Es war eigentlich nie wirklich klar, was die Bezeichnung der „privilegierten Partnerschaft“ für die europäisch-türkischen Beziehungen konkret bedeutete. Jetzt wo Europa der Türkei Milliarden überweist, um die syrischen Flüchtlinge von seinen Grenzen fern zu halten, lohnt sich ein Blick darauf, wie sich diese schwammige Bezeichnung auf die Politik ausgewirkt hat.

Während in Europa der Begriff sehr nützlich erschien, um den Balanceakt zwischen offiziellen Beitrittsverhandlungen und Zweifeln an einer tatsächlichen Vollmitgliedschaft der Türkei in weiten Teilen der Bevölkerung und Politik zu meistern, wurde die Annäherung an Europa in der Türkei vor allem von der AKP-Regierung dazu genutzt, ihre eigene Machtbasis im Land auszubauen. Sie nutzte den von der EU unterstützten Demokratisierungsprozess, um sich ihrer Konkurrenten im türkischen Regierungssystem nach und nach zu entledigen. In den 1990er Jahren galt das Militär noch als starker politischer Akteur, der insbesondere die instabilen Regierungen für den eigenen Machtanspruch zu nutzen wusste. Die stabile AKP-Alleinregierung entzog ihm diese Möglichkeit und konnte Reformen einleiten, die den Einfluss des Militärs schrittweise zurückdrängten und sogar dessen Putschdrohung 2007 verpuffen ließen. Nachdem der erste wichtige Vetospieler niedergerungen wurde, konnte ein weiterer wichtiger Spieler auf demokratischem Weg vereinnahmt werden: Das Amt des Staatspräsidenten.

Spätestens mit Beginn der zweiten AKP-Legislaturperiode 2007 und der Präsidentschaft Abdullah Güls (AKP) wandte sich die Regierung von Recep Tayyip Erdogan rhetorisch von der EU ab und konzentrierte sich auf eine neo-osmanische Außenpolitik mit dem Schwerpunkt Naher Osten. Diese „Trennung“ schien keinen der beiden Partner zu belasten. Die Türkei ist längst nicht mehr auf dem Pfad der Demokratisierung, sondern auf dem Weg in Richtung Autokratie erneut mit der Legitimation der EU.

Infolge der Flüchtlingsbewegung hat die Türkei von Angela Merkel eine neue europäische Rolle zugewiesen bekommen: die Rolle des Türstehers. Die Türkei ist für syrische Flüchtlinge das Tor zu Europa, welches Erdogan nun schließen soll. Was allerdings hinter diesem verschlossenen Tor passiert, interessiert Europa nicht. Anders ist nicht zu erklären, dass Merkel kurz vor der Wahl Erdogan besuchte und ihm damit mitten im Wahlkampf internationale Legitimation verlieh. Auch die verzögerte Veröffentlichung des EU-Kommissionsberichts, der den türkischen Demokratisierungsprozess kritisiert und erst nach der Wahl publiziert wurde, hat einen faden Beigeschmack.

Angesichts der autokratischen und bürgerkriegsähnlichen Zustände, die in der Türkei herrschen, ist die politische Nähe zwischen der EU und der Türkei schwer nachzuvollziehen. Seit Monaten herrschen im Südosten der Türkei Ausgangssperren, die den Widerstand der Bevölkerung hervorrufen, was wiederum die türkische Regierung dazu veranlasst, mit Gewalt zu reagieren und Tode innerhalb der eigenen Bevölkerung billigend in Kauf zu nehmen. Es sind aber nicht nur die türkischen Streitkräfte, sondern vor allem die türkische Regierung, die martialische Töne anschlägt. „Wir werden jedes Haus nach und nach säubern“, „Eure Gräben werden eure Gräber“, so Ministerpräsident Ahmet Davutoglu in Richtung der kurdischen Bevölkerung im Südosten der Türkei. Diese Art Rhetorik wurde bereits im Wahlkampf im November benutzt, in der Davutoglu verkündet hatte, man habe die AKP zu wählen, sofern man nicht möchte, dass wieder die „weißen Toros“ auftauchen. In den 1990er Jahren galt der „Toros“ als der „Dienstwagen“ des türkischen Geheimdienstes, der damit beauftragt war, politisch unliebsame Personen „verschwinden zu lassen“. Das war eine offenkundige Drohung gegen das eigene Volk, die eher an Diktatoren als an demokratischen Wahlkampf erinnert.

Die EU reagiert kurzfristig, ohne zu bedenken, dass ein repressiver Staat mittel- bis langfristig selbst Flüchtlinge produziert.

Es hört jedoch nicht bei der Bedrohung des politischen Gegners auf, sondern dehnt sich auf die Presselandschaft aus. Zwei Journalisten, die die lange vermutete Verbindung zwischen der türkischen Regierung und dem sogenannten Islamischen Staat (IS) journalistisch aufgedeckt haben, wurden wegen des Verdachts auf Landesverrat festgenommen und sitzen in Untersuchungshaft. Darüber hinaus müssen sich nahezu täglich Gerichte mit Klagen befassen, die aufgrund vermeintlicher Beleidigungen des Präsidenten Erdogan erhoben wurden.

Einem europäisch-aufgeklärten Freiheits- und Demokratiebegriff widerstreben die türkischen Entwicklungen, und einer Zivilmacht, wie sich die EU gerne nennt, steht eine enge Kooperation mit einer klar autoritären Türkei nicht gut zu Gesicht. Realpolitisch mag man gerne argumentieren, dass, um die Flüchtlingsbewegung in den Griff zu bekommen, die Türkei eine wichtige Rolle spielt, und sie ja selbst rund zwei Millionen Flüchtlinge „verwaltet“. Es darf jedoch nicht vergessen werden, dass, wenn Europa vor repressiven Staaten nicht nur die Augen schließt, sondern sie auch noch, wie im Falle der Türkei, mit Finanzspritzen und der – zumindest verbalen – Offensive einer Beitrittsperspektive honoriert, sie ihre eigenen Ideale und Werte verrät. Sie reagiert kurzfristig, ohne zu bedenken, dass ein repressiver Staat mittel- bis langfristig selbst Flüchtlinge produziert. Schließlich missachtet sie die katastrophale humanitäre Lage der Flüchtlinge in der Türkei, denen mangels Perspektivlosigkeit nicht viel übrigbleibt, als in der Türkei ein trauriges Dasein zu fristen, in der Hoffnung, sich gen Europa aufmachen zu können. Der Plan Europas, durch finanzielle Zuwendungen die Lage der Flüchtlinge zu verbessern, wird nicht aufgehen. Denn es gibt zum einen keine Garantie, dass das Geld tatsächlich dort ankommt. Zum anderen wird es an der Lage der Flüchtlinge nichts ändern, die in ihrer Mehrheit nach Europa wollen und die Türkei lediglich als Transitland betrachten. Es sollte schließlich die Frage erlaubt sein, wie eine Regierung wohl mit ausländischen Flüchtlingen umgeht, wenn sie selbst ihre eigene Bevölkerung so brutal behandelt.