Der gleichzeitige Austritt Malis, Burkina Fasos und Nigers aus der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft ECOWAS am 28. Januar 2024 vertieft die multidimensionale Krise in der Sahelregion weiter. Alle drei Staaten – Burkina Faso hieß damals „Obervolta“ – gehörten 1975 zu den 15 Gründungsstaaten der Gemeinschaft und konnten auf eine durchaus beachtliche politische Bilanz verweisen. Sie wurden Teil eines Wirtschaftsraums, der neben dem freien Fluss von Waren auch die Freizügigkeit der Bürgerinnen und Bürger in der Region garantierte. Doch mit dem gescheiterten Friedensprozess von Algier in Mali und den Militärputschen in Bamako, Ouagadougou und jüngst auch in Niamey änderte sich die Stimmung gegenüber ECOWAS grundlegend. Die drei Staaten wurden aufgrund nicht verfassungsgemäßer Machtwechsel vorübergehend aus der Wirtschaftsgemeinschaft ausgeschlossen und mit harten wirtschaftlichen Sanktionen belegt, die die Freizügigkeit, den Warenverkehr und regionale Finanztransaktionen erheblich einschränkten.
In breiten Teilen der Bevölkerung und gut vernetzten zivilgesellschaftlichen Organisationen wurde immer wieder Kritik am Sanktionsregime der Regionalorganisation laut, da der Eindruck in den drei Staaten herrschte, dass die Sanktionen sich in erster Linie gegen die Bevölkerung und nicht gegen die politischen Eliten oder die neuen militärischen Machthaber richteten. Daher ist der gleichzeitige Austritt nicht überraschend, sondern das Ergebnis einer sich bereits länger abzeichnenden Gemengelage: wegen politischer Frustration sowohl in der Bevölkerung als auch in den Regierungen, wegen wirtschaftlicher Sorgen und einem stark verankerten Souveränitätsbewusstsein, insbesondere in Bezug auf äußere Einflussnahme auf innere staatliche Angelegenheiten.
Vor allem das Militär war von den formaldemokratischen Regierungen und von deren teils korrupten Machenschaften mit französischen Eliten enttäuscht und frustriert und präsentierte sich als Korrektiv gegen diese Missstände. Unterstützung aus der Bevölkerung zeigte sich besonders in allen drei Ländern nach den Putschen, als Demonstranten gewaltsame Übergriffe auf Einrichtungen der ehemaligen Kolonialmacht Frankreich verübten, der vorgeworfen wurde, zu viel Einfluss auf die einst gewählten Regierungen zu nehmen.
Die sich an die Macht putschenden Militärregierungen genießen bei jungen Menschen einen gewissen Vertrauensvorschuss.
Die sich an die Macht putschenden Militärregierungen werden insbesondere bei jungen Menschen nicht unbedingt als sich ausbreitendes Unrecht wahrgenommen, sondern genießen derzeit einen gewissen Vertrauensvorschuss, der auf weit verbreiteter Politikverdrossenheit beruht. Viele, insbesondere junge Menschen argumentieren, dass die einst demokratisch gewählten Regierungen nichts gegen die Perspektivlosigkeit unternommen haben, die von hoher Jugendarbeitslosigkeit und weit verbreiteter Unsicherheit außerhalb der Hauptstädte geprägt ist. Dies ist nicht zu unterschätzen, da die Sahelzone in den letzten 15 Jahren eine spektakuläre demografische Entwicklung durchgemacht hat: In der Region leben mehr als 230 Millionen junge Menschen unter 24 Jahren, was 60 Prozent der Gesamtbevölkerung entspricht. Die sich zunehmend verschlechternden Sicherheitsbedingungen, die sich rapide verändernden klimatischen Bedingungen und die sich permanent verändernden Konfliktdynamiken, angeführt von etablierten dschihadistischen Gruppen, stellen somit insbesondere junge Menschen der Region immer wieder vor neue Herausforderungen.
Im August 2022, als Präsident Bazoum im Niger noch an der Macht war, waren laut einem Bericht des Kinderhilfswerks UNICEF 890 Schulen im gesamten Land geschlossen, darunter 855 Grundschulen. 72 000 Schülerinnen und Schüler hatten damals aufgrund der angespannten Sicherheitslage keinen Zugang zu Primärbildung. Ähnliche Situationen ließen sich in den Nachbarländern Mali und Burkina Faso beobachten. In allen drei Staaten konzentriert sich das Gewaltmonopol des Staates ausschließlich auf die Hauptstädte mit dem Resultat, dass sich in den Provinzen außerhalb dschihadistische Terrorgruppen und Milizen wahrlich etablieren konnten.
