Schon seit Jahrzehnten kann man beobachten, wie die japanische Dauerregierungspartei LDP ein für die Zukunft des Landes zentrales Politikfeld nur unter ferner liefen führt. Japans Bevölkerung schrumpft seit 2011. Prognosen besagen, dass die Bevölkerungsgröße in 100 Jahren wieder da sein könnte, wo sie Mitte des 19. Jahrhunderts war, nämlich bei 33 Millionen. Gegenwärtig leben cirka 125 Millionen Menschen in Japan. Das Durchschnittsalter steigt, im Jahr 2020 waren bereits 30 Prozent der Bevölkerung älter als 65.
Auf die politische Agenda trat die Thematik Bevölkerungsentwicklung 1990, als der sogenannte 1,57-Schock das Land ereilte. Mit der Zahl war die damalige Geburtenrate gemeint, die erstmals unter die von 1964 gerutscht war. 1964 war das Jahr des Feuerpferdes, in dem besser keine Mädchen geboren werden sollten, denn die würden ihren zukünftigen Ehemännern nur Unglück bringen. Wie viele (potenzielle) Eltern da lieber auf Nummer sicher gingen und die Schwangerschaft verschoben, kann man an der auffälligen Delle in der Geburtenrate sehen. 1965 sprang sie wieder auf 2. Ganz ohne Aberglauben war die Geburtenrate 1990 nun aber unter die des Feuerpferdjahres gefallen. Das rüttelte die Regierung auf.
Seit 1990 hat es eine Vielzahl von Maßnahmen gegen die niedrige Geburtenrate gegeben, begonnen mit dem „Engelsplan“ (1994), unter anderem gefolgt vom „Neuen Engelsplan“ (1999), dem „Unterstützungsplan für Kinder und Erziehung“ (2004), den „Dringlichkeitsmaßnahmen zur Bekämpfung der niedrigen Geburtenrate“ (2013) und dem „Neuen Plan für sorgenfreie Kinderziehung“ (2020). All diese Initiativen und einige mehr blieben hinter den Erwartungen zurück, auch, weil sie unterfinanziert waren. Zudem verloren führende Politiker nach Verkündung der jeweiligen Maßnahmen schnell wieder ihr Interesse. Nur der Juniorpartner der Regierungskoalition, die Partei für eine saubere Regierung, setzte gelegentlich finanzielle Entlastungen für Familien durch.
Die Geburtenrate zeigte sich entsprechend unbeeindruckt, sie lag 2021 bei 1,3. Als die Regierung von Fumio Kishida nun verkündete, den Wehretat verdoppeln zu wollen und dafür Steuern erhöhen zu müssen, flankierte sie diese unpopuläre Ankündigung mit einer weiteren familienpolitischen Kampagne zur Steigerung der Fertilität. Diesmal soll es die „Geburtenförderung in einer anderen [finanziellen] Dimension“ richten.
Dazu schuf man ein Parteigremium namens „Konferenz zur Verwirklichung einer strahlenden Zukunft für Kinder und junge Menschen“. Wie in den meisten politischen Gremien sind auch hier Frauen nur in geringer Zahl vertreten. Gleichzeitig konnte man beobachten, dass auch japanische Regierungen, die sich mit einer lange verschleppten, aber konsequenzreichen Problematik konfrontiert sehen, das Instrument des runden Tisches kennen, hier Volkskonferenz genannt. Ganz so, als würde man der Dringlichkeit eines stetig wachsenden Missstandes dadurch gerecht, dass man noch einmal ganz von vorne nicht nur alle Informationen zu dieser „Herausforderung“ zusammenträgt, sondern auch sämtliche Meinungen und Interessen hört.
Oppositionsparteien, von denen sich einige sehr über Familienpolitik zu profilieren suchen, sind notorisch arm an Einfluss.
Das jahrzehntelang vorherrschende, weitgehende Desinteresse der Regierungsspitze an einer für die japanische Nation zentralen Problemstellung ist unter anderem das Resultat einer mangelnden Organisation und Interessenvertretung junger Familien und potenzieller Eltern. Während sich in Deutschland neben weiteren etwa Wohlfahrtsverbände, Kirchen und Gewerkschaften für diese Zielgruppen einsetzen, haben diese Akteure in der politischen Arena Japans entweder nur wenig Einfluss oder kommen dort nicht vor. Oppositionsparteien, von denen sich einige sehr viel mehr über Familienpolitik zu profilieren suchen, sind ebenfalls notorisch arm an Einfluss. Seit 1955 haben sie nur vier Jahre Regierungsverantwortung übernehmen können, die LDP saß in den anderen 64 (!) Jahren am Steuer.
Eine weitere Ursache für die geringe Bereitschaft, mehr für Familien und junge (potenzielle) Eltern und damit zur Förderung der Geburtenrate zu tun, ist der konservative Flügel der LDP, dessen Mitglieder immer noch bestrebt sind, an ihrem Ideal der „traditionellen Familie“ festzuhalten: männlicher Alleinverdiener, weibliche Familienmanagerin mit Pflegeaufgaben. Der Kampf um dieses Familienmodell ist selbstredend aussichtslos: Globalisierung, Arbeitskräftemangel, vor allem aber viel höhere Bildungsabschlüsse von Frauen haben das noch bis in die 1980er Jahre dominante Konvoi-System versenkt. In ihm kümmerte sich die Regierung mit wirtschaftsfreundlicher Politik um die Unternehmen, die Unternehmen verschlangen ihre männlichen Angestellten mit Haut und Haar, entließen sie aber auch in schlechten Zeiten nicht und sicherten so Familien ab, sodass sich viele Ehefrauen und Mütter gar nicht erst auf den Arbeitsmarkt begeben mussten und sowohl die Kinder als auch die ältere Familiengeneration versorgen konnten. Unternehmen, Regierung und Familien segelten so wie ein Konvoi gemeinsam voran. Wie gesagt, früher einmal.
