Bodenschätze, Wasserstraßen, fruchtbares Land und Millionen preisbewusster Konsumenten – in Chinas geostrategischem Poker spielt Lateinamerika längst eine Schlüsselrolle. Der Aufstieg Chinas geht einher mit dem schwindenden Einfluss Europas und der USA. Die chinesische Expansionspolitik begann zur Jahrtausendwende recht diskret: Botschaften wurden aufgestockt, Emissäre ausgeschickt. Letztere schossen in den lateinamerikanischen Supermärkten eifrig Fotos und notierten sich Preise. Plötzlich tauchten auf den Pressekonferenzen Kollegen der amtlichen Nachrichtenagentur Xinhua auf. Es folgten hochrangige Besuche und Handelsabkommen. Billiges Spielzeug, Textilien Schreibwaren und Elektronikgeräte überschwemmten kurz darauf die Märkte – zeitgleich mit dem Aufstieg der neuen lateinamerikanischen Mittelschicht, der es vor allem auf Konsum, weniger auf Qualität ankam.
China bindet Lateinamerika an sich
15 Jahre später ist China der wichtigste Handelspartner Brasiliens und der zweitwichtigste Argentiniens und Kubas. Länder wie Ecuador, Argentinien und Venezuela hängen am Finanztropf Pekings. Venezuela schuldet China 43 Milliarden US-Dollar und hat die Erdöleinnahmen der nächsten Jahre verpfändet. In Argentinien, dem enfant terrible der Finanzwelt, zückte Präsident Xi Jingping kürzlich das Scheckbuch und gewährte Kredite über insgesamt sieben Milliarden US-Dollar für diverse Projekte wie z. B. Staudämme. Chinesische Firmen haben zusammen mit Bolivien einen Satelliten gebaut, sind beteiligt an Lithiumfabriken in Bolivien und an Kupferminen, Gas- und Erdölfeldern in Ecuador und Peru. Ecuador hat im Gegenzug für Kredite 90 Prozent seiner Erdölproduktion verpfändet. Einen Teil davon verkauft Petrochina auf dem Weltmarkt weiter.
„Wohin man auch schaut, ist China der Gewinner“, schreibt der China-Experte Oscar Carreño in der argentinischen Zeitung Alfil. Chinas Investitionen in Südamerika gehorchen jedoch nicht prioritär kapitalistischem Rentabilitätskalkül, sondern militärstrategischem Denken. Peking hat nach Angaben des Energieexperten Víctor Flores vom Internetportal petroleumworld in den vergangenen Jahren über seine staatlichen Erdölfirmen und die Export-Import- sowie die Entwicklungsbank mehr als 100 Milliarden US-Dollar an Krediten gewährt, die Hälfte davon in Lateinamerika. Im Mittelpunkt stehen dabei Projekte der Rohstoff- und Ernährungssicherheit: zwei endliche Ressourcen, um die nach Auffassung vieler Geostrategen in der Zukunft Krisen und Konflikte entstehen werden.
Geostrategischer Poker in der Karibik
Doch was will China in Mittelamerika und der Karibik – dem Armenhaus der Region? Statt bedeutsamer Rohstoffe gibt es hier augenscheinlich nur politische Instabilität, Kriminalität und wirtschaftliche Fehlentwicklungen. Ein Blick auf die Landkarte und in die Geschichtsbücher hilft weiter: Auch der Aufstieg der USA zur Weltmacht im 20. Jahrhundert war Folge langfristiger Entscheidungen, die nicht immer wirtschaftlich rentabel waren. Eine Schlüsselrolle spielte dabei der Panamakanal. Nachdem die Franzosen mit dem Bau gescheitert waren, hatte US-Präsident Theodore Roosevelt den Bau der strategisch wichtigen Wasserstraße übernommen. Er wurde um ein Vielfaches teurer als geplant – doch er sicherte den USA die Kontrolle über die Karibik und einen Teil des Welthandels. Er verkürzte die Handelsroute zwischen dem Orient und dem Okzident um zwei Wochen und war damit wirtschaftlich enorm wichtig. Doch hauptsächlich war der Kanal ein militärisch-strategisches Projekt, entworfen und kontrolliert von Offizieren des Pentagon. „Wer das Meer kontrolliert, kontrolliert den Handel, und wer den Handel kontrolliert, beherrscht die Welt.“ Das war das Credo des 1890 von Kapitän Alfred Thayer Mahan veröffentlichten Essays The influence of sea power, der die US-Militärdoktrin entscheidend beeinflusste.
