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Harmonie wird groß geschrieben in Japan. Das gilt für die Politik ebenso wie für die Gesellschaft im Allgemeinen. Doch der jüngste Wechsel auf dem Kaiserthron hat deutlich gemacht, wie sehr Japan unter der harmonischen Oberfläche mit der Suche nach seiner Identität beschäftigt ist.

Mit dem Rücktrittswunsch von Kaiser Akihito wusste die japanische Regierung und die Regierungspartei LDP nicht umzugehen. Ein Rücktritt des Kaisers ist in der Verfassung nicht vorgesehen und es gibt auch keine entsprechenden gesetzlichen Regelungen. Der Kaiser verkündete seinen Rücktrittswunsch im Fernsehen und überraschte die politische Klasse damit völlig, obwohl sein Rücktrittswunsch seit langem bekannt war. Er wollte nicht als debiler Greis im Amt sterben. Statt der Gefangene seines Amtes zu sein, nahm er sich das Recht, über sein Leben selbst zu bestimmen.

Die nationalkonservativen Unterhausabgeordneten der Regierungspartei LDP stellten sich gegen eine Abdankung des Kaisers. Der aber hatte die Bevölkerung auf seine Seite gebracht, eine für japanische Verhältnisse sehr unübliche Eigenwilligkeit. Das Gesetz, das den Rücktritt des Kaisers dann regelte, ist aber keine allgemeine Regelung. Es erlaubte nur den Rücktritt von Kaiser Akihito. Falls der neue Kaiser Naruhito eines Tages zurücktreten will, wird er ebenso um Erlaubnis bitten müssen wie sein Vater.

Japans politische Klasse fürchtet jede mögliche Veränderung des institutionellen Systems Japans wie der Teufel das Weihwasser. Die für Ausländer nur schwer verständliche Ritualisierung des kaiserlichen Zeremoniells, die ständige Betonung der angeblich uralten Traditionen des Kaiserhauses - man muss es als Versuche der Selbstvergewisserung verstehen.

Kaiser Hirohito und vor allem sein Sohn Akihito haben mit kleinen Gesten immer wieder zum Ausdruck gebracht, dass sie für eine Abkehr von der Politik des imperialistischen Japan bis 1945 stehen.

Die Nation vergewissert sich ihrer selbst durch die Person des Kaisers. Dieser äußert sich zwar nicht zu politischen Fragen. So können sich alle mit ihm identifizieren – jeder kann in ihm sehen, was er oder sie in ihm sehen wollen.

Trotzdem haben Kaiser Hirohito und vor allem sein Sohn Akihito mit kleinen Gesten immer wieder zum Ausdruck gebracht, dass sie für eine Abkehr von der Politik des imperialistischen Japan bis 1945 stehen. Nachdem 1978 die 14 Kriegsverbrecher, die vom Tokyoer Militärtribunal für die Verbrechen des Zweiten Weltkrieges zum Tode verurteilt wurden, in den Yasukuni Schrein aufgenommen wurden, besuchte Kaiser Hirohito den Schrein nicht mehr. Eine Begründung dafür gab er nicht. So vermied er einen Konflikt zwischen den gesellschaftlichen Gruppen, der die Einheit der Nation bedroht hätte.

Sein Nachfolger Akihito setzte diese Politik fort, auch nachdem Premierminister Junichiro Koizumi in seiner Amtszeit von 2001 bis 2006 jedes Jahr den Yasukuni Schrein besuchte und die nationalkonservativen Kreise in Japan mit der Publikation von Schulbüchern, die die Kriegsverbrechen Japans relativierten oder gar verneinten, im öffentlichen Diskurs an Einfluss gewannen.

Dass Akihito die Kriegsverbrecher im Schrein nicht ehrte, war ein klares Bekenntnis gegen ihre Politik. Zudem besuchte Akihito einen Großteil der Länder, die Japan mit Krieg überzogen hatte. Er äußerte Bedauern über das Leid, das der Krieg diesen Ländern gebracht hatte. In Asien, wo Symbolpolitik im öffentlichen Diskurs eine sehr viel größere Rolle spielt als im westlichen Kulturkreis, verstand man Akihitos Gesten sehr wohl. Jede weitergehende Äußerung in Richtung einer Entschuldigung wäre in Japan als politische Stellungnahm ausgelegt worden – diese aber ist dem Kaiser verboten.

Sollte deutlich werden, dass Masako gewandter als der Kaiser im Umgang mit ausländischen Staatsmännern ist, wird sie die Kritik der Konservativen auf sich ziehen.

Der neue Kaiser Naruhito hat als Kronprinz deutlich gemacht, dass er in der Frage des Umgangs mit der imperialistischen Vergangenheit Japans der Linie seines Vaters folgen wird. Mehr noch als sein Vater hat er das Image eines weltoffenen Menschen. Allerdings sieht er auch stärker als sein Vater die Notwendigkeit, die rigiden sozialen Strukturen Japans aufzubrechen und die Diversifizierung der Gesellschaft mit dem Eintritt für Toleranz zu unterstützen.

