Zwei Tage nach den Provinz- und Parlamentswahlen ist noch einiges unklar in Südafrika. Die Ermittlung des Ergebnisses dauert diesmal länger angesichts der Wahlrechtsreform, die aus zwei Wahlzetteln drei machte. Am frühen Freitagmorgen sind etwas über die Hälfte der Wahlkreise erfasst, aber noch längst nicht die Hälfte der erwarteten Stimmen. Es fehlen vor allem noch Wahlkreisergebnisse aus den bevölkerungsstarken Metropolen, in denen das Wahlverhalten anders sein wird als auf dem Land. Angesichts der sich andeutenden großen Verschiebungen sind die Hochrechnungen der verschiedenen Institute unsicher. Die ihnen zugrunde liegenden Modelle wissen schließlich nicht, was sie aus dem kometenhaften Aufstieg einer Partei machen sollen, die es vor einem halben Jahr noch gar nicht gab: uMkhonto weSizwe (MK). Das Endergebnis wird erst am Sonntag erwartet, spätestens Dienstag. Fünf Aussagen lassen sich jedoch jetzt schon treffen.

Erstens: Der regierende African National Congress (ANC) bleibt zwar mit Abstand stärkste Kraft, verliert aber herb, wohl sogar zweistellig. Das ist weder neu (der ANC verliert seit 20 Jahren kontinuierlich an Unterstützung), noch ist es überraschend angesichts der tiefen Frustration über Rekordarbeitslosigkeit, Armut, Korruption und staatliches Versagen. Historisch ist jedoch, dass der ANC erstmals im nationalen Parlament unter 50 Prozent fällt. Aktuelle Hochrechnungen sehen ihn bei 40 bis 45 Prozent, 2019 erzielte der ANC noch 57,5 Prozent. In den beiden wichtigsten Provinzen Gauteng und KwaZulu-Natal (KZN) verfehlt er die absolute Mehrheit erstmals deutlich; in Mpumalanga und Northern Cape ist sie noch fraglich. Das Kalkül des ANC, die insbesondere in KZN vorab erwarteten Verluste durch Gewinne in anderen Provinzen zu kompensieren, geht nicht auf. Zwar hat er wohl die absolute Mehrheit in mindestens vier Provinzen verteidigt – allerdings ohne in auch nur einer dieser Provinzen Stimmen hinzuzugewinnen. Im Gegenteil.

Der ANC fällt erstmals im nationalen Parlament unter 50 Prozent.

Der große Gewinner dieser Wahl, das ist die zweite Erkenntnis, heißt MK. Überraschender als der Mehrheitsverlust des ANC ist, wer ihn letztlich erzwungen hat: ausgerechnet Ex-Präsident Jacob Zuma. In dessen Amtszeit von 2009 bis 2018 war die Korruption eskaliert. Der ANC hatte zwar den harten Bruch mit ihm vermieden, ihn und seine korrupten Netzwerke aber in den vergangenen Jahren immerhin politisch an den Rand gedrängt. Anfang des Jahres führte er diese nun in die neugegründete MK. Zuma brachte eine starke ethnische Dimension mit in den Wahlkampf und mobilisierte den Frust mit dem ANC vor allem in seiner Heimat und unter Zulus – mit Erfolg. Dass er selbst aufgrund einer gegen ihn verhängten Haftstrafe bis September 2027 gar nicht ins Parlament einziehen darf – offenbar egal. Seine MK wird aus dem Stand stärkste Kraft in KZN und fährt wohl auch in Mpumalanga und eventuell sogar Gauteng zweistellige Ergebnisse ein. Das geht auf Kosten des ANC und der in KZN traditionell starken konservativen Inkhata Freedom Party, aber auch der linkspopulistischen Economic Freedom Fighters, die die MK womöglich sogar mit einem landesweiten Ergebnis von über zehn Prozent als drittstärkste Partei ablöst. Bleibt abzuwarten, wie die Zuma-MK diese Rolle ausfüllen wird. Angesichts der ersten Monate ihres Parteilebens und Zumas Geschichte geschieht das wohl mit einigem Lärm und Theater.

Mit dem Modell „charismatischer Führer, markige Sprüche“ legt im Schatten der MK eine weitere Partei deutlich zu: Es scheint, als würde Gayton McKenzies rechtsnationalistische und xenophobe Patriotic Alliance die größte unter den dutzenden Kleinparteien.

Die etablierte Opposition profitiert weiterhin kaum vom Niedergang des ANC.

Die dritte Erkenntnis der Wahl: Die etablierte Opposition profitiert weiterhin kaum vom Niedergang des ANC und sollte sich entsprechend ein paar grundsätzliche Fragen stellen. Die weiterhin stärkste Oppositionspartei, die Democratic Alliance, verteidigte wohl zwar ihre absolute Mehrheit in Western Cape. Landesweit dümpelt sie aber wohl fast 20 Prozent hinter dem ANC. Aktuelle Hochrechnungen sehen sie bei circa 22 Prozent. Das von ihr und zehn weiteren Parteien vor den Wahlen geschmiedete Bündnis Multiparty-Charter bleibt mit insgesamt unter 30 Prozent fern von jeder Machtperspektive.

