„Eine merkwürdige, oppressive Stimmung hat sich über Frankreich gelegt, eine Art erstickende, alles umfassende Verzweiflung, durchmischt mit Funken von Aufbegehren,“ schreibt Michel Houellebecq in seinem Bestseller-Roman von 2015 „Die Unterwerfung“. Der Roman zeichnet ein schauriges Bild von Frankeich: Bei den Präsidentschaftswahlen 2022 schließen sich die bürgerlichen Parteien der rechten und linken Mitte mit der Muslimbruderschaft zusammen, um einen Wahlsieg des rechtsextremem Front National (FN) zu verhindern – und handeln sich damit die Islamisierung Frankreichs ein, finanziert durch die Saudis. Inzwischen ist man geneigt, dem Roman, der zwischen Ironie und Zynismus changiert, durchaus eine ernsthafte Portion gesellschaflichen Spürsinns zu attestieren. Frankreich ist möglicherweise vom Houellebecq’schen Szenario nicht mehr so weit entfernt, wie man glauben möchte.
Das Land hat sich verkrampft, fast verkeilt, in einen Kampf gegen den Terror, der Sicherheit zum wichtigsten, fast einzigen Wahlkampftthema macht, über das sich die französische Gesellschaft noch mobilisieren, gar einen läßt. Sicherheit wird damit zum einzigen patriotischen Ventil – und alles wird dementsprechend ausgelegt. Dabei ist beim Amoklauf in Nizza vom Juli die Urheberschaft des „Islamischen Staates“ (IS) bis heute nicht erwiesen.
Die Tat des Mörders von Nizza ist natürlich abscheulich und unentschuldbar. Aber war es wirklich Terror? Frankreich hält in Medien- und Berichterstattung hartnäckig daran fest, von Terror zu sprechen. Es will sich offensichtlich „angegriffen“ fühlen. Braucht Frankreich den „Terror“, um sich als Nation zu spüren? Oder braucht es ihn, um nicht hinschauen zu müssen, was aus der Grande Nation geworden ist? Ein gespaltenes Land nämlich, in Arm und Reich, Stadt und Land, Franzosen und Muslime, FN-Wähler und solche, die den FN fürchten. Dazwischen befinden sich verunsicherte Mittelschichten, eine desillusionierte (und kaum vernehmbare) Jugend und eine ebenso zerstrittene wie entmutigte Linke, die erst kürzlich mit den Nuits debouts eine kraftlose Revolte wagte, die mittlerweile im Sande verlaufen ist.
Die Kriegsrhetorik ist nicht mehr als eine Art patriotischer Kitt für ein ansonsten politisch kraftloses Frankreich.
Wenn den Attentätern von Paris, Nizza oder Rouen daran liegen sollte, die französische Gesellschaft nicht nur zu erschüttern und zu verunsichern, sondern auch zu spalten, dann sind sie bedauerlicherweise auf einem guten Weg dahin. FN-Vorsitzende Marine le Pen profitiert jedes Mal vom Verdacht auf religiöse Motivation eines Anschlags. Und jeder Anschlag wird genutzt für mehr Aufrüstung und Überwachung. Der Ausnahmezustand in Frankreich, eingeführt nach den Anschlägen von November 2015, wurde gerade im Juli 2016 ohne Debatte noch einmal verlängert. Immer wird vergessen, dass Sicherheit zwar angenehm, aber kein Wert an sich ist; auch im Gefängnis kann man sehr sicher sein. Polizeiarbeit und Sondereinsatzkommandos mögen unverzichtbare Instrumente eines wehrhaften Staates sein, vor allem aber sind sie eine reaktive Variante. Die Anrufung bellizistischer Stärke ist eigentlich ein Zeichen von Schwäche. Überwachungskameras verhindern das nächste Attentat ebenso wenig wie 10 000 neue Reservisten, die nach Nizza einberufen wurden. Die Kriegsrhetorik ist nicht mehr als eine Art patriotischer Kitt für ein ansonsten politisch kraftloses Frankreich.
