In seinem vor kurzem hier erschienen <link kommentar artikel ein-lied-von-schmelzendem-eis-und-feuer-1527>Beitrag argumentiert Wulf Lapins, Russland würde seinen Anspruch auf arktische Ressourcen zum Nachteil anderer Staaten wie den USA oder China mit militärischer Präsenz bekräftigen und damit einen vermeintlichen Ressourcenwettlauf in der Arktis-Region zu seinen Gunsten entscheiden. Allein, die Analogie zwischen der Arktis und George R. R. Martins Werk „Das Lied von Eis und Feuer“ und der darauf aufbauenden Serien-Adaption „Game of Thrones“, in der es augenscheinlich nur einen Gewinner und viele Verlierer geben kann, hinkt gewaltig. Der seit Langem prophezeite Wettlauf um arktische Ressourcen, territoriale Expansion und eine regionale Hegemonialstellung bleibt aus, und die Militarisierung entlang der russischen Polarmeerküste fehlinterpretiert.
Die gern zitierte Studie des United States Geological Survey (USGS), auf die sich auch Lapins bezieht und derzufolge von den weltweit noch unentdeckten Rohstoffvorkommen die Arktis 30 Prozent der Gas- sowie 13 Prozent der Ölvorkommen beherbergen soll, entstand bereits im Jahre 2008. Keineswegs sind dies gesicherte Fakten, sondern probabilistische, also die Wahrscheinlichkeit berücksichtigende, Hochrechnungen auf Grundlage bis dahin gesammelter geologischer Daten, ohne dass sich in den vergangenen acht Jahren neue stichhaltige Erkenntnisse ergeben hätten. Auch von einem Ressourcenwettlauf ist seither nichts zu spüren.
Geschätzt wird in der Studie, dass 84 Prozent der erwartbaren arktischen Ressourcen offshore liegen – und davon wiederum gut 90 Prozent im Kontinentalschelf der durch das UN-Seerechtsübereinkommen geschützten nationalen Hoheitsgewässer. Diese Ressourcen sind von allen Parteien unbestritten; weder gibt es um sie einen Wettlauf, noch muss sich ein Anrainerstaat beeilen, sie sich unter Zuhilfenahme des Militärs zu sichern. Auch Russland folgt seit jeher internationalen Spielregeln. So war seit 1967 der maritime Grenzverlauf zu Norwegen in der Barentssee nicht endgültig geklärt. Auf dem Höhepunkt der Goldgräberstimmung im Anschluss an die USGS-Studie allerdings machte Russland nicht etwa seine Forderungen mithilfe militärischer Drohgebärden geltend, sondern einigte sich im September 2010 mit seinem Nachbarn auf diplomatischem Wege plötzlich und für viele überraschend auf den Verlauf ihrer gemeinsamen Seegrenze durch die vormals umstrittenen Gebiete. Ein notwendiger Schritt, um die Lizensierung und Exploration in dieser Region entscheidend voranzutreiben.
Russland einigte sich im September 2010 mit seinem Nachbarn auf diplomatischem Wege auf den Verlauf ihrer gemeinsamen Seegrenze durch die vormals umstrittenen Gebiete.
Die latente Ungewissheit in Bezug auf den tatsächlichen Ressourcenreichtum einer bislang ökonomisch überschätzten Region hat dabei zunächst vor allem eines zur Folge: Energiekonzerne müssen in horrend teure Probebohrungen in einem durch harsche Klima- und Wetterverhältnisse unwirtlichen und von Infrastruktur abgeschiedenen Areal investieren. Der Ölriese Shell gab im September 2015 sein Arktis-Programm vor der Küste Alaskas nach verlorenen Investitionskosten in Höhe von sieben Milliarden US-Dollar ohne Aussicht auf profitable Fördermengen kleinlaut auf. Angesichts solcher finanziellen Risiken konkurrieren in der Arktis operierende Energiekonzerne nicht, sondern kooperieren. Die meisten Explorationsprojekte in der Region sind Joint Ventures und dies trifft vor allem auf jene im russischen Teil der Arktis zu. Um dort lagernde Vorkommen fördern zu können, bleiben russische Energiekonzerne wie Gazprom und Rosneft auf westliche Investitionen, technisches Fachwissen und entsprechendes Equipment angewiesen.
