Über die Jahrzehnte wurde auf dem Weltwirtschaftsforum (WEF) in Davos ein euphorisches Bild der Globalisierung vermittelt und gefeiert, das rosige Zeiten für alle versprach. Innovationen, die Deregulierung der Finanzmärkte, die Entfesselung der Marktkräfte, die technologische Vernetzung und ein besserer Wissensaustausch würden nicht nur neues Wachstum bringen, sondern auch die Unterschiede in der Weltwirtschaft nivellieren und Ungleichheit abbauen. Und lange Zeit lief es auch ideologisch gut für die globalen Wirtschaftseliten. Das Ende der Blockkonfrontation und die Integration von immer mehr Ländern in die globale Ökonomie, der Aufstieg kleiner und großer Schwellenländer, ein enormer technologischer Schub, die weitere Ausdifferenzierung der internationalen Arbeitsteilung und eine wachsende und prosperierende Mittelklasse in den Schwellenländern schien zu bestätigen, was in Davos schon lange vorgedacht wurde.

In den letzten Jahren wurde die Luft für die Verfechter dieses Globalisierungsentwurfs jedoch merklich dünner. Zwar sah sich das WEF bereits in den 1990er Jahren der Kritik globalisierungskritischer Bewegungen ausgesetzt. Mit der Gründung des Weltsozialforums im Jahr 2001 erhielt es sogar seinen eigenen politischen Antipoden. Doch erst die globale Finanzkrise 2007/2008 und die „Nahtod-Erfahrung“ (Joseph Stiglitz) des bestehenden Systems stürzten das Forum und ihre Protagonistinnen in eine Identitätskrise. Seitdem ist Schadensbegrenzung angesagt. Das Forum hat viel an Ausstrahlung verloren. Die heißeren Debatten mit mehr Politprominenz werden nur wenige Tage später auf der Münchner Sicherheitskonferenz geführt, wo nicht der große Gleichmacher Globalisierung, sondern „the coming anarchy“ auf dem Programm steht. Das Motto von Davos, „verpflichtet, den Zustand der Welt zu verbessern“, oder was kann die Wirtschaft zur Rettung der Welt beitragen, wurde schal in einer Zeit, in der es auch darum ging, die Welt vor der Wirtschaft zu retten.

Das Forum hat viel an Ausstrahlung verloren. Die heißeren Debatten mit mehr Politprominenz werden später auf der Münchner Sicherheitskonferenz geführt.

Das wurde nicht zuletzt im letzten Jahr deutlich, als das Thema Ungleichheit auch in Davos auf die Agenda drängte und das WEF sich mit den Konsequenzen seiner politischen und wirtschaftlichen Ausrichtung auseinandersetzen musste. Konsens war, dass die groteske Reichtumskonzentration auch die weitere wirtschaftliche Entwicklung gefährdet, und der World Risk Report des WEF identifizierte Ungleichheit als ein Hauptrisiko für die Weltwirtschaft. Ein Signal, die Bekämpfung von Ungleichheit umfassend anzugehen, ging vom WEF jedoch nicht aus. Zu viel Veränderung, um den Zustand der Welt zu verbessern, wollten sich die „Davos men“ (Samuel Huntington) dann doch nicht zumuten. Die neueste Oxfam-Studie zu Ungleichheit zeigt, dass der Leitspruch der amerikanischen Occupy-Bewegung „Wir sind die 99 Prozent“ global keine Übertreibung mehr ist und wir in einer veritablen Ökonomie für das eine Prozent leben: ein Prozent der Weltbevölkerung besitzt mehr als die restlichen 99 Prozent zusammen. Nachdem 2014 noch die 80 reichsten Personen so viel besaßen wie die ärmere Hälfte der Menschheit, waren es 2015 nur noch 62 – und der Scheitelpunkt der Ungleichheit scheint noch nicht erreicht.

Oft ist das vorgegebene Thema in Davos nur die Begleitmusik zu den aktuellen Fragen der globalen Agenda. Mit Blick auf die Herausforderungen von Flucht und Migration, den Verfall des Ölpreises und einer lauernden nächsten globalen Wirtschaftskrise angesichts der Schwäche Chinas und anderer Schwellenländer hat das Hauptthema „Wie lässt sich die Vierte industrielle Revolution bewältigen?“ auch in diesem Jahr starke Konkurrenz. Doch scheint sich das Forum damit eine kleine Verschnaufpause gönnen zu wollen – raus aus dem Krisenmodus und zurück auf vertrautes Terrain und zu den großen Entwürfen. Die vierte industrielle Revolution, so Klaus Schwab, Gründer des WEF, setzt an der digitalen dritten Revolution an, unterscheidet sich von dieser aber durch die Schnelligkeit von Innovationen, ihrer Reichweite und der weiteren Verschränkung verschiedener Technologien. In seinem Buch „The Fourth Industrial Revolution“ diskutiert Schwab die wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Bedeutung, aber auch die Ambivalenzen des kommenden technologischen Fortschritts. Und er ruft Unternehmen, Politik, aber auch die Gesellschaft dazu auf, zu Gestaltern und nicht zu Getriebenen dieses Wandels zu werden. Man darf gespannt sein, was von den durchaus differenzierten Überlegungen übrig bleibt, wenn sie im WEF auf die Mas, Schmidts und Sandbergs, die Vertreterinnen und Vertreter der Monopolisten des Informations- und Internetzeitalters treffen. Der vom WEF vorgelegte Bericht „The Future of Jobs“ verbleibt in seinen Fragen und Antwortstrategien jedenfalls wesentlich im Modus des „Mehr-oder-weniger-weiter-so“ und spiegelt damit die bemerkenswerte Lücke zwischen dem immer wieder zum Ausdruck gebrachten globalen Konsens, dass „business as usual“ keine Option mehr sei, und dem tatsächlichen Mangel an transformativem Potenzial der politischen Entwürfe, die daraus folgen.

