Als Greenpeace kürzlich Teile der Verhandlungsprotokolle über das europäisch-amerikanische Freihandelsabkommen TTIP bekannt machte, nahm die öffentliche Empörungsschleife unverzüglich Fahrt auf. Noch bevor kaum jemand die hunderte Seiten Mitschrift gelesen haben konnte, stand das Narrativ der Enthüllung fest: Die Amerikaner würden beinhart verhandeln und die Europäer über den Tisch ziehen. Im Ergebnis würden nicht nur die Umwelt-, Arbeits- und Sicherheitsstandards hierzulande abgesenkt. Europa mache auch für die US-Konzerne den Weg auf die heimischen Märkte frei. Blogosphäre und Medien, aber auch Parteien und NGOs waren sich am Tag nach den Enthüllungen in dieser Einschätzung einig. Abwägende Stimmen waren eher die Ausnahme oder hatten es schwer, Gehör zu finden.

 

Ob TTIP oder Panama Papers: die populistische Empörungswelle überrollt alle abwägenden Argumente.

Für den Verlauf von Debatten ist das Beispiel TTIP bei weitem nicht das einzige. Ähnlich verlief der öffentliche Diskurs auch zu den Panama Papers, in denen die Steuervermeidungsstrategien von Vermögenden unter tatkräftiger Mithilfe von Banken und Beratern offen gelegt wurden. Nur wer genau hinsah, bekam anfangs überhaupt mit, dass es sich hier nicht zwangsläufig um Steuerhinterziehung handelte, sondern zunächst erst einmal um die Ausnutzung von existierenden Steuerschlupflöchern. Zum echten Skandal wurden die Erkenntnisse der Panama Papers nur dann, wenn man der spekulativen Logik der Enthüller folgte, dass derjenige, der sein Geld zu einer Briefkastenfirma nach Panama schaffte, wohl etwas zu verbergen haben musste. Das eben ist aber Spekulation und kein harter Fakt. Keine Frage: Wer sein Geld ins Ausland verschiebt, mag dafür oft nicht die moralisch besten Gründe haben. Strafrechtlich relevant ist dieser Umstand jedoch damit noch lange nicht. Doch dieser feine, aber wichtige Unterschied ging erst einmal unter, weil die populistische Empörungswelle alle anderen Argumente überrollte.

In beiden Fällen hatten die enthüllenden Recherche-Allianzen nicht nur durchaus Bemerkenswertes zu Tage gefördert. Sie hatten auch sehr geschickt bereits in der Art, wie sie ihre Neuigkeiten präsentierten, die so genannte Erzählung, mitgeliefert. Weiterverbreitet wurde von den Medien zunächst eben genau diese – die Interpretation der Fakten. Dies ist für Journalisten einfacher als sich durch Terrabytes von Infos zu wühlen und nächtelang Protokolle zu studieren. Zudem macht das rasende Tempo des Internet-Zeitalters eine gründliche Überprüfung faktisch unmöglich. Um dem tödlichen Satz in der Redaktionskonferenz am Tag danach „Warum haben wir das nicht?“ zu entgehen, wird also eilig die Sensationsnachricht veröffentlicht. Korrigiert und nachgebessert wird bestenfalls später. Doch zum Zeitpunkt dieses „später“ ist das Narrativ bereits gesetzt.

 

Der Echo-Chamber-Effekt verstärkt Nachrichten innerhalb jener Gruppen, die ohnehin einer bestimmten Ideologie oder politischen Richtung anhängen.

Narrative, die sich durch die Internet-Kommunikation lawinenartig multiplizieren, erweitern nicht notwendigerweise das Wissen über die skandalisierten Vorgänge. Der sogenannte Echo-Chamber-Effekt verstärkt Nachrichten vor allem innerhalb jener Gruppen, die ohnehin einer bestimmten Ideologie oder politischen Richtung anhängen. Mit anderen Worten: Ob TTIP-Gegner oder Finanzmarktkritiker, ob Pegida-Anhänger oder Neokonservative: Sie alle abonnieren auf Facebook oder anderen sozialen Medien vor allem jene Kanäle, deren Feeds ihre Sicht der Dinge bestätigen.

Warum dieses System so gut funktioniert? Weil der Mensch nichts so sehr hasst, wie kognitive Schieflagen, den Zweifel, das Infragestellen der eigenen Position. Er fühlt sich am wohlsten, wenn er sich – eben wie in einem Echoraum – mit seiner Meinung in guter Gesellschaft, in einer gefühlten Mehrheit glaubt.

 

Ist die eigene Haltung einmal festgelegt, dann lässt sie sich durch Fakten kaum noch verändern.