Die Parteien vereint ihre Marktgläubigkeit, sie setzen auf Privatisierung und Deregulierung und stemmen sich gegen Umverteilung. Die Democratic Alliance will die Bedingungen für die Zahlung von sozialen Leistungen verschärfen und fordert die Abschaffung des Mindestlohns, der derzeit bei circa 1,40 Euro pro Stunde liegt. Letzteres ist nicht nur gegen wirtschaftliche Vernunft und Evidenz – sondern offenbar auch schlicht nicht populär in einem Land, das auch 30 Jahre nach dem Ende der Apartheid mit derart ungleich verteilten Vermögen, Einkommen und Chancen zu kämpfen hat. Ihren Ruf als Partei des weißen Mittelstands hat die Democratic Alliance also nicht nur aufgrund der zahlreichen Austritte schwarzer Führungskräfte und ihres Wahlkampfs, der auf Absicherung der Basis statt auf Erschließung neuer Wählergruppen zielte. Was der ANC in den letzten 20 Jahren an Stimmen verlor, sogen so dessen populistische Abspaltungen auf – erst die Economic Freedom Fighters, jetzt auch die MK. So ist auch im kommenden Parlament politisch keine Mehrheit am ANC vorbei zu organisieren.

Südafrikas demokratische Institutionen sind gefestigt – und zugleich wenden sich viele Bürgerinnen und Bürger von der Demokratie ab.

Viertens bestätigt die Wahl: Südafrikas demokratische Institutionen sind gefestigt – und zugleich wenden sich viele Bürgerinnen und Bürger von der Demokratie ab. Wie schon bei den sechs nationalen Urnengängen zuvor gibt es bislang keinen Grund, an der Integrität der Wahl sowie der Unabhängigkeit von Wahlkommission und Justiz zu zweifeln. Zahlreiche technische und organisatorische Pannen sowie Verzögerungen drohen aber denen Futter zu geben, die nach Verkündung der Wahlergebnisse gegebenenfalls politische Attacken auf die Wahlkommission und den Wahlprozess fahren wollen. In einigen Wahllokalen fielen die ID-Scanner aus, sodass mit analogen Listen gearbeitet werden musste. Zudem dauerte der Wahlprozess mit nun drei statt wie bislang zwei Wahlzetteln schlicht länger als zuvor. Viele Südafrikanerinnen und Südafrikaner nahmen so in stoischer Gelassenheit mehrstündige Wartezeiten hin, zum Teil bis weit in die Nacht. Mehr als die Hälfte der Wahllokale musste ihre Öffnungszeiten verlängern.

Die an einigen Wahllokalen extrem langen Schlangen zeugten jedoch nicht von hoher Wahlbeteiligung, wie anfangs vermutet. Derzeit deuten die Hochrechnungen darauf hin, dass diese noch unter dem vorigen Tiefststand von 2019 liegen wird, als die Quote bei 66 Prozent lag. Was diese Zahl sogar noch verbirgt: In absoluten Zahlen waren zwar mit 27,67 Millionen noch nie so viele Südafrikanerinnen und Südafrikaner für eine Wahl registriert; im Verhältnis zu den theoretisch Wahlberechtigten waren es aber so wenige wie nie. Mehr als ein Drittel der wahlberechtigten Bevölkerung hatte sich für diesen Urnengang erst gar nicht registrieren lassen. Die effektive Wahlbeteiligung wird entsprechend wohl eher bei etwa 40 Prozent liegen. Interessant wird es sein, die Wahl im Nachgang genauer auszuwerten, zum Beispiel mit Blick auf die Wahlbeteiligung junger Südafrikanerinnen und Südafrikaner. Für die Demokratie begeistern wird sich die Mehrheit der Bevölkerung wohl erst wieder, wenn auch soziale und wirtschaftliche Teilhabe für sie greifbar wird.

Die fünfte und letzte Aussage, die schon jetzt getroffen werden kann, ist: Die Regierungsbildung wird kompliziert, sowohl national als auch in KZN und Gauteng. Die stabilsten Koalitionen auf kommunaler Ebene sind bislang die, in denen die größte Partei mit einer kleinen regiert. Diese Option scheint dem ANC nach den derzeit vorliegenden Zahlen auf nationaler Ebene nicht offenzustehen. Er bräuchte wohl entweder mehrere kleine Parteien oder eine der anderen großen Parteien für eine Regierungsmehrheit. Welche Koalitionsoptionen in den Provinzen möglich sind, ist noch nicht final absehbar. Sobald die Wahlkommission das Endergebnis bekannt gegeben hat, muss das Parlament sich innerhalb von zwei Wochen konstituieren. Nicht viel Zeit für die nötigen Verhandlungen.