Zu einem gegenwärtigen Marktpreis von etwa 50 US-Dollar pro Barrel beispielsweise der Nordseemarke Brent (Stand: 22. August 2016) jedoch wird die Offshore-Förderung im Nordpolarmeer auf Jahre wenig lukrativ bleiben. Wirtschaftsanalysten zufolge kostet die Förderung jedes Barrels Öl aus dem arktischen Schelf zwischen 75 und 100 US-Dollar. Damit ist die Arktis das teuerste Fördergebiet der Welt und momentan ein Verlustgeschäft. Entsprechend fällt der Anteil nordischen Öls und Gases auf den globalen Energiemärkten nach wie vor vernichtend gering aus: Ganze zwei Offshore-Plattformen sind gegenwärtig kommerziell in Produktion, eine davon seit Dezember 2013 in der russischen Petschorasee (Prirazlomnaya) sowie eine zweite seit März 2016 im norwegischen Teil der Barentssee (Goliat). Die große Trendwende auf dem Wulf Lapins zitierten „Testfeld für eine neue, globale geopolitische Architektur“ ist das nicht und für das Kräfteverhältnis in der internationalen Energiepolitik kaum ausschlaggebend.
Als vom Öl- und Gasexport abhängige Volkswirtschaft ist Russland auf seine arktischen Lagerstätten angewiesen.
Dass Russland seinen Blick dennoch stärker als andere gen Norden richtet und dortige nationale Interessen absichert, ist wenig verwunderlich: Es hat keine andere Wahl. Als vom Öl- und Gasexport abhängige Volkswirtschaft ist Russland auf seine arktischen Lagerstätten angewiesen, die immerhin etwa 80 Prozent aller in Russland noch erwartbaren Vorkommen ausmachen. Angenommen, diese würden künftig in einem größeren Maßstab gefördert als bisher, so wäre das keinesfalls ein Nullsummenspiel. Kein Anrainerstaat verliert Ressourcen, nur weil andere ihre fördern. Ganz im Gegenteil wäre die Exploration arktischer Ressourcen in Kombination mit der Aussicht auf neue Schifffahrtsrouten zwischen Asien und Europa beziehungswiese Nordamerika durch den Arktischen Ozean von Vorteil für alle Anrainerstaaten. Denn so ließen sich doch russische Energieexporte zu Abnehmermärkten im Westen wie im Osten realisieren. Der vielbeschworene Wettlauf um die Arktis ist kein 100-Meter-Sprint, sondern ein Marathon mit Volkslaufcharakter.
Wobei die Frage bleibt, wozu es hierfür militärischer Infrastruktur bedarf und warum die vermeintliche Militarisierung der Arktis augenscheinlich so einseitig verläuft, dass Russland wie von Lapins bemerkt „in einer ganz anderen Liga“ spielt.
Die erste Antwort auf diese Frage fällt vermutlich weitaus weniger spektakulär und besorgniserregend aus als oftmals angenommen: Mit dem wirtschaftlichen Erwachen der Region geht die Notwendigkeit einher, angemessene Maßnahmen zur Gefahrenabwehr im Grenz- und Küstenschutz sowie zur Gewährleistung von Such- und Rettungsmaßnahmen zu ergreifen, zu denen sich Russland wie alle anderen Anrainerstaaten in einem 2013 verabschiedeten Abkommen verpflichtet hat. Wer sonst als das Militär sollte diese Aufgaben unter den Anforderungen und Gegebenheiten dieser extremen Umgebung flächendeckend und kontinuierlich gewährleisten? Darin unterscheiden sich Russlands Maßnahmen von denen seiner arktischen Partner derzeit lediglich im Umfang, nicht jedoch in der Stoßrichtung.
Im Hohen Norden wird gar kein Arktisches Monopoly gespielt, sondern allenfalls eine Scharade.
Es gibt aber noch eine zweite Antwort auf die Frage nach der Rolle des russischen Militärs in der Arktis. Angesichts des Umstands, dass überhaupt nicht klar ist, worum genau die Arktis-Anrainer konkurrieren sollten, wird im Hohen Norden gar kein Arktisches Monopoly gespielt, sondern allenfalls eine Scharade. Russland baut in der Arktis Potemkin’sche Dörfer zum Schutz staatlicher Souveränität und territorialer Integrität, die dem internationalen, vor allem aber dem heimischen Publikum einen Großmachtstatus vermitteln sollen, die Präsident Wladimir Putin seinem Volk immer wieder versprochen hat. Aufgrund der zuvor genannten Gründe kann Russland dies tun, ohne tatsächlich eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den anderen Anrainerstaaten riskieren zu müssen, weil weitaus weniger auf dem Spiel steht, als gemeinhin behauptet. In Washington, Ottawa, Kopenhagen und Oslo registriert man das, ohne gleich in Panik zu verfallen. Wer auch immer sich am Ende mit seinen Ansprüchen auf die Gebiete um den Nordpol durchsetzen wird, die momentan sowohl von Kanada als auch Dänemark und Russland vorgebracht werden, darf sich daheim für sein errungenes Statussymbol feiern lassen. Wirtschaftlich jedoch wird dieses Areal nicht von großem Belang sein.