Die Sahelzone ist eine der ärmsten Regionen der Welt.
ECOWAS harte Sanktionen und das Säbelrasseln gegenüber den Putschisten in Niamey im Jahr 2023 war eher kontraproduktiv und hat Ressentiments gegenüber der Regionalorganisation auch in Teilen der Zivilgesellschaft verstärkt und die drei Staaten noch mehr zusammenrücken lassen – so sehr, dass sie gar einen gemeinsamen Verteidigungspakt gegen einen potenziellen Einmarsch von Truppen der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft diskutierten. Realpolitisch stellt sich die Frage, wie die Regionalorganisation, also die verbleibenden Staats- und Regierungschefs, mit dem Austritt der drei Binnenstaaten umgehen werden. Formal gab ECOWAS bekannt, dass der Austritt ein Jahr dauern werde. Dies lässt wenig Zeit für die drei ausgetretenen Regierungen, um Grenzübertritte, regionalen Handel und grenzüberschreitende Finanztransaktionen, insbesondere mit den Nachbarstaaten, neu zu verhandeln.
Die Sahelzone ist eine der ärmsten Regionen der Welt. Sie steht gleichzeitig vor den Herausforderungen extremer Armut, der Auswirkungen des Klimawandels, häufiger Nahrungsmittelkrisen, eines raschen Bevölkerungswachstums, einer fragilen Staatsführung, Korruption, ungelöster interner Spannungen, illegalen Handels und terroristischer Sicherheitsbedrohungen. Der Austritt Malis, Burkina Fasos und Nigers aus ECOWAS verdeutlicht die dringende Notwendigkeit eines internationalen Engagements und von Unterstützung zur Bewältigung der komplexen Herausforderungen, denen die Sahelregion gegenübersteht. Es ist entscheidend, dass die internationale Gemeinschaft zusammenarbeitet und die betroffenen Länder bei der Bewältigung ihrer Probleme unterstützt, um langfristige Stabilität und Entwicklung in der Region zu fördern. Das ist leichter gesagt als getan, besonders die Einflussnahme Russlands in der Subregion überschattet momentan viel.
Russland präsentiert sich als ein alternatives Entwicklungsmodell gegenüber dem der Europäischen Union.
Alle drei Militärregierungen haben der ehemaligen Kolonialmacht Frankreich den Rücken zugekehrt und multilaterales beziehungsweise regionales Engagement im eigenen Land hinterfragt, im Fall von MINUSMA in Mali komplett eingestellt. Die Beziehungen zu Moskau wurden hingegen auf verschiedensten Ebenen intensiviert, sowohl in Mali mit dem Einsatz der russischen Söldnergruppe Wagner im Zentrum des Landes als auch in Burkina Faso mit Absichtserklärungen einer Energiepartnerschaft mit dem russischen Staatskonzern Rosatom, der beim Bau eines Atomkraftwerks unterstützen soll. Auch auf diplomatischer Ebene bewegt man sich aufeinander zu, so wurde Ende 2023 erstmals seit 30 Jahren wieder eine russische Botschaft in Ouagadougou eröffnet. Auch die nigrische Regierung stattete Moskau im Januar 2024 einen hochrangigen Besuch ab, um weitgreifende Kooperationsmöglichkeiten zu verhandeln. Die EU hatte nach der Machtübernahme durch das Militär und der Gefangennahme von Präsident Bazoum ihre militärische Trainingsmission eingestellt. Klar ist, dass Russland hier die Strategie verfolgt, sich als ein alternatives Entwicklungsmodell gegenüber dem der Europäischen Union zu präsentieren, und sich gleichzeitig Exklusivrechte für die Ausbeutung von Bodenschätzen in den Ländern sichert.
Sollten sich die EU und Deutschland nun also abwenden, besonders auch da Niger nun in der Region Agadez nicht mehr gegen Schleuser vorgeht? Pragmatismus ist die leider nicht zufriedenstellende Antwort: Mittelfristig wird man in verschiedenen Sektoren mit den Militärregierungen in der Region zusammenarbeiten müssen, um die prekäre Ernährungs- und Sicherheitssituation vor den Toren Europas einzudämmen und Entwicklungsperspektiven vor Ort zu ermöglichen und trotz ECOWAS Austritt Anreize für eine politische Transition zu schaffen. Deutschland kommt hier nun – mit dem Vorsitz der regionalen Entwicklungsinitiative Sahelallianz und nach dem Abzug Frankreichs aus der Region – eine besondere Rolle zu.