückgängig gemacht, die kurzzeitig ergriffen worden war. Und das, obwohl diese H7N9-Erregerstämme einige der Mutationen enthielten, die mit der Übertragbarkeit von Mensch zu Mensch in Verbindung gebracht werden. Die Weltgemeinschaft hat damit gezeigt, dass selbst starke genetische und biologische Gefahrensignale bei menschlichen Infektionen mit der Vogelgrippe kein entschlossenes Handeln auslösen.

Die Weltgemeinschaft hat gezeigt, dass selbst starke genetische und biologische Gefahrensignale bei menschlichen Infektionen mit der Vogelgrippe kein entschlossenes Handeln auslösen.

Was noch wichtiger ist: Jüngste Experimente zeigen, dass Ergebnisse nicht einfach generalisiert werden können. Im vergangenen Jahr kamen Forscher des Massachusetts Institute of Technology zu dem Ergebnis, dass genetische Veränderungen, die einen Virus zwischen Frettchen übertragbar machen, einen vollkommen anderen Effekt haben, wenn sie einem Virus hinzugefügt werden, der sich vom ersten nur leicht unterscheidet. Angesichts zehntausender möglicher genetischer Veränderungen der Grippe (plus fast unendlich vieler Kombinationsmöglichkeiten dieser Veränderungen) ist es in absehbarer Zukunft nicht machbar, die Beziehung zwischen genetischen Mutationen und der Gefahrenstufe eines Grippevirus zuverlässig darzustellen. 

All das zeigt, dass Experimente zur Herstellung potenzieller Krankheitserreger kaum dazu geeignet sind, „fruchtbare Ergebnisse für das Wohl der Gesellschaft“ zu erzielen, „welche nicht durch andere Forschungsmittel oder Methoden zu erlangen sind“. Im Gegenteil: Bereits existierende, sichere Forschungsmittel oder Methoden scheinen die bessere Wahl zu sein, um lebensrettendes Wissen zu produzieren. Dazu gehören die Entwicklung universeller Impfstoffe gegen Grippe, die Verbesserung der Technologie zur schnellen Herstellung von Grippe-Impfstoffen, außerdem genauere Untersuchungen, welche genetischen Bestimmungsfaktoren von existierenden Grippeviren die Übertragbarkeit fördern.

Experimente zur Produktion neuartiger potenziell pandemischer Grippestämme sind langwierig und teuer. Zudem erfordern sie den Einsatz von Labortieren, von denen nur eine geringe Anzahl zur Verfügung steht, weshalb nur wenige Virenstämme getestet werden können. Aus wissenschaftlicher Sicht informativer, aber auch sicherer wäre es, die Finanzmittel von Staaten und privaten Geldgebern in andere, effizientere Forschungsarbeiten umzuleiten.

Die Stellungnahme des Deutschen Ethikrates zur Frage, wie der bewusste Missbrauch neuartiger biologischer Krankheitserreger verhindert werden kann, ist ein wichtiger Anfang. Aber die vor einem halben Jahrhundert in Nürnberg kodifizierten Prinzipien legen den Schluss nahe, dass eine noch tiefergehende ethische Analyse notwendig ist, ob bei Experimenten mit möglichen Krankheitserregern die Vorteile oder aber die Risiken überwiegen. Da der Nutzen dieser Versuche für die öffentliche Gesundheit extrem fragwürdig ist, sollten die Ressourcen für diese teuren und ungemein gefährlichen Experimente für innovativere und effizientere Ansätze eingesetzt werden. Und zwar für solche, die Probleme lösen, ohne die gesamte Menschheit zu gefährden.