Es sagt mehr über unsere Wahrnehmung als die ihr zugrundeliegenden außenpolitischen Intentionen der Arktis-Anrainer aus, wenn, wie vom Autoren Wulf Lapins, russischen Operationen in der Region „militärische Muskelspiele“ mit Aggressionspotenzial nachgesagt werden, geplante dänische Investitionen in die militärische Infrastruktur auf Grönland aber als bloße Verteidigungsmaßnahmen und „nicht-militärische Bedrohung“ deklariert werden. Faktisch mag das stimmen. Und doch impliziert es, dass von Russland potenziell eine Gefahr ausgeht, während eine Gefahr für Russland durch militärische Aktivitäten der anderen Anrainerstaaten völlig abwegig erscheinen muss und sollte.
So schlecht es um das gegenseitige Vertrauen zwischen dem Westen und Russland in anderen Regionen auch bestellt sein mag: Die Arktis-Region gehört nicht in die Reihe der Krisenherde.
Genau hierin liegt die Krux. Russland mag in anderen Gebieten der Welt berechtigte Zweifel an seiner Aufrichtigkeit und Kooperationsbereitschaft mit dem Westen gesät haben. Darin sehen manche ein Risiko auch für die arktischen Beziehungen, wo sich Russland und die USA geografisch am Nächsten kommen. So schlecht es aber um die Zusammenarbeit und das gegenseitige Vertrauen zwischen dem Westen und Russland in anderen Regionen wie der Ukraine oder Syrien momentan auch bestellt sein mag: Die Arktis-Region gehört nicht in die Reihe der Krisenherde.
Die Zusammenarbeit mit Russland im Hohen Norden setzt sich unvermindert – und alles in allem von äußeren Einflüssen unbeeinflusst – fort, vor allem im Arktischen Rat. Trotz weitestgehend eingefrorener diplomatischer Beziehungen seit der Ukraine-Krise unterzeichneten im Juli 2015 die fünf Arktis-Anrainer, neben Russland und den USA auch Dänemark, Kanada und Norwegen, eine gemeinsame Erklärung zur Prävention nicht regulierter Fischerei in internationalen Gewässern des Arktischen Ozeans. Im Mai 2017 werden sie gemeinsam mit Schweden, Finnland und Island das nunmehr dritte rechtsverbindliche Abkommen in den vergangenen sechs Jahren verabschieden, das die wissenschaftliche Zusammenarbeit der Arktis-Staaten rechtlich schützt und besser koordinieren soll.
In kaum einer anderen Weltregion gehen politische Realität und der sicherheitspolitische Diskurs, der sie zum Gegenstand macht, so weit auseinander wie in der Arktis. Moskaus Verhalten in der Arktis-Region will einfach nicht so recht in unser Russland-Bild der vergangenen Jahre passen – und gerade weil dem so ist, verdient die Zusammenarbeit in der Region als Paradebeispiel funktionaler Ost-West-Beziehungen verstärkte Aufmerksamkeit der internationalen Politik(analyse). Alles andere ist Fiktion.
6 Leserbriefe
Nicht Russland, sondern China
Erfreulich ist die kleine Debatte zwischen Knecht und Lapins über die Bewertung der russischen Aufrüstung in der Arktis allemal. Leider spitzt Lapins die russische Aufrüstung im Hohen Norden sehr alarmistisch zu und gerät auch Knecht in seiner Erwiderung bei der Bewertung einiges Durcheinander, wohl auch, weil er den Lapinstext nicht genau genug gelesen hat. Ob die Warnung von Lapins reine Fiktion ist, wie Knecht behauptet, wird ohnehin erst die Zukunft zeigen. Im Moment wäre es hilfreich, die Fakten zu bewerten und das meint alle verfügbaren Fakten. Dazu gehört eben auch das Eingeständnis, dass trotz eines internationalen Rechtskanons nicht alle Konflikte bereits als gelöst angesehen werden können. So ist der Streit zwischen Kanada und Dänemark, wem die strategisch wichtig gelegenen Hans Insel in der Nordwestpassage gehört, nicht gelöst, nur vertagt worden. Für das von Knecht als positives Zeichen angeführte Übereinkommen zwischen Norwegen und Russland aus dem Jahr 2010 über eine gemeinsame Seegrenze für ein Seegebiet von der Größe Deutschlands zahlte Norwegen einen hohen Preis. Schließlich wurde die Einigung nur erreicht, nachdem Norwegen bereit war, vom international üblichen Äquidistanzprinzip abzuweichen, nachdem die Seegrenze im gleichen Abstand zwischen den jeweiligen Küsten verläuft. Unklar ist nämlich, ob hiermit ein Präjudiz für weitere russische Begehrlichkeiten geschaffen wurde. Auch die Zukunft der Insel Svalbart, die zwar formal seit 1920 zu Norwegen gehört, ist weiterhin offen, da Russland Norwegens Souveränität über die Insel und den angrenzenden Meeresraum anzweifelt. Und wer den Konflikt um die in Deutschland vielleicht wenig bekannte Internetzeitung Barents Observer verfolgt hat, kann schon ins Grübeln kommen. Die britische BBC hatte am 12. November 2015 davon berichtet, dass der russische Geheimdienst FSB den norwegischen Eigentümer der Zeitung davon „überzeugt“ habe soll, den russlandkritischen Chefredakteur Thomas Nilsen abzulösen.