„Wer das Meer kontrolliert, kontrolliert den Handel, und wer den Handel kontrolliert, beherrscht die Welt.“
100 Jahre nach der Eröffnung des Panamakanals wiederholt sich die Geschichte unter neuen Vorzeichen: In Nicaragua soll Ende des Jahres unter chinesischer Führung der Bau eines Konkurrenz-Kanals beginnen. Aus strategischer Sicht sprechen drei Gründe dafür. Erstens: Die Chinesen hätten durch den Kanalbau die uneingeschränkte Kontrolle über eine Wasserstraße, durch die ein wichtiger Teil ihres Außenhandels verkehrt. Der Panamakanal dagegen steht unter einem internationalen Statut und einem Interventionsvorbehalt der USA. Zweitens: Der Panamakanal ist teuer. Bis zu 300.000 US-Dollar kostet derzeit die Durchfahrt; nach Fertigstellung der Erweiterung sogar noch mehr. Drittens: Geopolitisch fügt sich der Kanal nahtlos ein in den Ausbau der Karibik zum chinesischen Logistik-Hub. In Mexiko planen chinesische Investoren in der Nähe von Cancún einen Dragon Mart. Dieser wäre das zweitgrößte Logistikzentrum weltweit nach dem Dragon Mart von Dubai. Hinzu kommen ein weiteres Logistikzentrum in Jamaika und chinesische Anteile an der Freihandelszone und den Häfen von Colón und Balboa in Panama.
Nicaraguas Präsident Daniel Ortega seinerseits hofft, durch den Nicaragua-Kanal die Macht seines Clans zu zementieren und einem der ärmsten Länder der Hemisphäre einen Entwicklungsschub zu verpassen. Verbindungsmann zu den chinesischen Investoren ist sein Sohn. Aus Investorensicht hat Ortega einen weiteren Vorteil: Er regiert autoritär genug, um ein derartiges Megaprojekt zügig voranzubringen. Weder gab es eine unabhängige Umweltverträglichkeitsstudie, noch wurden die indigene Bevölkerung und schwarze Minderheiten zum Kanalbau befragt. Die 32 vorliegenden Verfassungsbeschwerden gegen das Vorhaben wurden allesamt in Rekordzeit vom regierungstreuen Obersten Gericht abgewiesen. Dieser Tage schwärmten bereits die ersten Emissäre aus, um die geplante 278 Kilometer lange Strecke zu vermessen und die Umsiedelung der Anrainer vorzubereiten. Ende des Jahres soll mit dem 40-Milliarden-Bau begonnen werden. Eile ist geboten, denn Ortegas Gesundheitszustand gilt als fragil. Deshalb spielt es nicht einmal eine Rolle, dass Nicaragua offiziell keine diplomatischen Beziehungen zu Peking, sondern zu Taiwan unterhält.
Es gibt noch weitere Fragezeichen hinter dem Projekt. Initiator ist der Telekom-Boss Wang Jing. Er hat keinerlei Erfahrung in der Bauwirtschaft, geschweige denn mit derartigen Mammutprojekten. Über die Teilhaber seiner in Rekordzeit aus dem Boden gestampften HKND Holding mit Sitz auf den Cayman-Inseln schweigt er sich aus. Details der Machbarkeitsstudie, die angeblich McKinsey anfertigt hat, sind bislang nicht bekannt. Der Kanal verkürzt zwar die Route von Asien an die Ostküste der USA um noch einmal rund 500 Kilometer; gegen die Rentabilität des im Ausbau befindlichen Panamakanals wird der dreimal längere Nicaraguakanal aber nur schwer konkurrieren können. Er hätte allerdings einen erheblichen Vorteil: Die modernen Gas-Supertanker, für die selbst der ausgebaute Panamakanal zu eng ist, könnten ihn durchqueren.
Zusammen machen die Ökonomien Chinas und der USA 33 Prozent des weltweiten Wirtschaftsaufkommens aus; der Handel zwischen beiden ist einer der Motoren der Weltwirtschaft. Der neue Kanal brächte auch der US-Wirtschaft Vorteile. Das mag einer der Gründe dafür sein, dass aus Washington bisher keine Kritik an dem Vorhaben kommt. Unter der Hand verbreiten US-Funktionäre jedoch, dass sie nicht an die Realisierung des Projekts glauben. Ganz im Gegensatz zu Russland und der Handelsfirma Maersk, die sich daran beteiligen wollen.
