Es gibt Politikerinnen und Politiker, die nach Lösungen suchen, und solche, die tun das nicht. Wer die Debatten im Deutschen Bundestag nach der Bundestagswahl 2017 verfolgt, wird das erkennen: Viel stärker als die Achse von Links und Rechts scheidet sich das Parlament zwischen Konstruktiven und Destruktiven. Man mag inhaltlich weit auseinander liegen mit seiner Berichterstatterkollegin von der Union. Ich gestehe ihr zu, dass sie nach Lösungen sucht. Anderen Lösungen, als meine eigenen, aber immerhin Lösungen. Dagegen ähnelt die AfD dem Suppenkaspar, dem es so gut geht, dass er plötzlich gar nichts mehr essen will, alles verweigert und nur noch Nein sagt. 

Europa leidet unter einem Seehofer-Syndrom.

Zur Wahrheit gehört, dass es sich die destruktiven Kräfte in Europa so einfach machen können, weil die konstruktiven Kräfte weit hinter dem zurückbleiben, was eigentlich erreichbar wäre. Die destruktiven Kräfte werden genährt von Politikerinnen und Politikern, die von Gipfel zu Gipfel reisen und dort über gegenseitige Beschimpfungen und Eingeständnisse des Scheiterns nicht hinauskommen.

Europa leidet unter einem Seehofer-Syndrom. Es leidet unter Politikern, die sich der Illusion hingeben, es reichte aus, daheim gut dazustehen, anstatt das Ganze zu sehen und danach zu handeln. Die sich selbst und die Menschen auf ideologische Bäume jagen, auf denen sie dann sitzen und schreien und von denen sie nicht mehr herunterkommen. So wie in Deutschland eine vernünftige und humane Politik zur Steuerung und Ordnung von Migration und Flucht scheitert an den Debatten über Obergrenzen oder dem Familiennachzug für die sogenannten subsidiär Geschützten, so scheitert Europa von Gipfel zu Gipfel an der Debatte über eine solidarische Verteilung von Geflüchteten.

So steht am Ende niemand gut da. Deswegen: Runter von den ideologischen Bäumen und zurück zur Sache, Kolleginnen und Kollegen in Europa! Die Menschen haben Lösungen verdient, sonst braucht sich niemand über anwachsenden Populismus zu beklagen. Der Sinn Europas liegt darin, dass Europa liefert. Zu jeder Zeit das, was einzelne Staaten alleine nicht gewährleisten können: Frieden, Wohlstand, oder eben heute die Bekämpfung von Klimawandel oder die Steuerung und Ordnung von Flucht und Migration.

Kurz vor Weihnachten meldete sich der neue österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz zu Wort. Er hält die Verteilung von Migranten in der EU nach festen Quoten für einen Irrweg: "Staaten zur Aufnahme von Flüchtlingen zu zwingen, bringt Europa nicht weiter", sagte er der Bild am Sonntag. "Wenn wir diesen Weg fortsetzen, spalten wir die Europäische Union nur noch weiter. Die Mitgliedsstaaten sollten selbst entscheiden, ob und wie viele Menschen sie aufnehmen.“

Wer nicht zusammenarbeiten will, kann die Gemeinschaft gerne verlassen und wiederkommen, wenn er merkt, dass das keine gute Idee war.

Ist das eine realistische Perspektive? Die Europäische Union ist eine Wertegemeinschaft. Die gemeinsamen Werte und Ziele sind vertraglich festgeschrieben. Sie stehen in der Präambel sowie in den Artikeln 2 und 3 des Vertrages über die Europäische Union. Zu nennen sind hier insbesondere die Achtung der Menschenwürde und die Wahrung der Menschenrechte; die Solidarität zwischen den Völkern; die Förderung von Frieden, Sicherheit, Fortschritt und globaler nachhaltiger Entwicklung in Europa und in der Welt. In Artikel 78 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union haben sich darüber hinaus alle Mitgliedstaaten verpflichtet, eine gemeinsame Asylpolitik zu entwickeln, die den Grundsatz der Nicht-Zurückweisung gewährleistet und im Einklang mit der Genfer Flüchtlingskonvention sowie dem Protokoll über die Rechtsstellung der Flüchtlinge steht.