Auch wenn Knecht richtig darauf hinweist, dass der Großteil der heute bekannten Rohstoffvorkommen innerhalb der Hoheitsgebiete der Arktisanrainer vermutet wird, ist daraus nicht zwingend abzuleiten, dass künftig Grenzen nicht auch mit Gewalt verschoben werden können. Die russische Annektion der Krim und von Teilen der Ukraine sind nur das jüngste Beispiel waffenbasierter Realpolitik. Außerdem ist weiterhin unklar, ob die küstennah verlaufenden Seerouten Nordwest- und Nordostpasssage internationale Meerengen oder nationale Hoheitsgewässer sind. Hier stehen die Ansichten Kanadas und Russlands konträr zu denen der anderen Mitglieder in den Vereinten Nationen.
Und weiterhin bleibt die Frage zwischen Russland, Kanada und Dänemark strittig, wem der Nordpol und die darunter vermuteten Rohstoffe gehören. Wenn man dann offen geäußerte Gedankenspiele, wie jene des Chefs der russischen Denkfabrik „Zentrum für strategische Konjunktur“, Iwan Konowalow, zur Bewertung heranzieht, sollte man bei der vorschnellen Beurteilung russischer Absichten vielleicht etwas vorsichtiger sein, als das bei Knecht anklingt. Konowalow befürchtet nämlich bereits heute eine Eskalation: „Es beginnt eine ernste militärisch-diplomatische Auseinandersetzung. Nicht nur die arktischen Staaten wie Kanada, Russland, die USA, Norwegen und Dänemark, sondern auch Länder außerhalb der Region nehmen daran teil. Zweifelsohne wird China ebenfalls einsteigen, aber auch weitere Länder, die Zugriff auf die arktischen Ressourcen bekommen wollen. Auf diplomatischer Ebene wird die Rhetorik äußerst hart sein. Doch wer im diplomatischen Kampf keine militärische Komponente besitzt, wird immer verlieren.“
Und dieses Zitat bringt mich auf den vielleicht wesentlichsten Aspekt bei der Beurteilung der Lage in der Arktis. Es geht gar nicht nur um das Verhältnis zwischen Russland und den westlichen Arktisanrainern. Das eigentlich Neue ist nämlich das Auftreten Chinas, das eigene Ansprüche anmeldet. So missversteht Knecht auch das Zitat im Lapinstext, die Arktis sei „Testfeld für eine neue, globale, geopolitische Architektur“ dahingehend, als ginge es hierbei um Russlands Auftreten. Lapins zitiert dabei aus meiner Studie über das Auftreten Chinas, schreibt dies auch sehr deutlich, allerdings ohne die Quelle zu zitieren. „Mittlerweile wird Peking im sicherheitspolitischen Diskurs sogar eine aktive geostrategische Rolle in der Arktis als „Testfeld für eine neue, globale geopolitische Architektur“ zugewiesen.“ Das muss Knecht übersehen haben. Gleichwohl, das Thema ist damit gesetzt.
In einem Satz: Das eigentlich Neue in der Arktis sind nicht die Rüstungsanstrengungen Russlands, die im Verhältnis zur Größe allein der russischen Arktis immer noch als marginal bewerten werden können. Das Neue ist das Auftreten der raumfremden Macht China und die bestehende geopolitische Fragilität, die aus der Zukunft Grönlands und Islands entstehen kann.
Verbunden mit besten Grüßen aus Island, Jörg-Dietrich Nackmayr
vielen Dank für Ihren Beitrag zur Debatte. Selbstverständlich habe ich den Artikel von Wulf Lapins in aller Gründlichkeit gelesen und bin auch mit Ihrem Beitrag in der ÖMZ gut vertraut. Im Artikel von Wulf Lapins ging es vornehmlich um die Rolle Russlands in der Arktisregion, insofern konzentrierte sich meine obenstehende Replik auf genau jenes Thema und konnte nicht sämtliche Aspekte in vollem Umfang berücksichtigen.
