Was waren das für Zeiten. Im Januar 2019 wurde Andry Rajoelina als neuer Präsident Madagaskars vereidigt, hervorgegangen aus einer als demokratisch anerkannten Wahl. Seinem Land versprach er, aus dem ewigen Kreislauf aus Krisen und Revolten auszubrechen. Die Stabilität und Entwicklung Ruandas sollte das neue Vorbild sein. Die erstmalige Präsenz von drei Amtsvorgängern bei der Amtseinführung zeugte von Dialog und Gemeinsamkeit ehemaliger politischer Gegner und setzte den Ton für eine neue politische Kultur in Madagaskar. 

Viereinhalb Jahre später, Stadtteil 67 Hektar in Antananarivo: Der Demonstrationszug des Präsidentschaftskandidaten wird von einem tobenden Mob aufgehalten. Mobiliar und Faustschläge treffen die schwarze G-Klasse von Marc Ravalomanana. Die orange gekleideten Anhänger Rajoelinas suchen die Auseinandersetzung mit den weiß gekleideten Fans des ehemaligen Präsidenten, die in den letzten Wochen in stetig steigender Zahl an den Kundgebungen des oppositionellen „Kollektivs der Kandidaten“ teilnehmen. Tage später schlagen Tränengasgeschosse der Gendarmerie direkt auf sein Fahrzeug, reihenweise werden Demonstranten von vermummten Sicherheitskräften in Fahrzeuge gezerrt, Oppositionelle festgenommen. Ältere Frauen wischen sich das Blut mit der grün-weiß-roten Nationalflagge von der Stirn. Mittlerweile äußern sich auch die Vereinten Nationen und die vor Ort vertretene internationale Staatengemeinschaft immer besorgter über die eskalierende Entwicklung der letzten Wochen, die sich im Kontext des Kriegs in Gaza unbeachtet von der großen Weltöffentlichkeit vollzieht.

Mit aller Macht drückt die Regierung Madagaskars aktuell einen Wahlgang durch.

Mit aller Macht drückt die Regierung Madagaskars aktuell einen Wahlgang durch. Als die Nationale Wahlkommission im Februar 2023 die Termine für die Präsidentschaftswahl Ende des Jahres ankündigte, schien alles auf einen einfachen Sieg des Amtsinhabers Andry Rajoelina hinauszulaufen. Die Opposition war schwach und zerstritten, staatliche Institutionen und ein Großteil der Medienhäuser sind in der Hand des Präsidenten. Mächtige Geschäftsleute der Schattenwelt bekundeten öffentlich ihre Unterstützung für Andry Rajoelina und beruhigten so den Sicherheitsapparat aus Armee, Gendarmerie und Polizei. Die internationale Staatengemeinschaft war aufgrund der Krisen im Sahel und in der Ukraine zu sehr abgelenkt, um genauer hinzusehen, und konnte nur konstatieren, dass die Empfehlungen der Europäischen Wahlbeobachtermission für die Verbesserung der Vorbereitung und Durchführung der Präsidentschaftswahl 2023 kaum umgesetzt wurden.

Konsequenzen gab es für die Regierung Madagaskars kaum. Im Frühjahr konnte es keinen Zweifel geben, welcher der 13 offiziell zugelassenen Kandidaten den Wahlgang am Jahresende dominieren würde. Acht Monate später wird zunehmend unwahrscheinlicher, dass Madagaskar in einem von Ruhe geprägten und allseits anerkannten Wahlgang einen neuen Präsidenten bestimmt. 

Andry Rajoelina mag ein Meister der Propaganda sein, aber objektiv betrachtet ist seine Regierungsbilanz durchwachsen.

Andry Rajoelina mag ein Meister der Propaganda sein, aber objektiv betrachtet ist seine Regierungsbilanz durchwachsen. Nahrungsmittelversorgung, Energiesicherheit, Bildungspolitik, Schutz der Bürger vor Gewalt aller Art – substanziell positive Ergebnisse seines ersten Regierungsmandats gibt es kaum. Schulgebäude und Polizeistationen mögen als Zeichen politischer Kohärenz nun in Parteifarben glänzen, aber Investitionen in die darin arbeitenden Köpfe bleiben aus. Madagaskar ist in den letzten Jahren ärmer und abhängiger geworden. Stattdessen werden Millionen in Prestigeprojekte wie etwa eine Gondelbahn in Antananarivo investiert, deren operativer Nutzen durchaus in Zweifel gezogen werden kann. 