Das ist auch sinnvoll. Eine gemeinsame Asylpolitik ist nötig, weil die dahinter liegenden Herausforderungen ohnehin nicht von Einzelstaaten alleine gelöst werden können. Einheitliche Verfahren und Bedingungen für Anerkennung, Aufnahme und Rückführung sind eine wichtige Voraussetzung für eine bessere Steuerung der Fluchtbewegungen. Vor allem aber geht es um wirksamen Schutz von Schutzbedürftigen und damit eine angemessene, unseren Werten entsprechende Haltung unseres Kontinents: Leben zu schützen ist unsere erste Pflicht. Die Achtung vor der Würde jedes einzelnen Menschen ist das Fundament Europas.

Jede Reform und Weiterentwicklung der gemeinsamen Asylpolitik muss daher im Einklang mit unseren Werten stehen und bestehende internationale Flüchtlings- sowie Menschenrechtskonventionen achten. Dazu gehören auch die UN-Kinderrechtskonvention und die Gewährleistung der Familienzusammenführung. Die Nationalstaaten Europas können es sich nicht aussuchen, „ob“ sie in der Flüchtlingspolitik zusammenarbeiten. Wer nicht zusammenarbeiten will, kann die Gemeinschaft gerne verlassen und wiederkommen, wenn er merkt, dass das keine gute Idee war. Aber bei der Frage, „wie“ diese Zusammenarbeit aussehen kann, ist deutlich mehr Phantasie und auch Empathie gefragt, als bislang an den Tag gelegt wurde.

Ich kenne keine Organisation, kein Unternehmen, in dem alle erfolgreich das Gleiche machen, unabhängig von Kompetenzen, Ressourcen, Überzeugungen. In einer Schule unterrichtet der Biologielehrer Biologie und die Lateinlehrerin Latein. Beide nach ihren Kräften und für ein gemeinsames Ziel, nämlich eine solide Bildung der Schützlinge und ihre Vorbereitung auf ein eigenständiges Leben außerhalb der Schule. In der EU soll der Biologielehrer – um im Bild zu bleiben – auch Latein unterrichten, unabhängig davon, ob er das kann oder will. Begründet wird dies mit dem Grundsatz der Solidarität, als ob der Biologielehrer sich solidarisch verhalten würde, wenn er über einen Vertretungsunterricht hinaus der Lateinlehrerin zur Seite springt – und selbst dann würde er die Stunde besser für Biologie verwenden.

Solidarität entspringt im Optimalfall einem tiefen Gefühl innerer Verbundenheit, wie wir es aus Familien kennen: In Familien hilft man nach Möglichkeit zusammen, auch hier aber nicht alle auf gleiche Weise. Es gibt sie, eine so verstandene europäische Solidarität, wahrscheinlich vor allem dann, wenn es um eine Bedrohung von außen geht. An Verbundenheit kann man auch arbeiten, so wie es Millionen Menschen in grenzüberschreitenden Projekten oder Städtepartnerschaften tun. Eine Verbundenheit, soweit sie heute beispielsweise zwischen den Völkern Deutschlands und Frankreichs besteht, fällt jedenfalls nicht vom Himmel. Sie wurde nach heftigsten Auseinandersetzungen Stück um Stück erarbeitet. Eine zweite Triebfeder der Solidarität ist das Aufeinanderangewiesensein: Alle zahlen in die Sozialversicherungen ein, weil nur so die Absicherung aller gewährleistet ist und alle wissen, dass auch sie in eine Situation kommen könnten, in der bei aller Eigenverantwortung plötzlich Solidarität benötigt wird.

Es sollte geprüft werden, ob eine Aufgabenteilung zwischen den Mitgliedstaaten möglich ist. Beispielsweise könnte ein wirksamer Schutz der Außengrenze bei gleichzeitiger Verwirklichung des Rechts auf internationalen Schutz mit einer Entlastung bei der Umsiedlung von Schutzsuchenden einhergehen.