Beipflichten möchte ich Ihnen in Ihrer Aussage, dass man sich in der Debatte um die Arktis mehr auf Fakten denn auf hypothetische Zukunftsszenarien verlegen sollte. Genau das habe ich in meiner Replik getan. Zu viel wird vor allem in der deutschsprachigen Debatte geschrieben über (Konflikt)potenziale der Arktis, zu wenig über Realitäten. Insofern sind die gezogenen Schlussfolgerungen in meiner Replik keineswegs vorschnell oder unvorsichtig, sondern bauen auf einem empirischen Fundament auf. Sich stets nur auf Spekulationen zu verlegen, die einen Konflikt unter diesen oder jenen politischen, wirtschaftlichen oder umweltbedingten Entwicklungen heraufbeschwören, ist zu einfach und hilft der Diskussion über die Ausgestaltung und Funktionalität der politischen Ordnung in der Arktis nicht.
Für unzutreffend halte ich Ihre Aussage, dass wir es in der Arktis infolge der Unklarheit über manche maritimen Grenzverläufe sowie den Status der Nordwest- und weitaus minder der Nordostpassage mit offenen Konflikten zu tun haben. Das Gegenteil einer abschließenden, einvernehmlich geschlossenen diplomatischen Lösung in Bezug auf diese Fragen ist nicht der Konflikt, sondern zunächst erst einmal nur die Rechtsunsicherheit. Die Dichotomisierung von Kooperation versus Konflikt als ausschließliche Analysekategorien arktischer Beziehungen, wie sie zu schnell zu leichtfertig vorgenommen wird, tut der Debatte nicht gut, weil sie überall dort diplomatische Reibungspunkte, politische Rivalitäten und militärische Auseinandersetzungen vermutet, wo nicht unmittelbar kooperative Lösungen gefunden werden. Wie so meist ist die Welt nicht nur schwarz und weiß – und in Anbetracht der Komplexität der politischen Prozesse und Zusammenhänge in der Arktis wäre ein größeres analytisches Spektrum und eine begriffliche Feinjustierung wünschenswert. Unbestritten ist, dass es offene Grenz- und Statusfragen im Arktisraum gibt, deren Klärung sich voraussichtlich noch Jahre, gar Jahrzehnte hinziehen wird. Fraglich ist jedoch, ob eine Konfrontation über diese Fragen im Interesse irgendeines Anrainerstaates läge oder ob sie nicht eher, wie 2008 vereinbart, das internationale Seerecht in solchen Belangen respektieren und anwenden.
Für fahrlässig erachte ich daher die Darstellung, diese rechtliche (Un)ordnung würde unmittelbar zu einer Eskalation oder gar „waffenbasierter Realpolitik“ führen. Die Umstände des Ukraine-Konfliktes sind dann doch entscheidend andere als in der Arktis. In Bezug auf Russlands Ambitionen lassen sich den von Ihnen zitierten Worten Iwan Konowalows gleichwohl jene aktuellen Worte Wladimir Putins, dem wohl eine weitaus bedeutendere Rolle in der russischen Außenpolitikgestaltung und der Befehlskette russischer Streitkräfte zugemessen werden kann als Konowalow, gegenüberstellen: „Believe me, the Arctic should be an area for open and equal-level dialogue based on principles of general and undivided security [...] Here, there should be no place for geopolitical games between military blocks, behind-the-scene agreements and partition of spheres of influence.“ (http://thebarentsobserver.com/security/2016/08/putin-calls-fair-play-arctic)
Kaum jemand wird wohl gegenwärtig behaupten, dass die unterschiedliche Interpretation über den Status der Nordwestpassage unter internationalem Recht mittelfristig zu einem wie auch immer gearteten Konflikt zwischen den USA und der EU einerseits und Kanada andererseits führen wird. Gleiches gilt für die unbewohnte sowie strategisch und ökonomisch doch uninteressante Hans-Insel zwischen Grönland und dem kanadisch-arktischen Archipel, die bisher lediglich als Versteck für kanadischen und dänischen Whisky taugte. Hier bewiesen Abgesandte beider Staaten bisher Humor, nicht aber Willen und Muße zu einer ernsthaften zwischenstaatlichen Auseinandersetzung.
Schließlich halte ich den Verweis auf Chinas Ambitionen in der Arktis für verzerrt und überstrapaziert. So neu ist die Präsenz Chinas in der Arktis im Übrigen nicht; erste wissenschaftliche Expeditionen reichen in die 1950er Jahre zurück. Auch hier wird zu schnell Ambition und Interesse mit Einflussnahme und Machtstreben gleichgesetzt.