Naruhito ist mit der Diplomatentochter Masako Owada verheiratet, deren Vater ein hoher Beamter im Außenministerium war. Sie studierte in Harvard, Oxford und an der Tokyo Universität. Ihr Weg für eine Top-Karriere im Außenministerium schien geebnet. Als der damalige Kronprinz Naruhito sie heiraten wollte, zögerte sie lange. Ihr war klar, dass ihr Wissen und ihre erworbenen Fähigkeiten an der Seite des Kaisers nicht gefragt sein würden. Sie hatte vor allem einen männlichen Thronfolger zu gebären, um das Überleben des japanischen Kaiserhauses zu sichern. Masako Owada wusste mit Sicherheit, dass ohne einen männlichen Thronfolger, ohne die Identifikationsfigur des Kaisers, Japans Einheit als Nation auf dem Spiel stand. Sie hatte gewissermaßen das Überleben der japanischen Nation zu sichern.

Masako Owada entschied sich nach langem Zögern, ihrer zu erwartenden glanzvollen diplomatischen Karriere zu entsagen und den Kronprinzen zu heiraten. Als sie eine Tochter zur Welt brachte, geriet sie prompt in eine lang anhaltende Depression. Diese scheint sie inzwischen weitgehend überwunden zu haben. In den Medien wird nun nicht mehr von ihrer Depression gesprochen, sondern von ihren außergewöhnlichen Fähigkeiten. Sie ist die ehemalige Diplomatin, die mit den Staatsmännern der Welt ohne Dolmetscher in verschiedenen Sprachen parliert und ein modernes, weltoffenes Japan repräsentiert. Aber ihre Fähigkeiten sind in Japan ein zweischneidiges Schwert. Zuviel Weltoffenheit ist bei Japans Konservativen nicht gefragt. Sollte deutlich werden, dass sie gewandter als der Kaiser im Umgang mit ausländischen Staatsmännern ist, wird sie die Kritik der Konservativen auf sich ziehen.

Die immerwährende Berufung auf die Tradition und die Praktizierung angeblich uralter Rituale bei der Inthronisation sind Ausdruck einer fragilen nationalen Identität.

Die Art und Weise aber, in der Hoffnungen in Kaiserin Masako gesetzt werden, macht deutlich, dass Japan das Selbstbewusstsein eines Landes mit einer großen Tradition abgeht. Daran ändert auch die fortwährende  Betonung des Status als ältester Monarchie der Welt nichts. Die immerwährende Berufung auf die Tradition und die Praktizierung angeblich uralter Rituale bei der Inthronisation sind gerade Ausdruck der Fragilität der nationalen Identität. Japan hat sich mit der Meiji-Restauration ab 1868 neu erfunden, aber die neu erfundene Identität ist bis heute äußerst fragil und muss immer wieder in übertriebener Weise aufs Neue behauptet werden.

Die Nachbarländer, die unter der imperialen Politik Japans besonders gelitten haben und ein Wiederaufleben des japanischen Imperialismus fürchten, monieren insbesondere die Berufung Japans auf die Shinto-Religion als Ideologie des japanischen Imperialismus. Shinto gilt als japanische Ur-Religion. Sie ist die älteste und neben dem Buddhismus die am häufigsten praktizierte Religion in Japan.

In der 1946 verabschiedeten Verfassung sind Religion und Staat getrennt, aber es gibt eine Reihe von Shinto-Ritualen, die der Kaiser beispielsweise bei seiner Inthronisation vollzieht, die der Verfassung wiedersprechen. Dazu gehört das jährliche Daijosiai-Ritual, bei dem der Kaiser seiner Ur-Mutter, der Sonnengöttin Amaterasu, Erntegaben zu bringen hat. Bei der Thronbesteigung Kaiser Akihitos 1990 gab es eine Klage vor dem Supreme Court gegen die Finanzierung des religiösen Rituals durch den Staat. Der Supreme Court, Japans höchstes Gericht, aber urteilte, der Grad der Vermischung von Religion und Staat sei akzeptabel.

Auch jetzt liegt wieder eine solche Klage vor. Zu vermuten ist, dass sich der Supreme Court auch diesmal nicht dazu durchringen wird, ein Urteil gegen die konservativen Kräfte zu fällen. Premier Shinzo Abe ist ein erklärter Befürworter der Verschränkung von Staat und Shinto-Religion. Der neue Kaiser Naruhito dürfte es kaum wagen, gegen dieses Kernstück konservativer Politik explizit Stellung zu beziehen. Japans Kampf zwischen Weltoffenheit und ideologischer Borniertheit setzt sich auch unter dem neuen Kaiser fort.