Die wirtschaftliche Entwicklung der letzten 30 Jahre hat beides hervorgebracht: einen enormen technologischen Schub und extreme Ungleichheit.

Die wirtschaftliche Entwicklung der letzten 30 Jahre hat beides hervorgebracht: einen enormen technologischen Schub und extreme Ungleichheit. Fragen von Technologie und Gleichheit sind eng miteinander verwoben: Wie werden Effizienzgewinne verteilt? Wer hat Zugang zu Technologie? Wessen und welche Bedürfnisse werden durch Technologie befriedigt? Und wer darf darüber eigentlich entscheiden? Die Ergebnisse des vor wenigen Tagen veröffentlichten Weltentwicklungsberichts der Weltbank zum Thema „Digitale Dividenden“ legen nahe, dass die bisherige Entwicklung zumindest ambivalent ist. Denn einerseits breiten sich digitale Technologien auch in den Entwicklungsländern schnell aus: Drei Viertel der Weltbevölkerung haben Zugang zu modernen Kommunikationstechnologien, mehr Haushalte verfügen über Mobiltelefone als über sauberes Trinkwasser und Elektrizität. Das Smartphone dürfte in wenigen Jahren zu einem universellen Produkt der Menschheit werden – dem ersten der Tech-Industrie. Andererseits fällt die digitale Dividende, das heißt Entwicklungserfolge, die damit verbunden sein könnten, wie Wachstum, Arbeitsplätze und bessere öffentliche Dienstleistungen, bisher bescheiden aus. Die Vorteile der digitalen Technologien kommen vor allem den wohlhabenderen und besser gebildeten Schichten zugute. Die Gründe hierfür sind die weiter bestehende digitale Kluft, mangelnde Bildung, aber auch schlechte Regulierung und die Tendenz zur Monopolbildung. Auch jenseits der Entwicklungsländer können uns die heutigen Technologien auf unserem Weg ins „zweite Maschinenzeitalter“ (Erik Brynjolfsson/Andrew McAfee) problematische Verteilungseffekte bescheren: indem durch Automatisierung massiv Routinejobs vor allem in den Industrie- und Schwellenländern vernichtet werden, die Ungleichheit zwischen Hoch- und Geringqualifizierten verstärkt oder eine „Ökonomie der Superstars“ befördert wird, in der einzelne Personen ganze Märkte beherrschen.

Gerade die politische Linke sollte weniger Angst vor Apparaten haben, sondern über den gesellschaftlichen Einsatz von Technologie nachdenken.

Die Einführung von neuen Technologien war stets ambivalent und die Kehrseiten des technologischen Fortschritts werden deutlicher, nicht nur mit Blick auf Ungleichheit. Sie zeigen sich auch in allgegenwärtiger Überwachung, der Verletzung der Privatsphäre, ethisch komplexeren Fragen in der Biotechnologie und in unsicheren technologischen Folgeabschätzungen. Blind darf man also nicht sein gegenüber technologischen Innovationen, aber genau so wenig sollte man sich ein Denkverbot auferlegen, wie das gesellschaftliche Potenzial von Technologie entfaltet werden kann und welche Bedingungen es dafür geben muss. Denn Technologie ist keine autonome Kraft, sie wird von Menschen entwickelt und eingesetzt. Sie kann Herrschaft und Gewinnmaximierung zementieren oder Menschen Arbeit, Leben und Teilhabe erleichtern. Kurz gesagt: Dass der Maschinenkapitalismus nicht gerade hoch im Kurs steht, liegt nicht an den Maschinen. Deshalb sollte gerade die politische Linke weniger Angst vor Apparaten haben, sondern über den gesellschaftlichen Einsatz von Technologie nachdenken. Sie muss diese Debatte aus den derzeit weitgehend geschlossenen Zirkeln von Regierung und Wirtschaft in die Gesellschaft tragen, denn da gehört sie hin. Es kann nicht darum gehen, das aktuelle Entwicklungsmodell mit ein paar Innovationen aufgefrischt bloß zu verlängern, wie es der Begriff Industrie 4.0 suggeriert. Vielmehr müssen mehr Orte geschaffen werden, in denen die politische auf die technologische Garagen-Mentalität trifft; Orte, wo Technologie an den Bedürfnissen der Menschen ausgerichtet wird, wo die Gebrauchsseite der Dinge im Vordergrund steht, wo Ingenieure und Entwicklerinnen für sinnstiftende technologische Projekte gewonnen (und bezahlt) werden und sich ein alternatives Produktionsverhältnis entwickelt. Die weitere technologische Durchdringung der Gesellschaften schafft die Voraussetzungen für diese zweite Ökonomie. Aber die Verhältnisse, in denen sie gedeihen kann, müssen erkämpft werden. Vielleicht können dann, wie Dietmar Dath in seinem Essay „Maschinenwinter“ schreibt, die Maschinen befreit werden, um sich bei den Menschen zu revanchieren. Auf Davos sollten wir dabei nicht hoffen.