Wer Taten wie in Nizza verhindern will, müsste vor allem die Versäumnisse der Einwanderungspolitik unter die Lupe nehmen. Am Anfang misslungener Integration – und als solche darf man Ghettobildung, Diskriminierung, Aufstand in den Banlieues und vor allem die massenmörderischen Terror- und Amok-Attacken franko-arabischer Jugendlicher gegen die Mehrheitsgesellschaft lesen – stehen Gewalt und Krieg. Wenn der französische Islam- und Sozialwissenschaftler Gilles Kepel Recht hat, ist das mythologische Referenz-Ereignis für alle Dschihadisten im Land der Algerien-Krieg von 1954 bis 1962. Die koloniale Vergangenheit ist also längst nicht vergangen, ihre Schatten verdunkeln die Gegenwart. Kepel verortet den Beginn der gescheiterten Integration mit dem „Marche des Beurs“ gut 20 Jahre nach Beendigung des Krieges 1983 – eine Art Prozession arabischer Franzosen durch die Städte des Landes, die am Elyseé-Palast endete. Der damalige Staatspräsident François Mitterand hatte als Innenminister zuvor den Spruch geprägt, gegen die algerische Befreiungsbewegung FLN gebe es nur ein Mittel: Krieg. Gut 20 Jahre später, 2005, sprach Nicolas Sarkozy, damals auch Innenminister, bei Unruhen in den Pariser Banlieues von den Beurs als „Lumpengesindel“. Auf dem Humus empfundener Demütigung aber wachsen gewaltbereite Menschen, die sich als Verlierer begreifen und dann, „kurzfristig“, religiös radikalisieren; einheimische Einzeltäter, die sich an der Gesellschaft rächen und ihre Rache heilsgeschichtlich bemänteln. Jeder Amokläufer kann sich heute für seinen „erweiterten Suizid“ neuerdings auf Allah berufen, um seine Tat durch höhere Weihen zu legitimieren.
In den Vororten der großen Städte, sagt Kepel, gebe es heute eine Trennung zwischen Einheimischen und Einwanderern. Die Muslime lebten nach ihren eigenen Regeln, man sehe keine Frau, die nicht verschleiert sei, während des Fastenmonats Ramadan esse niemand in der Öffentlichkeit, radikale Prediger nähmen großen Einfluss auf die Jugendlichen. Prägend für die dritte Generation von Dschihadisten, die laut Kepel die Anschläge in Paris 2015 verübt hätten, sei die Initiative des Syrers Abu Musab al-Suri für den „globalen islamischen Widerstand“ gewesen. Al-Suris Aufruf an die Muslime, sich in den Gastländern zu erheben und die „Feinde des Islam“ anzugreifen, 2005 formuliert und als Video ins Internet gestellt, sei der Auftakt zur religiös konnotierten Legitimation des Kampfes gewesen.
Selbst wenn man keinerlei Verständnis für diese Art Kampf aufbringt, muss man doch erkennen, dass misslingende Integration immer auch das Resultat fehlender Sozialpolitik ist. Hohe Arbeitslosigkeit und schwaches Wirtschaftswachstum schaffen den Nährboden für Gewalt: Wer nichts hat, hat auch nichts zu verlieren. Die Kinder der französischen Einwanderergeneration haben keine oder nur sehr wenige Chancen eines sozialen Aufstiegs. Ob jahrelange Kopftuchdebatten oder Burka-Verbot: Nichts kann darüber hinwegtäuschen, dass ein Pass-Franzose heute eben noch lange kein ebenbürtiger Franzose ist. Die République hat ihre „beurs“ – junge Franzosen mit muslimischem Migrationshintergrund – jahrzehntelang allein gelassen.
Die Politik nachhaltiger sozialer Prävention könnte ein linkes Projekt in Frankreich werden.
Statt Bellizismus wäre soziale Prophylaxe das weitaus klügere Programm. Die beste und nachhaltigste Sicherheitsgarantie für eine Gesellschaft sind nicht schwer bewaffnete Polizei und aufgerüstetes Militär, sondern sozialer Friede. Das ist keineswegs sozialromantisch, sondern durch Studien belegt. Demnach profitieren von frühkindlichen Betreuungsangeboten vor allem Kinder mit Migrationshintergrund. Langzeitstudien aus den USA zeigen, dass die öffentliche Hand für jeden in soziale Belange investierten Dollar das bis zu Siebenfache zurück erhält: Gezielt geförderte Kinder leben nicht von Sozialhilfe und werden seltener kriminell.
Die Politik nachhaltiger sozialer Prävention könnte ein linkes Projekt in Frankreich werden, wenn sich die politische Linke nicht durch heillose Zersplitterung selbst lahmlegen und damit der Rechten de facto kampflos die Militarisierung des Staates überlassen würde.
Denn mit solchen Forderungen kann man eben keinen Wahlkampf machen und das ist das Problem. Nicht nur ist kein Geld da für Sozialmaßnahmen (als wenn die Aufrüstung des Sicherheitsapparates nichts kosten würde); vor allem aber gibt es niemanden, der sich derartiges auf die politische Agenda schreiben würde. Sicher nicht Marine Le Pen und auch nicht Nicolas Sarkozy. Aber eben auch niemand aus der französischen Linken, wobei hinzuzufügen ist, dass Ministerpräsident Manuel Valls und Finanzminister Emmanuel Macron für französische Linke sowieso nicht als Linke durchgehen und François Hollande der unbeliebteste Präsident aller Zeiten ist. In einer kürzlich veröffentlichten Umfrage des Ifop-Instituts rangiert Hollande mit 73 Prozent an der Spitze aller Personen, die die Franzosen unter keinen Umständen als neuen Präsidenten sehen wollen, gefolgt von Sarkozy mit 66 Prozent und Marine Le Pen mit 63 Prozent. Man schluckt bei diesen Zahlen. Denn die Chance, dass es eine(r) der drei trotzdem wird, ist recht hoch. Alternativen sind kaum in Sicht.