Wir sind in Europa unzweifelhaft aufeinander angewiesen. Das spüren und glauben wir zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedlich stark. Vielleicht hilft es, sich von Zeit zu Zeit 1,3 Milliarden Chinesen vorzustellen, und wie es sich demgegenüber als Liechtensteiner, Österreicher oder Niederländer anfühlt. Ich denke, wir könnten die Blockade in Europa versuchen aufzulösen, indem wir die Migrationsagenda und auch andere Themen als Paket sehen, zu dessen Umsetzung alle nach ihren Kräften und Vorstellungen beitragen. Das Leben ist kein Wunschkonzert, aber die Voraussetzungen sind eben auch nicht überall gleich. Die einen könnten also beispielsweise mehr Migranten aufnehmen, die andern tun dafür mehr für den Schutz der Außengrenzen.

Wenn ein Land wenig Erfahrung mit Zuwanderung hat, sollte man es nicht gleichbehandeln mit Ländern, die sich über Jahrzehnte an Veränderung gewöhnt haben. Das gilt, nebenbei, auch für Deutschland und die starre Anwendung des Königsteiner Schlüssels, anhand dessen die Verteilung der Geflüchteten organisiert wurde. Als mein Vater um das Jahr 1960 aus Italien nach Deutschland kam, wartete dort auch niemand auf ihn – außer seiner Frau. Hilfestellungen gab es keine, Vorurteile dagegen zuhauf. Heute gehören Italiener zu Deutschland. Immerhin können ihre Söhne sogar Bundestagsabgeordnete werden. Integration braucht Zeit. Integrationsbereitschaft muss wachsen können. Wir brauchen alle miteinander deutlicher mehr Empathie, auch denjenigen gegenüber, die den Zuwandernden und Heimatvertriebenen skeptisch bis ablehnend gegenüber stehen.

Partizipation hat dabei noch immer zu stärkerer Identifikation und Bereitschaft zur aktiven Mitgestaltung beigetragen als übergestülpte Vorgaben. Das ist auch der Kern der Idee, für die Gesine Schwan wirbt, wenn sie die Aufnahme der Geflüchteten in Europa über die Kommunen organisieren will. Denken wir auch diesen Vorschlag einmal durch für die Diskussion um Familienzusammenführungen. Wieso versammeln wir nicht unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger, zusammen mit den zurückgebliebenen Kindern oder Elternteilen, in Stadthallen und Bürgerhäusern und fragen sie, ob und wieviel Hilfsbereitschaft sie sich zutrauen? Ich bin sicher: vielerorts würden sie sich eine Menge Hilfsbereitschaft zutrauen – sie zeigen sie ja bis heute. Gleichzeitig hätten sie aber auch ein paar Fragen: Wo sollen die eigentlich alle unterkommen? Ist Platz in unseren Kindergärten, die ganze Zeit hieß es doch, die Kinder werden immer weniger? Wo sind eigentlich die Alten, Kranken, Behinderten? Warum helfen wir denen nicht zuerst und schauen zu, wie sie im Krieg zurückbleiben? Kluge Fragen, auf die die klugen Antworten noch ausstehen.

Es sollte geprüft werden, ob eine Aufgabenteilung zwischen den Mitgliedstaaten möglich ist. Beispielsweise könnte ein wirksamer Schutz der Außengrenze bei gleichzeitiger Verwirklichung des Rechts auf internationalen Schutz mit einer Entlastung bei der Umsiedlung von Schutzsuchenden einhergehen. Die Finanzplanung der EU wäre entsprechend anzupassen. Eine Arbeitsteilung könnte helfen, die Blockade der EU gegenüber einem gemeinsamen europäischen Asylsystem aufzulösen und Kompromisse zwischen den Mitgliedstaaten zu ermöglichen. Mehr noch: Warum einigen wir uns nicht in Europa auf ehrgeizige, attraktive Projekte und laden Nationalstaaten mit ihren Gliederungsebenen, Zivilgesellschaft, Wirtschaft und Wissenschaft, sogar externe Partner mit ein, Beiträge zu liefern, diese Projekte zu verwirklichen? Der Kommission käme hier die Rolle der Koordination und Überwachung einer unter dem Strich gerechten Arbeitsteilung und Finanzierung zu. Und Europa würde endlich wieder liefern.