Mir wäre neu, wenn China, wie von Ihnen behauptet, eigene Ansprüche in der Arktis angemeldet hätte – auch würde dies unter dem internationalen Seerechtsübereinkommen als Nicht-Anrainerstaat schwerlich durchzusetzen sein. Hier setzt das internationale Recht dem Potenzial chinesischer Ambitionen sehr enge Grenzen. Zudem hat sich China mit Zulassung als Beobachter im Arktischen Rat 2013 damit einverstanden erklärt, die Souveränitäts- und Hoheitsrechte der Anrainerstaaten zu respektieren. Die Interpretation der Arktis als gemeinsames Erbe der Menschheit formulieren einzelne Stimmen in Peking heute nur noch in Bezug auf die internationalen Gewässer des Arktischen Ozeans, wo China genau wie jeder andere Staat gewisse Rechte genießt. Das ist rechtlich wie politisch unverfänglich und legitim. Auf Grundlage dessen China den Status einer „raumfremden Macht“ zuzuschreiben, ist Panikmache.
Die Fakten sprechen freilich eine andere Sprache: Nehmen wir einmal das Partizipationsverhalten und den inhaltlichen Beitrag der chinesischen Delegationen zu den Arbeitsgruppen des Arktischen Rates als Indikator für das Interesse Chinas an den Entwicklungen im Arktisraum, so lässt sich feststellen: Es ist stark rückläufig, seit China 2013 den Beobachterstatus zugesprochen bekommen hat. Der Begeisterung für die Arktis ist schnell Ernüchterung über die dortigen Gegebenheiten gewichen. Von aktuell 172 laufenden und beantragten Lizenzen zur Exploration und Förderung von Rohstoffen und Mineralen auf Grönland entfällt genau eine einzige auf ein chinesisches Unternehmen. Der „Big Player“ unter den „raumfremden Mächten“ ist hier Australien mit 14 Lizenzen. Allerdings wird Australien im Vergleich zu China keinerlei geopolitische Relevanz für die arktische politische Ordnung beigemessen. Auch in Bezug auf Peking lässt sich bis dato wiederholen: Die große Trendwende auf dem „Testfeld für eine neue, globale geopolitische Architektur“ ist das bisherige Engagement Chinas nicht. Überhaupt erscheint die Bedeutung der Arktis für die globale geopolitische Architektur nach wie vor überinterpretiert.
Selbstverständlich kann niemand zuverlässig voraussagen, wie sich die politischen Beziehungen und ökonomischen Rahmenbedingungen in der Region in den kommenden Jahrzehnten entwickeln werden. Gerade aber weil diese Entwicklungen von zu vielen regionalen und globalen Faktoren abhängen, sollte man mit Spekulationen vorsichtig sein. Alles in allem sind die Anzeichen für kooperative Lösungsstrategien in den letzten Jahren nicht weniger geworden, sondern haben sich ganz im Gegenteil verdichtet. Ob Russland oder China: In beiden Fällen geht es letzten Endes um die generelle Frage, ob die rechtlichen, politischen, sozioökonomischen und diplomatischen Strukturen und Beziehungen im Arktisraum die Möglichkeit eines ernstzunehmenden politischen oder gar militärischen Konfliktes in der Arktis über die Arktis begünstigen. Allen Unkenrufen zum Trotz glaube ich, dass diese Frage klar verneint werden muss.
Mit besten Grüßen aus Berlin,
Sebastian Knecht
Dennoch wird das Bild des „Konfliktraum Arktis“ leider auch in der hier stattfindenden Debatte reproduziert. Obgleich Nackmayr selbst anführt, dass es hilfreich wäre, „die Fakten zu bewerten und das meint alle verfügbaren Fakten“, erfüllt er diesen Anspruch leider in seinem Kommentar nicht. Stattdessen demonstriert sein Beitrag, wie sehr auch bei der Berücksichtigung „aller [ihm] verfügbaren Fakten“ nur eine, aber eben nicht „die einzig wahre“ Perspektive entstehen kann. So verweist er beispielsweise auf den (ebenfalls sehr medienwirksamen) „Streit zwischen Kanada und Dänemark“ um die „strategisch wichtig gelegene Hans Insel“ in der Nordwestpassage. Dies ist nicht nur ein wenig passendes Beispiel für sein Argument sondern lässt Nackmayr darüber hinaus unerwähnt, dass dieser „Streit“ (und das ist ein Fakt) vor allem als „Whiskey War“ bekannt ist: Im Jahr 1984 „pflanzte“ ein dänischer Minister eine Flagge auf der „Welcome to the Danish island“ stand und ließ eine Flasche Brandy daneben zurück. Eine kanadische Expedition folgte dem Beispiel, platzierte ein „Welcome to Canada“- Schild und eine Flasche Canadian Club. Seit 2005 gilt über diese wohl eher amüsant anmutende Episode hinaus die Vereinbarung, dass sich beide Länder darüber informieren, wenn staatliche Expeditionen die Insel Hans besuchen und nach wie vor wird von beiden Ländern über eine Einigung verhandelt. In der Zwischenzeit haben Kanada und Dänemark trotz dieses „Streits“ im Rahmen des Arktischen Rats aber auch auf bilateraler Ebene zahlreiche Kooperationen (wie das 2013-„Agreement for Co-operation Relating to the Marine Environment“) angestoßen.
