Weltweit zählt Namibia zu den Ländern mit der stärksten sozialen Ungleichheit. Dies soll sich nun dank der Herstellung von grünem Wasserstoff ändern. Im Rahmen der UN-Klimakonferenz unterzeichneten Kommissionspräsidentin von der Leyen und Namibias Präsident Geingob eine Absichtserklärung zur strategischen Zusammenarbeit zu Wasserstoff und nachhaltigen Rohstoffen. Die Prominenz der Unterzeichnenden zeigt, dass das Abkommen als Leuchtturmprojekt auf dem Weg zum Europäischen Green Deal und damit verbunden zur europäischen Energiewende verstanden werden soll.

Laut der Europäischen Union soll grüner Wasserstoff auch in Namibia zum Motor für wirtschaftliches Wachstum werden. Folgt man dem Präsidenten Namibias, wird grüner Wasserstoff zu massiven Investitionen in die Infrastruktur im Land führen, Arbeitsplätze schaffen und zum gemeinsamen Wohlstand beitragen. Verschiedene multinationale Joint Ventures planen bereits riesige Anlagen an der namibischen Küste, um ab 2025 Ammoniak als Energieträger von grünem Wasserstoff nach Europa zu verschiffen. Neben der EU und anderen Mitgliedsstaaten, will auch die deutsche Regierung in die Wasserstoff-Projekte investieren, um das ambitionierte Ziel der Klimaneutralität bis 2045 zu erreichen.

Rosige Aussichten für alle, könnte man meinen. Doch wird dieser Weg tatsächlich automatisch zu einer Win-Win-Situation führen? Wenn sich Europa nur auf die eigenen wirtschaftlichen und ökologischen Interessen fokussiert, ist fraglich, ob grüner Wasserstoff tatsächlich auch zum Motor der sozial-ökologischen Transformation in Namibia wird. Falls der Profit aus dem Wasserstoffsektor an Joint Ventures ins Ausland abfließt und nur diejenigen Namibier profitieren, die im Wasserstoffsektor unternehmerisch aktiv sind und meist wohlhabenderen Schichten angehören, besteht das Risiko, dass grüner Wasserstoff eher zur Steigerung des ohnehin stark ungleich verteilten Reichtums anstatt zum Abbau der sozialen Ungleichheit beträgt.

Besonders im ländlichen Raum herrscht multidimensionale Armut.

In Namibia sind mehr als 40 Prozent  der Jugendlichen (15 bis 24 Jahre) arbeitslos, viele davon mit Hochschulabschluss. Über 57 Prozent der arbeitenden Bevölkerung war bereits vor der Corona-Pandemie im informellen Sektor beschäftigt, ohne soziale Absicherung bei Verdienstausfällen. Und mehr als 43 Prozent der Namibierinnen und Namibier leben ohne Zugang zum Elektrizitätsnetz. Besonders im ländlichen Raum herrscht multidimensionale Armut. Eine Vielzahl an Korruptionsskandalen und Unregelmäßigkeiten im Zusammenspiel von staatlichen Behörden und multinationalen Unternehmen, insbesondere im Rohstoffsektor, hat in jüngerer Vergangenheit dazu beigetragen, dass das Vertrauen in politische Versprechen des sozio-ökonomischen Nutzens derartiger Projekte für die breite Bevölkerung abgenommen hat.

Vor diesem Hintergrund muss sich die EU neben den eigenen Klimazielen und der Stärkung der wirtschaftlichen Position auch die Freisetzung des transformativen Potentials zur Verbesserung der sozio-ökonomischen Lebensbedingungen in potentiellen Zuliefererländern wie Namibia als Ziel setzen. Es ist wichtig, soziale, ökologische und wirtschaftliche Fragen über die europäischen Außengrenzen hinaus im Rahmen des Abkommens mitzudenken und die Roadmap zur Umsetzung der strategischen Zusammenarbeit für den Zeitraum 2023 bis 2024 entsprechend zu gestalten. Zwischen der europäischen und der namibischen Seite sollten konkrete Standards, Maßnahmen und Verantwortlichkeiten als Bedingungen für die Investitionen aus Steuergeldern des Team Europe festgelegt werden. Folgende drei Denkanstöße könnten dazu beitragen, das Projekt zu einer Erfolgsgeschichte für beide Seiten zu machen.

