In seinem vor kurzem hier erschienen <link kommentar artikel ein-lied-von-schmelzendem-eis-und-feuer-1527>Beitrag argumentiert Wulf Lapins, Russland würde seinen Anspruch auf arktische Ressourcen zum Nachteil anderer Staaten wie den USA oder China mit militärischer Präsenz bekräftigen und damit einen vermeintlichen Ressourcenwettlauf in der Arktis-Region zu seinen Gunsten entscheiden. Allein, die Analogie zwischen der Arktis und George R. R. Martins Werk „Das Lied von Eis und Feuer“ und der darauf aufbauenden Serien-Adaption „Game of Thrones“, in der es augenscheinlich nur einen Gewinner und viele Verlierer geben kann, hinkt gewaltig. Der seit Langem prophezeite Wettlauf um arktische Ressourcen, territoriale Expansion und eine regionale Hegemonialstellung bleibt aus, und die Militarisierung entlang der russischen Polarmeerküste fehlinterpretiert.

Die gern zitierte Studie des United States Geological Survey (USGS), auf die sich auch Lapins bezieht und derzufolge von den weltweit noch unentdeckten Rohstoffvorkommen die Arktis 30 Prozent der Gas- sowie 13 Prozent der Ölvorkommen beherbergen soll, entstand bereits im Jahre 2008. Keineswegs sind dies gesicherte Fakten, sondern probabilistische, also die Wahrscheinlichkeit berücksichtigende, Hochrechnungen auf Grundlage bis dahin gesammelter geologischer Daten, ohne dass sich in den vergangenen acht Jahren neue stichhaltige Erkenntnisse ergeben hätten. Auch von einem Ressourcenwettlauf ist seither nichts zu spüren.

Geschätzt wird in der Studie, dass 84 Prozent der erwartbaren arktischen Ressourcen offshore liegen – und davon wiederum gut 90 Prozent im Kontinentalschelf der durch das UN-Seerechtsübereinkommen geschützten nationalen Hoheitsgewässer. Diese Ressourcen sind von allen Parteien unbestritten; weder gibt es um sie einen Wettlauf, noch muss sich ein Anrainerstaat beeilen, sie sich unter Zuhilfenahme des Militärs zu sichern. Auch Russland folgt seit jeher internationalen Spielregeln. So war seit 1967 der maritime Grenzverlauf zu Norwegen in der Barentssee nicht endgültig geklärt. Auf dem Höhepunkt der Goldgräberstimmung im Anschluss an die USGS-Studie allerdings machte Russland nicht etwa seine Forderungen mithilfe militärischer Drohgebärden geltend, sondern einigte sich im September 2010 mit seinem Nachbarn auf diplomatischem Wege plötzlich und für viele überraschend auf den Verlauf ihrer gemeinsamen Seegrenze durch die vormals umstrittenen Gebiete. Ein notwendiger Schritt, um die Lizensierung und Exploration in dieser Region entscheidend voranzutreiben.

Russland einigte sich im September 2010 mit seinem Nachbarn auf diplomatischem Wege auf den Verlauf ihrer gemeinsamen Seegrenze durch die vormals umstrittenen Gebiete.

Die latente Ungewissheit in Bezug auf den tatsächlichen Ressourcenreichtum einer bislang ökonomisch überschätzten Region hat dabei zunächst vor allem eines zur Folge: Energiekonzerne müssen in horrend teure Probebohrungen in einem durch harsche Klima- und Wetterverhältnisse unwirtlichen und von Infrastruktur abgeschiedenen Areal investieren. Der Ölriese Shell gab im September 2015 sein Arktis-Programm vor der Küste Alaskas nach verlorenen Investitionskosten in Höhe von sieben Milliarden US-Dollar ohne Aussicht auf profitable Fördermengen kleinlaut auf. Angesichts solcher finanziellen Risiken konkurrieren in der Arktis operierende Energiekonzerne nicht, sondern kooperieren. Die meisten Explorationsprojekte in der Region sind Joint Ventures und dies trifft vor allem auf jene im russischen Teil der Arktis zu. Um dort lagernde Vorkommen fördern zu können, bleiben russische Energiekonzerne wie Gazprom und Rosneft auf westliche Investitionen, technisches Fachwissen und entsprechendes Equipment angewiesen.

