Anfang November 2014 veröffentlichten Journalisten, wie Luxemburger Steuerbehörden mit vielen multinationalen Unternehmen sogenannte „Sweetheart Deals“ vereinbart hatten. Durch diese Steuervorbescheide, eingefädelt von der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft PricewaterhouseCoopers (PwC) und ihren drei großen Konkurrenten, wurde eine bis dahin unbekannte Spielart der Steuervermeidung von 340 internationalen Konzernen ans Licht gebracht. Apple, Amazon, Heinz, Pepsi, Ikea und Deutsche Bank und vielen anderen gelang es dadurch, die Steuerzahlungen auf ihre Luxemburger Gewinne drastisch zu drücken – teilweise auf unter ein Prozent. Diese extrem – mutmaßlich in den meisten Fällen widerrechtlich – niedrigen Steuersätze gehen einher mit einer massiven Gewinnverlagerung der jeweiligen Unternehmen zu Lasten der Nachbarländer, die sich hohen Steuerausfällen gegenübersehen. So befeuern diese Steuerabsprachen einen destruktiven Steuersenkungswettlauf, bei dem sich Staaten gegenseitig das Steuersubstrat künstlich streitig machen. Künstlich ist diese Verlagerung deshalb, weil nur Papiergewinne, nicht aber echte wirtschaftliche Substanz verlagert werden. Inzwischen hat die Europäische Kommission in vielen solcher Fälle entschieden, dass es sich nach EU-Recht um illegale staatliche Beihilfe handelt.
Auch zwei Mitarbeiter des Unternehmens PwC, Antoine Deltour und Raphaël Halet, waren der Ansicht, dass diese Deals wenn nicht illegal so zumindest unmoralisch sind und spielten über 28 000 Seiten Dokumente mit 548 solcher „Sweetheart Deals“ in die Hände eines Journalisten – ohne dass dabei Geld floss. Wir verdanken diesen beiden Whistleblowern und ihren „LuxLeaks“, dass Steuervermeidung von multinationalen Konzernen weder aus der öffentlichen Debatte noch von der politischen Tagesordnung mehr wegzudenken ist. Nicht zuletzt beschlossen die EU-Finanzminister infolge der Enthüllungen im Eilverfahren handfeste Reformen: einen EU-weiten automatischen Austausch über Steuervorbescheide.
Den Enthüllern wurde wegen Geheimnisverrats und Diebstahls in Luxemburg der Prozess gemacht.
Den Enthüllern wurde jedoch wegen Geheimnisverrats und Diebstahls in Luxemburg nach einer Strafanzeige von PwC der Prozess gemacht. Am 29. Juni 2016 wurden Deltour und Halet vom Luxemburger Bezirksgericht zu einer Gefängnisstrafe auf Bewährung von zwölf beziehungsweise neun Monaten sowie einer Geldstrafe von 1500 respektive 1000 Euro verurteilt. Der Journalist wurde freigesprochen. Dass dieser Prozess einen überaus symbolischen Wert hat, wird auch daran deutlich, dass PwC von ihren Ex-Mitarbeitern einen Schadenersatz von einem Euro verlangt. In diesem Prozess geht es nicht um tatsächliche Entschädigung, sondern darum, juristisch und gesellschaftlich die Schuld und das Fehlverhalten bei den Whistleblowern zu verorten.
Das Signal, das von diesem Urteil ausgeht, ist verheerend. So wird einerseits das Fehlverhalten der beteiligten Firmen oft mit dem Hinweis auf dessen vermeintliche Legalität weggewischt – was spätestens im Zuge der Entscheide, dass es sich bei solchen Absprachen um illegale Beihilfe handelt, als überholt gelten darf. Auch bekamen entscheidende Drahtzieher dieser Deals anders als deren Enthüller keine ernsthaften Konsequenzen zu spüren. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker stellte sich lediglich einer unangenehmen Befragung im TAXE-Sonderausschuss.
Weitaus schlimmer ist aber das Signal an weitere potenzielle Whistleblower. So meint auch Deltour, dass es insbesondere in der Finanzbranche viele Menschen gebe, die das Gefühl haben, unmoralisch zu handeln. Wenn nun Zivilcourage und der Einsatz für das Gemeinwohl mit Geldstrafen, unkalkulierbaren Schadensersatzansprüchen oder sogar Freiheitsentzug bestraft werden, erhöht das die Hemmschwelle für das Whistleblowing enorm. Damit Partikularinteressen von Unternehmen und Steueroasenstrategien nicht das öffentliche Interesse untergraben, wäre ein Schutz der Hinweisgeber notwendig. Erst dann könnten diese ihrer Funktion als Regulierer letzter Instanz künftig ohne das Risiko, dadurch ihre gesamte Karriere, Freiheit und wirtschaftliche Existenz aufs Spiel zu setzen, nachkommen.
Dies stabilisiert eine Kultur des Schweigens und Hinnehmens und hebt partikulare Unternehmensinteressen über öffentliche Interessen.