Um zu belegen, dass nicht ausgeschlossen werden kann, dass „künftig Grenzen nicht auch mit Gewalt verschoben werden können“, listet Nackmayr schließlich sämtliche noch strittige Grenzverläufe in der Arktis auf. Erneut bleiben wichtige Fakten von Nackmayr unerwähnt, nämlich, dass sich die Arktis-Anrainer-Staaten bereits 2008 mit der Ilulissat-Deklaration darauf geeinigt haben, die Seerechtskonvention der Vereinten Nationen anzuerkennen und sich an das Verfahren der Seerechtssockelkommission zur Bestimmung der Grenzverläufe in der Arktis binden. Auch in diesem Punkt ist das „Konfliktpotenzial“ zwischen Arktis-Anrainern entsprechend als gering zu beurteilen. Zudem scheint Nackmayr Knecht’s Replik als Zukunftsprognose misszuverstehen, obgleich dieser ganz deutlich schreibt: „So schlecht es aber um die Zusammenarbeit und das gegenseitige Vertrauen zwischen dem Westen und Russland in anderen Regionen wie der Ukraine oder Syrien momentan auch bestellt sein mag: Die Arktis-Region gehört nicht in die Reihe der Krisenherde“.
Zu guter Letzt: Knecht weist in seiner Replik bereits darauf hin, dass das hier zu Lande dominierende Russland-Bild auch vieles über unsere Wahrnehmung, Denkmuster und damit verbundene Zuschreibungen aussagt. Gleiches gilt auch für das Bild „der raumfremden Macht China“, das Nackmayr in seinem Kommentar bewirbt („raumfremd“ steht zunächst einmal in einem starken Spannungsverhältnis zu der globalen Bedeutung, die der Arktis mittlerweile zugeschrieben wird). Sicherlich wäre es naiv, Ländern wie China - aber eben auch vielen anderen - ein Interesse an den Ressourcen, die in der Arktis vermutet werden, abzusprechen. Allerdings werden weitere möglicherweise viel wichtigere Interessen vernachlässigt, die im Übrigen auch explizit in den vielseitigen Arktisstrategie- und policy-Papieren ausgewiesen sind, wenn nur auf den „Rohstoffhunger“ von Staaten abgehoben wird. Leider ist Letzteres vor allem in den "westlichen" Medien im Falle Chinas eine gängige Praxis, die Klaus Dodds und Mark Nuttall in ihrem jüngst erschienenen Buch unter dem Phänomen des „Polar Orientalism“ fassen.
Gleichermaßen vernachlässigt ein bloßes Fokussieren auf einen „aufziehenden Konflikt“ oder die „Ressourcenausbeutung in der Arktis“ eine viel relevantere da tatsächlich gegenwärtige Entwicklung: Den schwierigen Umgang mit dem Klimawandel, dessen vielseitige Auswirkungen die Polarregionen schließlich erwiesenermaßen als sogenannte Klimawandel-Barometer schon lange anzeigen. Anstatt auf „populäre“ aber deshalb nicht zwangsläufig „wahrere“ Erzählungen zu verweisen, würde es der Debatte gut tun, den Blick entsprechend zu öffnen und auch weniger bekannte oder gerne verdrängte Fakten zu berücksichtigen, um einen ernsthaften und differenzierten Austausch über die sehr komplexen Entwicklungen in der Arktis zu unterstützen.
Dorothea Wehrmann, Universität Bielefeld
Wie fragil die Situation im Nordmeer ist, zeigte sich erst vor einigen Wochen in Spitzbergen, als russische Truppen dort ungefragt Manöver veranstalteten. Die Insel gehört zu Norwegen und ist eigentlich eine entmilitarisierte Zone. Dies hält Russland allerdings nicht davon ab in einer Politik der Nadelstiche immer wieder, so wie hier, die Reaktionsfähigkeit des westlichen Bündnisses herauszufordern. Friedenswille sieht anders aus. Man sollte die Tür zum Dialog nicht zuschmeissen, aber aber auch nicht einen Kotau vor nicht akzeptablen Positionen machen, damit der Dialog nicht ins Stocken gerät.