Auch die Kosten, die Kinder bedeuten, drücken auf die Geburtenrate.
Auch die Kosten, die Kinder bedeuten, drücken auf die Geburtenrate. Schon eine reibungslos verlaufende Geburt belastet in Japan junge Eltern in kleiner vierstelliger Euro-Höhe. Das Kindergeld bis zum 15. Lebensjahr beträgt zwischen 70 und 100 Euro pro Monat. Erst vor kurzem hat die Gouverneurin von Tokyo versucht, die Geburtenrate in der Metropolregion (2021: 1,08) zu erhöhen, indem sie für jedes Kind bis zum 18. Lebensjahr zusätzlich 35 Euro monatlich auslobte. Elterngeld und andere in Deutschland zu findende Unterstützungsleistungen gibt es nicht.
Japanische Eltern, die sich für ihren Nachwuchs gute Bildung und Jobchancen wünschen, wissen zudem um die enormen Schul- und Universitätsgebühren, die anfallen können. Wen wundert es, wenn eine überwiegende Mehrheit junger Frauen bei Umfragen angibt, nur einen solchen Mann heiraten zu wollen, der mit einem sicheren, hohen Einkommen auch Kinder finanzieren kann. Und ohne Ehe keine Kinder. Nur zwei Prozent der jungen Eltern sind in Japan nicht verheiratet und aus anderen Gründen als dem Kinderwunsch wird ohnehin kaum der Bund fürs Leben geschlossen.
Immer mehr junge Menschen fragen sich: Warum überhaupt Kinder?
Andere Faktoren sind für Japan nicht exklusiv: Da Frauen in der Mehrheit Männer mit gleichem oder höherem Bildungsniveau heiraten möchten, schrumpft der Heiratsmarkt sowohl für Männer als auch für Frauen mit jeder weiblichen Uniabsolventin. Bildung von Frauen korreliert negativ mit Eheschließung und Geburtenrate. Das liegt auch an der für mangelhaft befundenen Möglichkeit, Berufstätigkeit und Familie unter einen Hut zu bringen. Zweifellos zwingt der Arbeitskräftemangel Unternehmen, Zugeständnisse in den genannten Bereichen zu machen, doch auch die sind zu wenige und zu spät. Dass die Wahlbeteiligung Derjenigen bis 29 Jahre bei etwa 30 Prozent liegt, hilft ebenfalls nicht, um Druck auf Entscheidungsträger auszuüben. Von den 60- bis 69-Jährigen, die ohnehin zahlenmäßig viel größere Kohorte, machen über 70 Prozent von ihrem Stimmrecht Gebrauch. Von silver democracy ist nicht ohne Grund die Rede. Der gesellschaftliche Wandel ist längst so weit fortgeschritten, dass die Ein-Kind-Familie Normalität geworden ist und sich immer mehr junge Menschen fragen: Warum überhaupt Kinder? Warum überhaupt heiraten? Warum nicht lieber ein Haustier?
Unterdessen wird die Lage in ländlichen Regionen, in denen der Anteil der Betreuungsbedürftigen höher und der der jungen Menschen niedriger als in den Großstädten ist, immer schwieriger. Lokalpolitiker stehen deshalb unter großem Druck, Pflegekräfte aus dem Ausland zu rekrutieren. Die nationale Regierung macht es ihnen jedoch nicht einfach. Sie reagiert eher auf den Druck der Wirtschaft, die Arbeitskräfte in anderen, industriellen Branchen benötigt. Einwanderung findet auf einem für Industrienationen äußerst niedrigen Niveau statt, wird von Regierungsseite selten so bezeichnet und kaum durch Integrationsmaßnahmen flankiert. Und diejenigen, die da kommen sollen, für einen begrenzten Zeitraum und nur in wenigen Fällen Familie mitbringen dürfen, haben mit Taiwan und Südkorea zwei Alternativen, die in vielerlei Hinsicht attraktiver scheinen als Japan. Gleichzeitig schauen sowohl die Regierungsparteien als auch die Mehrheit ihrer Wählerschaft nach Europa und in die USA, erschrecken vor den negativen Seiten der dortigen Immigration(spolitik) und sind sich einig, für Japan nicht das Gleiche zu wollen. Vielleicht helfen ja High-Tech, Pflegeroboter, und Künstliche Intelligenz bei den Aufgaben, für die keine Menschen mehr zur Verfügung stehen.
Zu Beginn dieses Jahres war unter den vielen deutschen Delegationen, die sich regelmäßig aus dem Bundestag, von Parteien und aus Landesparlamenten ins schöne Japan aufmachen, auch eine, die hoffte, in ihrer ostasiatischen Destination Best-Practice-Beispiele für den Umgang mit niedriger Geburtenrate und gesellschaftlicher Alterung zu finden. Wenn das wirklich das Ziel war, hätte man besser das Klima geschont und auf die Flüge verzichtet. Aber vielleicht erinnert der Fall Japan die Gäste aus Deutschland ja zumindest daran, was geschehen kann, wenn man wichtige Probleme an runden Tischen aussitzt.