Leider ist mit der frisch verabschiedeten EU-Richtlinie zu Geschäftsgeheimnissen genau das Gegenteil geschehen. So sieht diese Richtlinie vor, dass nun alleine Unternehmen sogar rückwirkend bestimmen können, was Geschäftsgeheimnisse sind. Somit kann jede beliebige Information willkürlich als Geschäftsgeheimnis deklariert werden. Auch wird die Beweislast umgekehrt. Um Schadenersatzklagen zu entgehen, müssen Whistleblower beweisen, dass die von ihnen aufgedeckten Informationen zur Aufdeckung einer Straftat dienten oder ihr Handeln zum Schutz des öffentlichen Interesses war. Auch dies ist ein fatales Signal an potenzielle Hinweisgeber, deren Skrupel nun noch größer sein müssen, bis sie es wagen, Missstände an die Öffentlichkeit zu bringen. Dies stabilisiert eine Kultur des Schweigens und Hinnehmens und hebt partikulare Unternehmensinteressen über öffentliche Interessen wie Umweltschutz, Arbeitnehmerrechte und Steuergerechtigkeit. Diese Unkultur zerstört fairen Wettbewerb und Demokratie, die beide von gegenseitigem Vertrauen, Transparenz und Rechtsstaatlichkeit leben.
Im Fall von aggressiver Steuervermeidung von Unternehmen müssten also entweder Whistleblower ausreichend geschützt werden, oder diese Art individueller Steuerabsprachen dürfte gar nicht erst verheimlicht werden. Es gibt gute Gründe, warum Informationen zu Steuerdeals, Steuerplanung und Konzernbilanzen gar nicht erst geheim sein dürften. Viele NGOs fordern seit langem öffentliche länderspezifische Konzernbilanzen, durch die offengelegt werden soll, wo die Konzerne wirtschaftlich aktiv sind, Gewinne erzielen und wo sie ihre Steuern zahlen – oder eben nicht zahlen. Nach Plänen der OECD sollen diese Berichte lediglich den Steuerbehörden und nicht der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Dann wäre die Öffentlichkeit weiterhin auf Whistleblower auch aus der Verwaltung angewiesen, falls politisch beeinflusste Steuerbehörden mit einzelnen Steuerzahlern neue Schlupflöcher ausklüngeln.
Doch neben dem gesetzlichen Schutz von Hinweisgebern fordert unter anderem auch der Verein „Whistleblower-Netzwerk e.V.“ einen Kulturwandel. Denn die größten Hürden für das Whistleblowing sind oft kultureller Art und ergeben sich aus unserem Umgang mit Kritik und Problemen. So zeigt das berühmte Milgram-Experiment – auf Anordnung eines Versuchsleiters fügten Menschen anderen Menschen schmerzhafte bis scheinbar tödliche Stromstöße zu –, wie schnell durchschnittliche Personen bereit sind, autoritären Anweisungen zu folgen, selbst wenn sie in direktem Widerspruch zu ihren eigenen ethischen Maßstäben stehen. Unser modernes Leben vollzieht sich meist in Organisationen, die mittels Hierarchien solche Gehorsamsstrukturen erzeugen. Gleichzeitig konzentrieren sich Organisationen immer auf ihre eigenen spezifischen Interessen, die oft nicht im Sinne des Gemeinwohls sind und mit diesen bisweilen in Konflikt geraten.
Hinweisgeber müssen gegen starke Widerstände in ihren eigenen Organisationen aufbegehren.
Antoine Deltour hat das Glück, dass er viel Unterstützung aus der Öffentlichkeit erfährt. So haben bereits 65 Organisationen und 344 Personen ihm ihren Beistand zugesichert, und in der medialen Darstellung ist er ein Sympathieträger. Doch nicht alle Hinweisgeber haben solch positive Begleitumstände, sodass es ein gesellschaftlich und juristisch abgesichertes Whistleblowing braucht. Denn die Hinweisgeber müssen gegen starke Widerstände in ihren eigenen Organisationen aufbegehren und konkurrieren dann mit oftmals mächtigeren und angeseheneren Personen oder Organisationen um die Deutung der Wirklichkeit und Fakten.
Ein Hinweis auf einen Kulturwandel könnte sein, dass die BaFin, die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht, eine Hinweisgeberstelle eingerichtet hat. Diese Stelle soll per Post, E-Mail Telefon oder persönlich in Bonn Hinweise zu tatsächlichen oder möglichen Verstößen gegen aufsichtsrechtliche Vorschriften entgegennehmen. Da auch die BaFin weiß, dass Hinweisgeber negativen Konsequenzen ausgesetzt sind, können Hinweise auch anonym erfolgen. Unser Dank gebührt den bekannten und unbekannten Whistleblowern, die den Mut hatten und noch haben werden, unter enormen persönlichen und beruflichen Risiken Unrecht aufzudecken. Wären diese Taten nicht ein Bundesverdienstkreuz und einen Gesetzesvorstoß für ihren Schutz wert?
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