Seit nunmehr über sechs Jahren treibt die Krise rund um Griechenlands Wirtschaft Europa um – sei es als Schuldenkrise, Eurokrise oder Griechenlandkrise. Bis Mitte 2015 dominierte noch die Auseinandersetzung zwischen Athen und seinen Gläubigern die Schlagzeilen, danach wurde sie von der europäischen Flüchtlingskrise überlagert. Das bedeutete aber nicht, dass die wirtschaftlichen und sozialen Probleme des Landes gelöst waren. Stattdessen musste die Regierung von Alexis Tsipras nicht nur ein äußerst anspruchsvolles Spar- und Reformprogramm unter hohem Druck durchziehen, sondern gleichzeitig fast eine Million Flüchtlinge, die über die Ägäis nach Europa einreisten, aufnehmen und registrieren. Mit Beginn des Frühjahrs 2016 und dem Abkommen zwischen der Türkei und EU vom März, erhält nun die wirtschaftliche Krise und die Umsetzung des Reformprogramms wieder mehr Aufmerksamkeit. Die schleppende Umsetzung des Vereinbarten, die Auseinandersetzung zwischen Athen, dem Internationalen Währungsfonds (IWF) und den europäischen Partnern, aber auch die Frage nach dem Schuldenschnitt werden in den kommenden Wochen die politische Agenda Europas und die Medien beschäftigen. Mit den dabei oft und gerne verwendeten Metaphern sind Griechenlandkenner und Altphilologen bestens vertraut, für alle anderen könnte ein – zugegebenermaßen unvollständiger – Auffrischungskurs hilfreich sein.
Sisyphos‘ Fels = Reformprogramm
Sisyphos, diese bekannte Figur der griechischen Mythologie, hilft uns in doppelter Hinsicht, die heutige Krise zu verstehen. Erstens soll er zu Lebzeiten ein Hallodri und Schlitzohr gewesen sein, der mit viel List und Geschick immer wieder dem Tod von der Schippe gesprungen ist. Der „Trickser-Grieche“ ist also mithin seit der Antike bekannt und hat einen Namen. Viel bekannter ist er aber zum zweiten durch die Sisyphos-Aufgabe geworden. Er war dazu verdammt, einen Fels den Berg hinaufzuwuchten, der jedes Mal kurz vor dem Gipfel wieder hinunterrollte. Damit dient er als Sinnbild für die Gegner des Reformprogramms, denn in ihren Augen verhalten sich Europa und der IWF wie die rachsüchtigen Götter, die das geplagte griechische Volk (Sisyphos) dazu verdammen, sinnlos einen Fels (vulgo das Reformprogramm) den Berg hoch zu tragen. Aber auch die Gläubigerseite sieht sich in der Rolle des Sisyphos, wobei dann Griechenland selbst zum Felsbrocken wird, der einfach niemals oben anlangen will.
Tantalos‘ Trauben = Schuldenschnitt
Ein anderer von den griechischen Göttern Gestrafter muss vor allem in Griechenland selbst als Metapher herhalten. Tantalos leidet ewigen Hunger und Durst, erreicht aber nie das Wasser, das ihm bis zum Hals steht oder die Trauben, die über ihm hängen. Der kundige Kenner des Griechenlandprogramms liest hier selbstredend Schuldenschnitt, Investitionen oder Wirtschaftswachstum statt Trauben und versteht, dass auch in diesem Fall die europäischen Hierarchen die Rolle der strafenden Gottheiten annehmen. Sie lassen die Griechen Tantalosqualen leiden, indem sie wahlweise Juncker-Pakete oder Schuldenschnitte vor ihren Augen tanzen lassen, die jedoch unerreichbar bleiben.