Zu einem gegenwärtigen Marktpreis von etwa 50 US-Dollar pro Barrel beispielsweise der Nordseemarke Brent (Stand: 22. August 2016) jedoch wird die Offshore-Förderung im Nordpolarmeer auf Jahre wenig lukrativ bleiben. Wirtschaftsanalysten zufolge kostet die Förderung jedes Barrels Öl aus dem arktischen Schelf zwischen 75 und 100 US-Dollar. Damit ist die Arktis das teuerste Fördergebiet der Welt und momentan ein Verlustgeschäft. Entsprechend fällt der Anteil nordischen Öls und Gases auf den globalen Energiemärkten nach wie vor vernichtend gering aus: Ganze zwei Offshore-Plattformen sind gegenwärtig kommerziell in Produktion, eine davon seit Dezember 2013 in der russischen Petschorasee (Prirazlomnaya) sowie eine zweite seit März 2016 im norwegischen Teil der Barentssee (Goliat). Die große Trendwende auf dem Wulf Lapins zitierten „Testfeld für eine neue, globale geopolitische Architektur“ ist das nicht und für das Kräfteverhältnis in der internationalen Energiepolitik kaum ausschlaggebend.

Als vom Öl- und Gasexport abhängige Volkswirtschaft ist Russland auf seine arktischen Lagerstätten angewiesen.

Dass Russland seinen Blick dennoch stärker als andere gen Norden richtet und dortige nationale Interessen absichert, ist wenig verwunderlich: Es hat keine andere Wahl. Als vom Öl- und Gasexport abhängige Volkswirtschaft ist Russland auf seine arktischen Lagerstätten angewiesen, die immerhin etwa 80 Prozent aller in Russland noch erwartbaren Vorkommen ausmachen. Angenommen, diese würden künftig in einem größeren Maßstab gefördert als bisher, so wäre das keinesfalls ein Nullsummenspiel. Kein Anrainerstaat verliert Ressourcen, nur weil andere ihre fördern. Ganz im Gegenteil wäre die Exploration arktischer Ressourcen in Kombination mit der Aussicht auf neue Schifffahrtsrouten zwischen Asien und Europa beziehungswiese Nordamerika durch den Arktischen Ozean von Vorteil für alle Anrainerstaaten. Denn so ließen sich doch russische Energieexporte zu Abnehmermärkten im Westen wie im Osten realisieren. Der vielbeschworene Wettlauf um die Arktis ist kein 100-Meter-Sprint, sondern ein Marathon mit Volkslaufcharakter.

Wobei die Frage bleibt, wozu es hierfür militärischer Infrastruktur bedarf und warum die vermeintliche Militarisierung der Arktis augenscheinlich so einseitig verläuft, dass Russland wie von Lapins bemerkt „in einer ganz anderen Liga“ spielt.

Die erste Antwort auf diese Frage fällt vermutlich weitaus weniger spektakulär und besorgniserregend aus als oftmals angenommen: Mit dem wirtschaftlichen Erwachen der Region geht die Notwendigkeit einher, angemessene Maßnahmen zur Gefahrenabwehr im Grenz- und Küstenschutz sowie zur Gewährleistung von Such- und Rettungsmaßnahmen zu ergreifen, zu denen sich Russland wie alle anderen Anrainerstaaten in einem 2013 verabschiedeten Abkommen verpflichtet hat. Wer sonst als das Militär sollte diese Aufgaben unter den Anforderungen und Gegebenheiten dieser extremen Umgebung flächendeckend und kontinuierlich gewährleisten? Darin unterscheiden sich Russlands Maßnahmen von denen seiner arktischen Partner derzeit lediglich im Umfang, nicht jedoch in der Stoßrichtung.

Im Hohen Norden wird gar kein Arktisches Monopoly gespielt, sondern allenfalls eine Scharade.