Kurzfristig vorteilhaft, langfristig „heftig“
Welche Vorteile bringt die Partnerschaft mit China den Lateinamerikanern? Da ist zum einen die Diversifizierung der Außenhandelspartner und der direkte Kapitalfluss. Dafür sind linkspopulistisch regierte Regierungen wie Ecuador, Venezuela und Argentinien dankbar, die in den vergangenen Jahren über ihre Verhältnisse gelebt haben und zur Finanzierung ihrer Ausgaben entweder keinen oder nur einen sehr teuren Zugang zu internationalen Finanzmärkten haben. Darüber hinaus stellt Peking im Gegensatz zu Geldgebern wie der Weltbank keinerlei Anforderungen was Transparenz, Partizipation oder effiziente Mittelverwaltung betrifft. Die chinesischen Gelder fließen meist in Mega-Infrastrukturprojekte, die bei westlichen Geldgebern wegen des großen Widerstands und fragwürdiger Rentabilität in Misskredit geraten sind. Was mit chinesischen Geldern passiert, ist keinerlei Kontrolle unterworfen, weder kritischer Presse im Heimatland, noch kritischen Aktionären. Von den 38 Abkommen, die Venezuela unlängst im Bereich von Transport, Technologie, Landwirtschaft, Telekom, Industrie und Immobilien unterzeichnete, wurden 21 für geheim erklärt und damit der Rechenschaftspflicht entzogen. „Der Spielraum der einheimischen Privatwirtschaft wird so reduziert“, wie Boris Ackermann von der venezolanischen Fachpublikation Veneconomia anmerkt. Dies ist für die Regierungen durchaus ein positiver Nebeneffekt, stehen sie der Privatwirtschaft doch eher feindselig gegenüber. Ein weiterer Punkt: „Die Projekte kommen oft schlüsselfertig mit chinesischen Zulieferern und chinesischem Personal, so dass nicht einmal indirekt die heimische Wirtschaft davon einen Vorteil hat.“ Für die linken Regierungen bringt die Partnerschaft einen weiteren politischen Vorteil: Während sich die Europäer bei internationalen Streitfragen im Zweifelsfall meist auf die Seite Washingtons schlagen, unterstützt Peking in internationalen Organisationen Positionen der Schwellenländer. So stimmte China beispielsweise in der UNO für die „Entkolonisierung der Falklandinseln“.
Die chinesischen Gelder fließen meist in Mega-Infrastrukturprojekte, die bei westlichen Geldgebern wegen des großen Widerstands und fragwürdiger Rentabilität in Misskredit geraten sind.
Negativ zu Buche schlägt hingegen, dass das Handelsmuster dem mit Europa oder den USA gleicht: Exportiert werden Rohstoffe, importiert werden verarbeitete Produkte, Konsum- oder Investitionsgüter. Die Handelsbilanz der meisten Länder mit China ist daher im Minus oder dürfte angesichts des Verfalls der Rohstoffpreise in die rote Zone rutschen. „Trotzdem gelten die chinesischen Investitionen nicht als imperialistisch“, hat der argentinische Energiefachmann Viktor Bronstein erstaunt festgestellt und führt dies darauf zurück, dass viele linke Intellektuelle pro-chinesische Scheuklappen tragen.
Auch die Bevölkerung hat von den Investitionen aus Fernost nur einen fragwürdigen Nutzen. Minen wie Morococha in Peru oder Sierra Grande in Argentinien sind immer wieder in den Schlagzeilen: Zwangsumsiedelungen, Verstöße gegen Umweltauflagen oder Menschenrechtsverletzungen sind zu beobachten. Darüber hinaus setzen sich chinesische Arbeitgeber über Tarifverträge hinweg, zahlen Hungerlöhne oder beuten Sklavenarbeiter aus. Als sozialistisches Paradies ist die Süd-Süd-Kooperation beileibe nicht zu bezeichnen. Und im Falle von neuen Zollrestriktionen droht China schon einmal damit, kein argentinisches Soja mehr abzunehmen. Uruguays Präsident Pepe Mujica sieht den Aufstieg Chinas in der Region daher mit gemischten Gefühlen. Als der Präsident der Interamerikanischen Entwicklungsbank, Luís Alberto Moreno, den ehemaligen Guerillero einmal auf die Chinesen ansprach, entgegnete Mujica in seiner lapidaren Art: „Die sind heftig. In 15 Jahren werden wir die Amis vermissen.“
3 Leserbriefe
* das bestehende exportorientierte Wirtschaftsmodell ist durch stagnierend Nachfrage, steigenden Löhnen und Robotisierung (nearshoring). Inzwischen ist Mexiko kostengünstiger.
* Der Bauboom und die Kreditausweitung lassen alle Alarmglocken klingen
* Die Expansion nach Afrika war oft ineffektiv.
* Das politische System ist nicht krisenerprobt und hat keine Erfahrungen beim Ausgleich divergierender Interessen. Die maoistischen Erfahrungen sind Teil des institutionellen Gedächtnis.
Vorhersagen sind schwierig, besonders im Bezug auf die Zukunft. Die Zurückhaltung der USA gibt Rätsel auf. Es ist nicht ausgeschlossen, dass sich China hier übernimmt und sich die ganze Unternehmung als ein volkswirtschaftliche Fehlinvestition erweist.