Wer morgens durch einen Büroflur geht, dem wird sich allerorts ein ähnliches Bild eröffnen: Zum einen sind da die Mitarbeiter, die eisern entschleunigt und mit Krokodilsgähnen gen Kaffeemaschine pilgern, die Tasse gleich einem Klingelbecher für Schlafspenden in beiden Händen. Zum anderen gibt es die, denen eine Begrüßung erst dann sinnig erscheint, so sie jeden Dezibelgrenzwert sprengt. Ob nun darüber hinweggetäuscht wird oder nicht: Müdigkeit am Arbeitsplatz ist lange kein Zufallsphänomen mehr. Müdigkeit ist neoliberale Begleiterscheinung, ja, Müdigkeit ist neoliberales Kalkül. Und wenn die Gefräßigkeit der Wirtschaft nicht in zeitgemäßen und feststehenden Arbeitszeitregulierungen ihren natürlichen Feind findet, dann krankt die Gesellschaft. Mehr noch, als sie das ohnehin schon tut. Das aber wird auch für die Wirtschaft nicht ohne Folgen bleiben.
Die Zunahme an Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt ist kein Allheilmittel. In dem Moment, in dem die Begrifflichkeiten „Homeoffice“ oder „Überstunden“ entstanden sind, war die durchschnittliche Vierzigstundenwoche passé. Doch selbst wer die vierzig Stunden im Büro minutiös einhält ist nicht davor gefeit, sich auch vor oder nach der Arbeit in einem Modus Operandi zu finden, der einem Erfolgserleben irgendwie zuträglich sein soll. Erfolg ist dabei erst einmal Auslegungssache. Aber ob es nun familiäre Verpflichtungen sind, das wortwörtliche Pochen der Freunde auf den Stammtisch, oder nur das lange missachtete Buch und die eingestaubten Sportschuhe – frei nach dem Werbeslogan einer deutschen Baumarktkette: Es gibt immer was zu tun.
Inmitten dieses paradoxen Dreiecks aus Arbeit, Freizeit und ausreichend Schlaf ist es neoliberale Agenda, sich entscheiden zu müssen.
Inmitten dieses paradoxen Dreiecks aus Arbeit, Freizeit und ausreichend Schlaf ist es neoliberale Agenda, sich entscheiden zu müssen. Gemeint ist damit eine Entscheidung für höchstens zwei der drei Möglichkeiten, oder vielmehr: Gegen eine der drei. Eine echte Drittelung, so wie sie mit dem Achtstundentag einst vorgesehen war, ist unmöglich. Wer die durchschnittlich benötigten acht Stunden schlafen will und gleichzeitig in einem Vollzeitberuf arbeitet, der wird Einschnitte im Privatleben hinnehmen müssen. Genauso lassen sich Hobby, Familie, Freunde und genügend Bettruhe mit einem klassischen nine-to-five-Job kaum vereinen. Immer öfter aber wird diese Entscheidung zugunsten der Arbeit und der bitter als Ausgleich benötigten Freizeit getroffen. Immer häufiger also muss der Schlaf zurückstecken.
Der völlig übernächtigte Komplex der Arbeit bettelt um Korrekturen.
Die Maxime der sozialen Marktwirtschaft, gesellschaftlichen Fortschritt durch wirtschaftliche Leistung zu garantieren, hat sich verselbstständigt. Um die allgegenwärtige Fortschrittserwartung zu befriedigen, muss die oder der Einzelne einem Leistungsdruck genügen, der selbst wiederum an einen stetigen Fortschrittsglauben gekoppelt ist. In dieses Hamsterrad eingelaufen hat sich schließlich das Phänomen der Selbstoptimierung. Man besucht arbeitsexterne Weiterbildungen, liest Fachliteratur oder stellt die Ernährung um, kleidet sich neu ein und hat selbstredend die Dokumentation XY gesehen. Diese heute überall gelebte Art der Selbstoptimierung ist letztlich nichts weiter als der ewige Versuch, den Ansprüchen des Marktes bestmöglich zu genügen. Denn würde tatsächliche Selbstoptimierung, also der Weg hin zur individuellen Vollkommenheit, nicht auch bedeuten, dass so wichtige und die körperliche wie mentale Gesundheit betreffende Komponenten wie der Schlaf die nötige Aufmerksamkeit erhalten? Wo freizeitlicher Konsum und Selbstoptimierung oft für die Instrumente der Politik nicht direkt greifbar sind, da bettelt der völlig übernächtigte Komplex der Arbeit förmlich um Korrekturen.