Erstens: Was läge näher, als einen Teil des produzierten grünen Stroms in das namibische Elektrizitätsnetz einzuspeisen? Der Import von derzeit 60 bis 70 Prozent des namibischen Strombedarfs aus größtenteils fossilen Energieträgern aus Südafrika ließe sich reduzieren und man käme somit den Pariser Klimazielen näher. Zudem wäre die Nutzung eines Anteils der potentiell enormen staatlichen Einnahmen aus dem neuen Industriezweig für den Ausbau des namibischen Elektrizitätsnetzes denkbar. Darüber hinaus könnten die EU und ihre Mitgliedsstaaten die beteiligten multinationalen Unternehmen dazu verpflichten, Quoten des produzierten Stroms zu günstigen Tarifen der namibischen Bevölkerung bereitzustellen.

Korruption und Schäden für die Umwelt sind enorme Herausforderungen bei Prestigeprojekten im Rohstoffsektor.

Zweitens: Schenkt man Vertreterinnen und Vertretern des Privatsektors Glauben, wird grüner Wasserstoff den namibischen Arbeitsmarkt „mit Jobs überschwemmen“. Gut bezahlte Arbeitsplätze gibt es im neuen Sektor vor allem für qualifizierte Ingenieure. Der namibische Ingenieursrat fordert deswegen, dass einheimische Arbeitskräfte von Beginn an Führungspositionen besetzen, anstatt diese wie in ähnlichen Projekten an Ausländer zu vergeben. Es wäre denkbar, dass neue Stellen zunächst auf dem namibischen Arbeitsmarkt ausgeschrieben und bei Bedarf durch zusätzliche individuelle Weiterbildungsangebote durch den Arbeitgeber flankiert werden müssen.

Um den in Namibia existierenden Skills Gap zwischen den Qualifikationen vieler Hochschulabsolventen und den Erfordernissen des Arbeitsmarktes entgegenzuwirken, wäre der gezielte Wissensaufbau und -transfer in den wissensintensiven Teilen der Wertschöpfungskette ein entscheidender Schritt für die langfristige Aufwertung des namibischen Arbeitsmarktes. Bereits Mitte des Jahres wurde ein Stipendienprogramm zum Aufbau von technischer Expertise zu grünem Wasserstoff zwischen der Bundesregierung und der namibischen Regierung für junge Namibierinnen und Namibier ins Leben gerufen. Gelänge es, diese Bemühungen zu intensivieren und den Privatsektor großflächig mit einzubinden, ließe sich das tatsächliche transformative Potential von grünem Wasserstoff für die namibische Wirtschaft auch langfristig sektorübergreifend freisetzen.

Drittens: Korruption und Schäden für die Umwelt sind enorme Herausforderungen bei Prestigeprojekten im Rohstoffsektor. Um der Korruption entgegenzutreten, den langfristigen sozialen und ökologischen Impact des Rohstoffsektors sichtbar zu machen und die Attraktivität des Wirtschaftsstandorts Namibia zu steigern, sollte die Regierung laut dem Thinktank Institute for Public Policy Research der Extractive Industries Transparency Initiative (EITI) beitreten. Diese verpflichtet die Mitgliedsstaaten dazu, die Einnahmen aus dem Rohstoffabbau mittels Rechenschaftspflicht transparenter zu machen. Dadurch soll Korruption vorgebeugt und Wirtschaftswachstum in den Förderländern vorangetrieben werden. Allein bereits um das Risiko zu mindern, dass Steuergelder aus der EU unrechtmäßig in Taschen einzelner Personen verschwinden, sollte der Beitritt Namibias aus moralischen wie auch aus finanziellen Gründen eine Bedingung für die Gewährung des geplanten Darlehens durch die Europäische Investitionsbank und der geplanten Investitionen aus der EU sein. Der Beitritt zur EITI bis 2025 wurde ohnehin bereits durch die namibische Regierung als Ziel zur Korruptionsbekämpfung festgelegt.

Die drei oben aufgeführten Vorschläge passen gut in die sechs Säulen der Roadmap, welche bis Mitte 2023 durch die Europäische Kommission und die namibische Regierung finalisiert werden soll. Verpflichten sich die beteiligten Parteien zu keinen konkreten Maßnahmen und Standards, verbunden mit Konsequenzen bei Nichteinhaltung, wird sich der soziale Impact der grünen Wasserstoffindustrie auf die Lebensbedingungen vieler Namibier eher in Grenzen halten.