Ist die eigene Haltung einmal festgelegt, dann lässt sie sich durch Fakten kaum noch verändern. Beispiel 1: Als Moskau Anfang 2014 die Krim-Halbinsel annektierte formierte sich in der deutschen Öffentlichkeit schnell ein Lager, das dieses völkerrechtswidrige Vorgehen Russlands verteidigte. Tatsachen, die belegten, dass das Referendum nicht in Ansätzen internationalen Standards entsprach und dass Moskau verdeckt militärisch interveniert hatte, wurden nicht zur Kenntnis genommen oder als „Lügen“ abqualifiziert. Russland setzte dabei massiv auf die propagandistische Wirkung des Internets, sogenannter bezahlter Trolle, deren Kommentare in den sozialen Medien die Diskussion in eine bestimmte Richtung lenken sollten.

Beispiel 2: Der Fall der angeblich vergewaltigten Russlanddeutschen Lisa Anfang dieses Jahres. Die 14-Jährige aus Berlin-Marzahn war für einen Tag verschwunden und gab danach an, „von Südländern“ vergewaltigt worden zu sein. Zwar stellte sich bald heraus, dass das Mädchen die Geschichte erfunden hatte. Doch die russische Regierung und selbst Korrespondenten russischer Medien in Deutschland hielten unverändert an der Falschversion fest. Die dadurch ausgelöste Social-Media-Lawine führte schließlich zu Protesten von Russlanddeutschen gegen die deutsche Flüchtlingspolitik und zu einer handfesten diplomatischen Verstimmung.  Das polizeilich gesicherte Faktum, dass es sich um eine Falschmeldung handelte, wurde schlichtweg ignoriert. Als Wahrheit galt nur noch das, was in den eigenen Echoräumen veröffentlicht wurde.

Wie gut Gerüchte und Falschmeldungen im Internet gedeihen, hat vergangenes Jahr die wissenschaftliche Forschungseinrichtung Institutions, Markets, Technologies (IMT) im italienischen Lucca untersucht. Dabei kamen die Forscher zu dem Ergebnis, dass erst die Echoräume, die einen in sich geschlossenen Informationsraum darstellen, diese Art der Fehlinformation möglich machen. Das IMT konzentrierte sich vor allem auf die Rolle von Facebook, das den Nutzer nach einem bestimmten Algorithmus mit ausgewählten „Feeds“ versorgt. Die Wissenschaftler aus Italien fanden zudem die Tatsache bestätigt, dass sich die Konsumenten von Social Media sehr resistent gegenüber Korrekturen erweisen: Entweder ignorieren sie diese, oder sie halten sie ihrerseits für falsch.

 

Mit dieser Entwicklung geht der Niedergang der Zeitungen einher.

Mit dieser Entwicklung geht der Niedergang traditioneller Informationslieferanten wie Zeitungen einher. Wer seine Informationen vor allem über seine Abos auf den sozialen Medien oder nur von bestimmten Webseiten bezieht, der nimmt Nachrichten nur noch selektiv auf. Die Chance, dass dieser Nutzer auf Artikel, Reportagen und Nachrichten stößt, nach denen er zwar gar nicht gesucht hat, die für das Verständnis eines Themas aber wesentlich sind, schwindet dramatisch. Die um ihre Existenz kämpfenden „alten“ Medien sehen keine andere Chance, als sich dieser Entwicklung anzupassen. Ihre Texte – zumindest jene, die online erscheinen – orientieren sich deshalb auch an den von Google und Facebook vorgegebenen Algorithmen. Ein Teufelskreis.

Die Journalisten versuchen, mithilfe von kurzen Ködertexten, sogenanntem “Clickbait”, die Leserinnen und Leser in den Text ziehen; sie setzen punktgenau Schlüsselwörter und verzichten auf schön geschriebene Einführungen in den Text; sie benutzen kurze, einfache Hauptsätze statt anspruchsvollem Satzbau. Das Ziel ist, möglichst wenig Leseanstrengung zu bereiten. Und man will natürlich provozieren, Klicks generieren sowie möglichst viele Kommentare und Verlinkungen auslösen. Wer diesen Schemata nicht folgt, der wird von Google im Ranking so weit unten platziert, dass die Texte nicht gelesen und dass für Werbung weniger Geld kassiert werden kann. Damit verändern sich jedoch ganze Kulturen: Die des Schreibens, des Lesens und der Debatte über Inhalte.

 

Wer das Spiel mit Narrativen, Algorithmen und den sozialen Medien am besten beherrscht, dem gehören Aufmerksamkeit und Deutungshoheit.

Zu befürchten steht: Wer das Spiel mit Narrativen, Algorithmen und den sozialen Medien am besten beherrscht, dem gehören Aufmerksamkeit und Deutungshoheit. Die Schere zwischen der Infoelite, die sich aus einer Vielzahl von Medien informiert, und jenen, die vor allem dem kostenlosen digitalen Massenkonsum hinterherlaufen, wird sich weiter öffnen.  

Mit ein wenig Fantasie lässt sich leicht ausmalen, was das für Politik und Gesellschaft noch bedeuten wird.