Es ist nur figurativ für das Ankurbeln des Wirtschaftsliberalismus, dass in Großbritannien ausgerechnet vom „Thatcher-Gene“ gesprochen wird, um Kurzschläfer für ihren Eifer zu rühmen. Sprüche wie „sleep is for the weak“, oder „schlafen kann ich, wenn ich tot bin“ werden auch heute als unterbewusste Mantras all der uns bekannten Erfolgskoryphäen tradiert. Unternehmer wie Tesla-Chef Elon Musk, Politiker wie Trump und Merkel, aber auch Figuren aus der Unterhaltungsbranche wie der Schauspieler Dwayne „The Rock“ Johnson sind aktuelle prominente Kurzschlaf-Exempel.
Spannend zu beobachten ist allerdings, wie sich diejenigen, die sich der Hingabe an die Horizontale beflissen verwehren, nunmehr teilweise damit profilieren: Für den aktuellen Präsidenten der USA, ohnehin nicht allzu sparsam mit Verweisen auf seine „enormen Erfolge“, ist der Dreistundenschlaf Grundlage seiner Leistungen. Und eben genannter Dwayne Johnson, dessen Jüngerschaft allein auf den sozialen Medien sicher die Hälfte der US-Bevölkerungsgröße umspannt, propagiert seine Matratzen-Abstinenz geradezu als Lebensphilosophie. Und damit sind beide nicht allein. Längst schon gehört es zum guten Ton, sich auch in den mittelständischen Büros zumindest einmal täglich im Beisein anderer für seinen Eifer und den dadurch zu kurz gekommenen Schlaf zu brüsten. Die ganz entkoppelte Marktwirtschaft hat es verstanden, ihre Opfer für sich Werbung laufen zu lassen.
Dieses Mantra zu befeuern wird aber nicht ewig funktionieren. Oder besser: Dieses Mantra zu befeuern, funktioniert schon jetzt nicht mehr. Es genügt, sich die Zunahme der Arbeitsunfähigkeitsrate aufgrund psychischer Erkrankungen anzusehen – nicht, dass Stress und Schlafmangel nicht auch Gründe für ernsthafte körperliche Schäden wären.
Eine Regulierung des Arbeitsmarktes, und da speziell der Arbeitszeiten, wäre ein erster Schritt in die richtige Richtung. In Richtung der längst überfälligen Dreißigstundenwoche zum Beispiel. Arbeitnehmer sind sich über kürzere Arbeitszeiten längst einig. Eine Erhebung der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin hat das gerade erst noch einmal klargestellt. Dass die Befindlichkeiten von Arbeitnehmern über die letzten Jahrzehnte aber herzlich wenig zur Geltung kommen, scheint ohnehin klar.
Zusätzlich jedoch untermauert die Wissenschaft, stetig und mit (momentan noch) bewundernswerter Ausdauer, dass eine kürzere Jobwoche nicht einfach bloß gesünder ist, sondern darüber hinaus auch effizienter. Und nach allem was man über die Mechanismen der freien Wirtschaft verstanden hat, sollte die Betonung gesteigerter Effizienz doch ein wirkmächtiges Argument sein, oder? Auch der Wissenschaftler David Graeber hat in seinem diesen Sommer erschienenen Buch „Bullshit Jobs“ offengelegt, wie viele Arbeitnehmer ihre Aufgaben für gänzlich sinnbefreit halten. Wie effizient kann jemand schon sein, der nicht an den Sinn seines Tuns glaubt und dazu noch völlig übermüdet oder krank ist?
Politische Begradigungen sind möglich und argumentativ gegenüber wirtschaftlichen Interessen vertretbar.
Politische Begradigungen des Arbeitsgeschehens sind also möglich, und das ohne allzu drastische Umstürze der Verfahrensweisen und sogar argumentativ gegenüber wirtschaftlichen Interessen vertretbar.
Frei nach dem Prinzip des Selbstschutzes muss die gänzlich liberale Wirtschaft zumindest teilweise eingehegt werden. Die Mechanismen der Mehrarbeit, die ja in der konsumgetränkten Freizeit durch die Leitschnur der Selbstoptimierung ohnehin ihre Ergänzung finden, müssen auch im Interesse der neoliberalen Agenda begrenzt werden.
Es fühlt sich unmenschlich an, Regulierungen gleichermaßen mit dem Argument der Gesundheit, wie mit den Interessen des Marktes zu beteuern. Es ist wohl einem stirnrunzelnden Pragmatismus geschuldet, die Macht der Interessen des Marktes anzunehmen. Wenn daher die Bedürfnisse beider, die der Menschen und die der Wirtschaft, auf dem Weg in eine richtigere Zukunft zumindest am Anfang zusammenfallen, dann geht man diesen Wegabschnitt eben gemeinsam. Hauptsache, man geht ihn!