Augiasstall = Zustand Griechenlands
Der Augiasstall war die fünfte Aufgabe des Herakles, dessen Figur generell immer wieder herhalten muss, wenn irgendeiner der Beteiligten im Krisenmanagement seine herkulischen Anstrengungen hervorheben möchte. Aber der Augiasstall, dieser in mythischem Ausmaß verdreckte Ort, ist eines der beliebtesten Bilder für den Zustand, den die Troika in Athen vorgefunden hatte. Damit kann unterstrichen werden, was für drastische Maßnahmen nötig sind, um hier Ordnung zu schaffen, immerhin musste der mythische Held damals die Stallmauern einreißen und einen Fluss durchleiten, um den ganzen Dreck wegzuschaffen.
Hydra = Korruption
Ein weiteres beliebtes Bild aus der Sage des Herakles ist seine zweite Aufgabe: das vielköpfige Ungeheuer Hydra zu erlegen. So wie diesem Untier für einen abgeschlagenen Kopf sofort zwei neue nachwuchsen, sehen viele Betrachter das Phänomen der Korruption im Land. Es ist daher nicht mit den handelsüblichen Mitteln (damals Pfeil und Bogen unter Hinzuziehung des Schwerts) zu bekämpfen, sondern bedarf machtvollerer Instrumente. Das antike Vorbild brannte die Wunden aus und verhinderte somit eine Multiplikation der Häupter; wie das auf die Hydra der Korruption zu transponieren wäre, ist bisher noch unklar.
Odyssee = Eurokrise
Die Odyssee oder die Heimreise nach Ithaka ist zugegebenermaßen ein ausgetretener Pfad, den der damalige Ministerpräsident Georgios Papandreou zu Beginn der Krise vor dem Hintergrund einer idyllischen griechischen Insel in die Debatte einbrachte. Aber dieses Werk Homers ist in seinem bildnerischen Reichtum zu vielfältig, um ungenutzt zu bleiben. Die zehnjährige Irrfahrt des Odysseus (noch so ein tricksender Grieche) und seine Suche nach der Heimatinsel Ithaka ist eines der meist genutzten Sprachbilder der Eurokrise. Mal ist Griechenland in der Rolle des tapferen Helden, der mit Mut und Intellekt seinen Weg in die idyllische Heimat sucht und dabei von einäugigen Zyklopen, falschen Sirenengesängen und bösen Zauberinnen aufgehalten wird. Mal ist es Europa selbst, das auf den wilden Wassern der Weltwirtschaft versucht sich zu orientieren. Die Odyssee versorgt aber auch die eher Skeptischen mit reichlich Material. So wird das griechische System der Vetternwirtschaft mit dem Ruf der Sirenen verglichen, dem der tapfere Tsipras nun doch nicht widerstehen kann. Das Reformprogramm scheitert zwischen den beiden Ungeheuern Skylla (öffentliche Administration) und Charybdis (defizitäre Wirtschaft), und die heutigen Griechen erinnern vor allem dann an Odysseus, wenn sie mit List und Tücke ihr Blendwerk aufziehen, so wie es der homerische Held gegenüber dem später auch physisch geblendeten Zyklopen gemacht hatte.
Mit diesem mythologischen Rüstzeug im Hinterkopf kann das Wiederaufflammen der Verhandlungen zwischen Athen und seinen Gläubigern nun besser verfolgt werden. Natürlich bleibt es unvollständig, aber wer sich vom Schuldenschnitt als Zankapfel, der öffentlichen Administration als Achillesferse der Regierung und der Rolle des IWF als Kerberos verwirren lässt, dem bleibt nichts anderes übrig, als dann doch nochmal selbst in die griechische Mythologie hineinzulesen.
3 Leserbriefe
Man bekommt Lust , sich noch einmal in die Griechische Mythologie zu vertiefen , anstatt zu versuchen , den IWF zu verstehen , für den ich jetzt nicht abgewandelt die Schmäh-Verse auf den Herrn Erdogan bemühen möchte , weil ich sie nämlich gar nicht kenne .
Ich gestehe , mir fehlt das leichte morgenliche Blau des Athener Himmels , wie man es vom Balkon aus in Kessariani erblickt und sich dort von den Nachwehen der dunklen Zeiten in Deutschland erholt .