Wenn man diese Unterscheidung verstanden hat, wird der Blick frei für die konkrete Suche nach Handlungsoptionen, wie auf mögliche arktische Konfliktfälle (wie beispielsweise offene Grenzziehungen, mögliche grenzüberschreitende Verschmutzungen aufgrund von Ölverschmutzungen in arktischen Meeren usw.) reagiert werden kann und reagiert wird.
Die Realität sieht leider so aus, und das zeigt diese Debatte auch wieder, dass das Vorhandensein eines Konfliktfalles (wie bspw. noch nicht geklärte Grenzverläufe) in den Medien und leider auch in akademischen und anderen Expertenbeiträgen zur Arktis gerne mit einem Konfrontationsfall gleichgesetzt wird. Wenn nun aber Konflikt und Konfrontation gleichsetzt werden, sehen wir uns in der Tat einer beunruhigenden Situation in der Arktis gegenüber, da es in der Tat so einige Fälle gibt, in denen sich die Interessen der Arktisakteure (und damit sind Akteure südlich des Polarkreises eingeschlossen) berühren.
Wenn man aber analytisch sauber arbeitet und versteht, dass Konflikt sowohl Kooperation als auch Konfrontation erst möglich macht, kann man in die Empirie da draußen gucken und schauen was die Akteure so als Handlungsoption wählen. In dieser Hinsicht sind die Beiträge von Knecht und Wehrmann weitaus überzeugender, indem sie konkrete Beispiele für Kooperationsverhalten liefern (v.a. die Kooperation im Arktischen Rat in den letzten Jahren liefert ja ausreichend Material hierfür), während der ursprüngliche Artikel sowie die erste Reaktion hierauf im Spekulativen verhaftet bleiben. Das kurze Ergebnis der Analyse lautet: Ja, die Arktis ist voll von Konfliktfällen, aber eben auch voll von Kooperation, da durch die Bank kooperativ auf Konfliktfälle reagiert wird.
Das plakativste Beispiel sind hierbei in der Tat die offenen Grenzfragen in der Arktis, v.a. die Frage wem denn nun das Gebiet um den Nordpol „gehört“ (wobei „gehören“ hier das falsche Verb ist, da es nicht um Souveränität sondern um die Ausübung bestimmter souveräner Rechte geht, was juristisch ein wesentlicher Unterschied ist). Obwohl diese Grenzgeschichten unisono von Medien wie häufig auch von Experten als „Konflikte“ im Sinne von „Konfrontation“ beschrieben werden, haben die betroffenen Akteure selbst (sprich die Arktisanrainer) wiederholt in öffentlich zugänglichen Dokumenten, z.B. in ihren Arktisstrategien und in ihren Einreichungen an die Meeresbodenbehörde, betont, dass eventuelle Überlappungen friedlich durch Verhandlungen und im Einklang mit internationalem Recht verhandelt werden. Am eindeutigsten ist hier die letzte dänische Einreichung bei der Meeresbodenbehörde im Dezember 2014: bevor die Einreichung erfolgte, bemühten sich die Dänen eine Abstimmung mit allen (!) anderen Arktisanrainern.
Ein weiteres Problem ist, dass das Vorhandensein eines Konfliktes immer sehr schnell proklamiert wird und dieser dann nicht mehr hinterfragt wird. Beispielhaft ist hier das steigende internationale Interesse an der Arktis. Vor allem Interesse von Seiten Chinas wird generell, so auch von Nackmayr, als Konfliktfall angesehen. Wenn man sich mit den Mitgliedern und auch den Ständigen Vertretern (den Vertretern indigener Organisationen) im Arktischen Rat unterhält, bekommt man zu hören, dass man nach anfänglicher Unsicherheit mittlerweile froh über die Präsenz wichtiger nicht-arktischer Akteure am (Hinter)Tisch des Arktischen Rates ist. Wann hat man als im Vergleich kleine arktische indigene Organisation schon mal die Möglichkeit, mit China (und Indien, Singapur, Japan etc., so wie sie denn an Treffen teilnehmen, s. Kommentar Knecht oben) direkt ins Gespräch zu kommen.
Zu guter Letzt, wenn man bedenkt, wie häufig der „Konfliktherd Arktis“ oder „der nächste Kalte Krieg im Hohen Norden“ im neunten (!) Jahr seit der russischen Flaggensetzung am Nordpol in den Medien und hauptsächlich von Medien informierten Beiträgen herbeigeredet wurde, fragt man sich schon, warum er so lange auf sich warten lasst. Dies zeigt wohl auch, dass die Einschätzung der Arktis als „Konfliktherd“ nicht umsonst hauptsächlich auf Spekulationen beruht, und der nächste Kalte Krieg daher wohl genau das ist: reine Spekulation.
Beste Grüße
Kathrin Keil, Institute for Advanced Sustainability Studies (IASS), Potsdam