Es gibt aber noch eine zweite Antwort auf die Frage nach der Rolle des russischen Militärs in der Arktis. Angesichts des Umstands, dass überhaupt nicht klar ist, worum genau die Arktis-Anrainer konkurrieren sollten, wird im Hohen Norden gar kein Arktisches Monopoly gespielt, sondern allenfalls eine Scharade. Russland baut in der Arktis Potemkin’sche Dörfer zum Schutz staatlicher Souveränität und territorialer Integrität, die dem internationalen, vor allem aber dem heimischen Publikum einen Großmachtstatus vermitteln sollen, die Präsident Wladimir Putin seinem Volk immer wieder versprochen hat. Aufgrund der zuvor genannten Gründe kann Russland dies tun, ohne tatsächlich eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den anderen Anrainerstaaten riskieren zu müssen, weil weitaus weniger auf dem Spiel steht, als gemeinhin behauptet. In Washington, Ottawa, Kopenhagen und Oslo registriert man das, ohne gleich in Panik zu verfallen. Wer auch immer sich am Ende mit seinen Ansprüchen auf die Gebiete um den Nordpol durchsetzen wird, die momentan sowohl von Kanada als auch Dänemark und Russland vorgebracht werden, darf sich daheim für sein errungenes Statussymbol feiern lassen. Wirtschaftlich jedoch wird dieses Areal nicht von großem Belang sein.

Es sagt mehr über unsere Wahrnehmung als die ihr zugrundeliegenden außenpolitischen Intentionen der Arktis-Anrainer aus, wenn, wie vom Autoren Wulf Lapins, russischen Operationen in der Region „militärische Muskelspiele“ mit Aggressionspotenzial nachgesagt werden, geplante dänische Investitionen in die militärische Infrastruktur auf Grönland aber als bloße Verteidigungsmaßnahmen und „nicht-militärische Bedrohung“ deklariert werden. Faktisch mag das stimmen. Und doch impliziert es, dass von Russland potenziell eine Gefahr ausgeht, während eine Gefahr für Russland durch militärische Aktivitäten der anderen Anrainerstaaten völlig abwegig erscheinen muss und sollte.

So schlecht es um das gegenseitige Vertrauen zwischen dem Westen und Russland in anderen Regionen auch bestellt sein mag: Die Arktis-Region gehört nicht in die Reihe der Krisenherde.

Genau hierin liegt die Krux. Russland mag in anderen Gebieten der Welt berechtigte Zweifel an seiner Aufrichtigkeit und Kooperationsbereitschaft mit dem Westen gesät haben. Darin sehen manche ein Risiko auch für die arktischen Beziehungen, wo sich Russland und die USA geografisch am Nächsten kommen. So schlecht es aber um die Zusammenarbeit und das gegenseitige Vertrauen zwischen dem Westen und Russland in anderen Regionen wie der Ukraine oder Syrien momentan auch bestellt sein mag: Die Arktis-Region gehört nicht in die Reihe der Krisenherde.

Die Zusammenarbeit mit Russland im Hohen Norden setzt sich unvermindert – und alles in allem von äußeren Einflüssen unbeeinflusst – fort, vor allem im Arktischen Rat. Trotz weitestgehend eingefrorener diplomatischer Beziehungen seit der Ukraine-Krise unterzeichneten im Juli 2015 die fünf Arktis-Anrainer, neben Russland und den USA auch Dänemark, Kanada und Norwegen, eine gemeinsame Erklärung zur Prävention nicht regulierter Fischerei in internationalen Gewässern des Arktischen Ozeans. Im Mai 2017 werden sie gemeinsam mit Schweden, Finnland und Island das nunmehr dritte rechtsverbindliche Abkommen in den vergangenen sechs Jahren verabschieden, das die wissenschaftliche Zusammenarbeit der Arktis-Staaten rechtlich schützt und besser koordinieren soll.

In kaum einer anderen Weltregion gehen politische Realität und der sicherheitspolitische Diskurs, der sie zum Gegenstand macht, so weit auseinander wie in der Arktis. Moskaus Verhalten in der Arktis-Region will einfach nicht so recht in unser Russland-Bild der vergangenen Jahre passen – und gerade weil dem so ist, verdient die Zusammenarbeit in der Region als Paradebeispiel funktionaler Ost-West-Beziehungen verstärkte Aufmerksamkeit der internationalen Politik(analyse). Alles andere ist Fiktion.