Der Dezember ist die Zeit der Geschenke und auch in Griechenland war es pünktlich zum Jahresende soweit. Alexis Tsipras gab den spendablen Nikolaus im Gewand des aufrechten Linken und verkündete, dass sogenannte Kleinrentner eine Sonderzahlung am 21. Dezember erhalten werden, damit auch sie sich ein fröhliches Fest leisten könnten. Dies sei, so der Premier in einer Fernsehansprache am 8. Dezember, „das Mindeste, was wir für die tun können, die seit 2010 ständige Kürzungen haben hinnehmen müssen. (…) Diejenigen, die die Bürden der Krise schultern mussten, sollen auch die ersten sein, die vom Aufschwung profitieren.“ Diese Zahlungen  sollen aus dem Primärüberschuss erfolgen, der in diesem Jahr deutlich über der Zielsetzung liegen wird. Die Gläubiger Griechenlands waren nicht ganz so begeistert von dieser Gabe, aber da Wolfgang Schäuble in Athen einen schlechteren Ruf hat als Knecht Ruprecht, war darüber niemand wirklich überrascht.

Nur wenige Tage nach der frohen Verkündung ging eine andere Meldung durch die Medien: Laut einer Studie des griechischen Gewerkschaftsinstituts INE-GSEE sind in Griechenland gut 350 000 Familien gänzlich ohne Einkommen, weil nach zwei Jahren Erwerbslosigkeit keine staatlichen Zahlungen mehr erfolgen. Ein Zusammenhang zwischen dem weihnachtlichen Rentnersegen und diesem Befund wurde in der Presse jedoch kaum  hergestellt. Dabei lohnt sich an dieser Stelle ein genauerer Blick. Denn an diesen von der Troika nicht oktroyierten Politiken zeigen sich die Prioritäten der „linken Regierung“ von Alexis Tsipras.

Von extremer Armut sind in Griechenland vor allem Familien betroffen, in der beide Eltern arbeitslos sind.

Die ersten Früchte des Primärüberschusses von 2016 sollen also den sogenannten „Kleinrentnern“ zugute kommen, all denjenigen, die weniger als 850 Euro Rente im Monat erhalten. Es ist unbestritten, dass es in dieser Gruppe Menschen gibt, die dringend einer Unterstützung bedürfen, ebenso aber auch solche, die diese nicht nötig haben. Denn bedacht wird sowohl der Bauer in Rente, der von weniger als 300 Euro im Monat leben muss, als auch die 55jährige Rentnerin mit 700 Euro im Monat, die drei Häuser vermietet und deren Mann noch berufstätig ist. Das Kriterium sozialer Gerechtigkeit sieht anders aus. Die Studie des Gewerkschaftsinstituts und andere Erhebungen machen noch klarer, wie sich die Problemlage darstellt:

  • Von extremer Armut sind in Griechenland vor allem Familien betroffen, in der beide Eltern arbeitslos sind.
  • Die Altersgruppe zwischen 18 und 29 ist am stärksten betroffen, die über 65jährigen am wenigsten.
  • Die Renten sind in der Krise gesunken, allerdings weniger stark als die Einkommen aus Beschäftigung im Privatsektor.
  • Rentner sind aber am stärksten von der Dysfunktionalität der öffentlichen Gesundheitsversorgung betroffen. Bei Empfängern kleiner Renteneinkommen vermeiden mehr als 17 Prozent eine notwendige Behandlung aus ökonomischen Gründen und gefährden damit ihre Gesundheit.

Welche Schlussfolgerung ergibt sich daraus? Rentnerinnen und Rentner, die weniger als 850 Euro im Monat an Rente bekommen, haben – wie fast alle anderen Griechen – unter der Krise gelitten. Allerdings stellen sie nicht pauschal die am stärksten bedürftige Gruppe. Dies sind vielmehr die zahlreichen Familien, die von Arbeitslosigkeit betroffen sind und deren Aussichten auf Besserung angesichts einer weiterhin bei 23 Prozent liegenden Arbeitslosenquote denkbar gering sind. Viele dieser Menschen werden zwar im Rahmen innerfamiliärer Solidarität durch die Renten der älteren Generation unterstützt, dies kann aber nicht Grundlage staatlicher Sozialpolitik sein. Gleichzeitig wird deutlich, dass die Einsparungen im Gesundheitsbereich die Kleinstrentner teilweise schwerer getroffen haben als die Rentenkürzungen.

Dabei geht soziale Gerechtigkeit verloren, auch wenn diese wie eine Monstranz von SYRIZA verwendet wird.

Die Sozialpolitik von Alexis Tsipras und seiner Linkspartei SYRIZA bezieht sich auf das 2014 vorgestellte Programm von Thessaloniki, dessen erste Priorität lautet: die „Bekämpfung der humanitären Krise“. Seine Politik gestaltet sich aber nach der gleichen Logik wie die der Vorgängerregierungen. Anstatt ein einheitliches Grundsicherungssystem einzuführen, das klare Einkommenskriterien aufweist und damit die objektiv Bedürftigen unterstützt, werden punktuell so genannte „Zulagen“ verteilt. Wie, wann und an wen dies erfolgt, hängt vom Gutdünken der jeweiligen Regierung ab. Ansprüche gegenüber dem Gemeinwesen bestehen so nicht, stattdessen setzt sich im Zweifel der durch, der sich im Geflecht aus Klientelismus und Wahlkalkül am besten bemerkbar macht. Dabei geht soziale Gerechtigkeit verloren, auch wenn diese wie eine Monstranz von SYRIZA verwendet wird.

So richtet sich Tsipras in seiner vorweihnachtlichen Barmherzigkeit kaum an diejenigen, die im Laufe der Krise ihre Lebensgrundlagen fast vollständig verloren haben. Er bedenkt mit den Rentnerinnen und Rentnern vielmehr den Teil der Bevölkerung, der sich durch drei Merkmale auszeichnet. Erstens sind sie im Zuge des demographischen Wandels die größte Bevölkerungsgruppe in Griechenland. Zweitens sind sie gut organisiert und lautstark mit Protesten im öffentlichen Raum präsent. Drittens sind sie die Gruppe, die (auch in Griechenland) am konsequentesten an Wahlen teilnimmt und ihre Stimme abgibt. Möglicherweise macht sie diese Kombination so bedürftig, dass sie nun bedacht werden müssen, denn das Thema Neuwahlen schwebt schon seit längerem im politischen Raum. Bei einer Partei, die ihre Vorstellung sozialer Gerechtigkeit zwar in lauten Parolen aber nie in konkreten Zahlen ausformuliert, ist eben auch Armut Interpretationssache. Weihnachten mit SYRIZA heißt offensichtlich, dass man besonderes Glück haben muss, um beim Nikolaus auf der Liste zu stehen.