Über den 38-jährigen smarten Macron, der mit seiner neuen Bewegung „En Marche“ Hollande parteiintern Konkurrenz machen wollte, wird gespottet, seine Bewegung sei eher „en panne“. Das Problem von Frankreich ist daher nicht nur der Terror. Das Problem ist, dass schlichtweg niemand da ist, um sich des Terrors als Herausforderung angemessen, nachhaltig und ohne patriotische Kapriolen anzunehmen.
14 Leserbriefe
Nizza war nach Ansicht der Autoren kein Terror, bzw. setzen sie nur suggestiv ein Fragezeichen. Meinen die Autoren, dass es ein Ausschlag in der Verkehrsstatistik war? An einem Feiertagsabend 86 Verkehrstote an der Strandpromenade und über 300, die dort im Straßenverkehr verletzt wurden. Selten so eine ideologisch verbrämte, sonderbare Analyse gelesen.
Was löst dann den islamistischen Terror in einer Reihe von nahöstlichen Staaten - zum Beispiel auch in Saudi-Arabien, das nie eine Kolonie war - aus?
Anstatt effiziente Massnahmen der frz. Behörden gegen die Terroristen der IS zu kritisieren, sollte die Autoren die Realitâten in Deutschland wahrnehmen. Die sind aber wirklich trostlos.
Und vor allem heute ist die Gefahr der allgegenwärtigen AKP nicht mehr zu übersehen.
Und ausserdem: in Frankreich werden keine Asylantenheime angezündet.
Cordialement.
Der simple Ansatz "mehr desselben" (-> P. Watzlawicks Buch >Anleitung zum Unglücklichsein<) - mehr Geld, mehr Sozialarbeiter, mehr Integrationsangebote, usw. als Antwort auf wachsende Parallelgesellschaften in allen westeuropäischen Ländern - ist blind für die Realität und ignoriert die Möglichkeit, daß sich viele Muslime vielleicht gar nicht integrieren wollen.
Wer jedoch einwandert, hat auch eine Bringschuld.
Muslimische Familien wollen nicht, dass ihre Kinder, bevor es sich überhaupt nicht mehr vermeiden lässt, vor der Grundschule in Kontakt mit deutschen Kindern kommen.
Da ist ein Fehlstart in der Schule vorprogrammiert.
Sorry, da ist eine Bringschuld.
Sorry, wer einwandert, muss liefern, und darf sich nicht in die soziale Hängematte hängen, einen zweiten Pass haben, und fährt dann auch noch Köln, um für Erdogan zu demonstrieren.
Frankreich wie auch Deutschland müssen sich fragen lassen, wie verteilen wir denn unsere Steuergelder.?Wieso die ständig hohen Ausgaben im Militärbereich?
Krieg beginnt bereits auf den Strassen.
Gewalt erzeugt nur Gegengewalt.
Lösung beinhaltet, sich die Ursachen für diese Aggressionen zu verdeutlichen und hier entsprechende Alternativen anzubieten
Manfred Fischer
Manfred Fischer
Ich habe in muslimischen Ländern gearbeitet - auch in Saudi Arabien - ich möchte mich auf europäischen Straßen als blonde Frau sicher bewegen dürfen und allen anderen Frauen in Deutschland, so wie in Frankreich ins Gesicht schauen dürfen.
Wo führt diese kollektive Verdrängung hin?
Christa Wolf schrieb in ihrer Kassandra: Wann der Krieg beginnt, das wissen wir. Aber wann beginnt der Vorkrieg?
Gisela Steineckert griff den Gedanken so auf: "Ehe der Krieg beginnt, wird vorher das Volk verarmt, bis jeder die Feinde schlagen muss, und glaubt, das sei der Armut Schluss."
Und das Schlimme ist - im sozialen Elend verrohen die Menschen immer mehr - - man(n) frau hat nichts mehr zu verlieren.
Der Mensch mit seinen eigentlichen berechtigten Bedürfnissen, bleibt dabei auf der Strecke .
Und es gilt hierbei immer noch die altbekannte These - Frustationen erzeugen Aggressionen. Und Aggressionen = Frustationen
Hinzu kommt noch, dass die großen Religionen immer noch Abtrennungen bewirken.
Mehr oder weniger bewegen wir uns alle in dieser Zerrissenheit, die bis hin zu unserem Walten, wo bewusst oder unbewusst GeWALT zustande kommen kann.
Manfred Fischer