So viele Angriffsflächen böten ideale Bedingungen für eine politische Opposition. Es sind jedoch nicht die gravierenden Missstände des Landes, die die Menschen auf die Straße treiben, sondern das Gefühl struktureller Benachteiligung in einem nur augenscheinlich demokratischen Wahlprozess. Es geht um den Missbrauch der Verfassung, das Manipulieren des Wählerverzeichnisses, Millionen fiktiver Wählerstimmen und Wahlbüros, um das gezielte Ausstellen von Ausweispapieren für Anhänger der Regierung, um die allzu offensichtliche Instrumentalisierung unabhängiger Institutionen, konkrete Schikanen gegen die politische Betätigung der Opposition und um den Erwerb einer 14 Millionen Euro teuren Predator-Software für den Spionageeinsatz gegen die Opposition. 

Das Oberste Verfassungsgericht und insbesondere die Nationale Wahlkommission stehen im Verdacht, grundsätzlich sehr viel für den Wahlsieg Rajoelinas zu tun.

Spät mobilisierte die Opposition gegen die Bedingungen dieser Präsidentschaftswahl. Erstmals überhaupt stellen sich ihre maßgebliche Vertreter in die erste Reihe der Demonstrierenden und damit auch in die Schusslinie der Gendarmerie. Die Menschen folgen zunehmend, emotionalisiert insbesondere durch die doppelte Staatsbürgerschaft Rajoelinas, die er seinem Land seit dem Jahr 2014 verschwiegen hatte. Gemäß madagassischer Verfassung hätte er damit seine madagassische Staatsbürgerschaft verloren, aber das Oberste Verfassungsgericht ließ die Kandidatur Rajoelinas dennoch zu. Das Gericht und insbesondere die Nationale Wahlkommission stehen im Verdacht, grundsätzlich sehr viel für den Wahlsieg Rajoelinas zu tun.

Vor diesem Hintergrund hat sich die Opposition klar gegen den für den 16. November geplanten Wahlgang positioniert. Die Regierung jedoch mauert sich ein, einen Dialog mit wichtigen nationalen Akteuren gibt es nicht. Mit einer Mischung aus politischen Manövern und dem unverhältnismäßigen Einsatz von Sicherheitskräften setzt die Regierung den Wahlgang durch. Dieses Zeitspiel geht auf. Die politische Wechselstimmung kommt zu zögerlich in Fahrt, um den Prozess noch zu beeinflussen. Die internationale Staatengemeinschaft kann der Entwicklung aktuell nur zusehen. Immerhin dürfen nach Monaten der Blockade durch die Regierung die Wahlbeobachter der Afrikanischen Union und der Gemeinschaft der Staaten des südlichen Afrikas wenige Tage vor der Wahl doch einreisen. Angesichts des Zeitfensters scheint es auch für sie keine echten Instrumente mehr zu geben, um auf einen demokratischen Wahlgang hinzuwirken.

Ruhe dürfte allerdings auch nach der Wahl nicht einkehren.

Boykottiert die Opposition die Präsidentschaftswahl und diese findet dennoch statt, wird es auf eine Art Duell zwischen Andry Rajoelina und Siteny Randrianasoloniaiko hinauslaufen, der für die Sozialdemokratische Partei antritt. Letzterer stand seit jeher im Verdacht, als Strohmann Rajoelinas für den Anschein eines demokratischen Prozesses zu sorgen. In diesem Szenario reicht ein relativ kleiner Ergebnisunterschied für die absolute Mehrheit im ersten Wahlgang, um am 16. November zum Präsidenten gewählt zu werden. Dies wäre das logische Ende eines Drehbuchs, welches vor langer Zeit von Beratern Rajoelinas geschrieben wurde, und bedeutete für das Land die Fortführung des Status quo ohne echte Entwicklungsperspektiven.

Ruhe dürfte allerdings auch nach der Wahl nicht einkehren. Studentenvereinigungen und Gewerkschaften beginnen, zum Generalstreik aufzurufen, in der Armee und der Justiz mehren sich Stimmen, die sich mit den Demonstranten solidarisieren. Da der demokratische Spielraum in Madagaskar zuletzt auf ein absolutes Minimum gesunken ist, lässt dies für die unmittelbare Zukunft des Landes nichts Positives erwarten.