In China fand die deutsche Bundestagswahl große Beachtung. Sorge bereitet dort nicht nur, dass mit Kanzlerin Merkel eine westliche Staatschefin abtritt, die in China Wohlwollen und höchstes Ansehen genoss, sondern auch, dass die Zusammensetzung der Bundesregierung, mit der China in Zukunft kooperieren muss, noch unklar ist.

In der öffentlichen Debatte über die Auswirkungen der politischen Veränderungen in Deutschland auf die Außenpolitik und die chinesisch-deutschen Beziehungen wird in China meist auf „Merkels politisches Erbe“ verwiesen. Besonders häufig lobt man sie für Stabilität, Pragmatismus und das Bemühen um Ausgleich. Hin und wieder ist auch der unzutreffende Vergleich mit der „Eisernen Lady“ Margaret Thatcher zu hören. Da ein tieferes Verständnis des politischen Systems Deutschlands und Europas fehlt, konzentriert sich die chinesische Öffentlichkeit oft auf Einzelpersonen und bringt politische Akteure und Länder gern durcheinander. Zwar wurde Merkel in China wegen ihrer Flüchtlingspolitik auch kritisiert, doch insgesamt überwog das positive Bild. Es gelang Merkel auch, in der chinesischen Bevölkerung das Ansehen von „Made in Germany“ weiter anzuheben. Die 16 Jahre unter Merkel haben den chinesisch-deutschen Beziehungen ihren Stempel aufgedrückt. Beide Seiten werden sich nun erstmal mit diesem „Erbe“ auseinandersetzen müssen.

Merkels chinapolitisches Erbe verwandelt sich für ihren Nachfolger womöglich in einen Schatten.

Zu Beginn von Merkels Kanzlerschaft erreichten die deutsch-chinesischen Beziehungen durch eine veränderte Haltung zu Tibet 2007 einen Tiefpunkt. Diese Erfahrung beeinflusst in China auch die Wahrnehmung der neuen Bundesregierung. In Anbetracht der zunehmend vielfältigen öffentlichen Meinung und Politik in Deutschland sollte China vonseiten der kommenden Regierung zunächst auf Kritik in Menschenrechtsfragen oder eine medienwirksame Thematisierung der „Systemkonkurrenz“ gefasst sein. Ungeachtet der sich zuspitzenden Auseinandersetzungen der letzten zwei Jahre, auf die Merkel-kritische Stimmen gern verweisen, ist ein weiterer Aspekt des Merkelschen Erbes die langfristige Stabilität, die ihre China-Politik gebracht hat. Auch wenn die Beziehungen der neuen Bundesregierung zu China weiterhin den Gesetzen von Anpassung und Stabilisierung folgen, dürften die politischen Prozesse angesichts einer insgesamt kritischeren Haltung gegenüber China komplizierter und instabiler werden. In diesem Sinne verwandelt sich Merkels chinapolitisches Erbe für ihren Nachfolger womöglich in einen Schatten.

Das bundesdeutsche Wahlsystem hat der Welt eine Vielzahl mathematisch möglicher Koalitionen beschert. Obwohl wir uns noch einige Zeit gedulden müssen, bis die neue Regierungskonstellation klar ist, wird es sich doch mit großer Wahrscheinlichkeit um die erste Dreiparteienkoalition seit dem Zweiten Weltkrieg handeln. Bei dem knappen Abstand zwischen SPD und CDU/CSU ist noch nicht entschieden, wer die Koalitionsverhandlungen führen und abschließen wird. Doch Grüne und FDP werden jedenfalls mehr Verhandlungsmacht und in der Koalition auch mehr Gewicht haben. Nicht nur werden sie ihre eigenen politischen Positionen entschiedener vertreten können, sondern sie werden auch wichtige Kabinettsposten fordern. Eine neue deutsche Dreiparteienkoalition dürfte den Eindruck einer schwachen Regierung nur schwer vermeiden können. China interessiert, was aus einer solchen schwachen Regierung folgt, etwa die Zunahme politischer Spielchen, verminderte Entscheidungseffizienz und mangelnde politische Konsequenz.

Eine neue deutsche Dreiparteienkoalition dürfte den Eindruck einer schwachen Regierung nur schwer vermeiden können.

Nach der Merkel-Ära ist es genauso wichtig, Veränderungen herbeizuführen, wie Stabilität zu bewahren. Sowohl SPD als auch CDU/CSU versuchen, ein Gleichgewicht aus Wandel und Stabilität herzustellen, doch aufgrund der komplexen Dynamik im Kooperationsspiel der neuen Dreiparteienregierung dürfte eine Arbeitsteilung entstehen, bei der kleine Parteien für Veränderungen und große Parteien für Stabilität zuständig sind.

Falls eine künftige Bundesregierung wie beschrieben agiert, wird sich China auf einen neuen Partner einstellen müssen, der politische Stabilität anstrebt, in seiner konkreten Politik aber schwankt, der echten Konsens herstellt und trotzdem uneinheitlich handelt. Die Außenpolitik war im Wahlkampf kein heißes Thema, doch in der Öffentlichkeit wurde durchaus die Forderung laut, die Chinapolitik müsse ein wichtiger Bestandteil des notwendigen Wandels sein.

Im Kontext der neuen Lage, der neuen Struktur und der neuen Regierung muss sich die deutsche Chinapolitik verändern. Aber in welche Richtung wird es gehen? Wird der Konsens in Frage gestellt, werden Unterschiede betont oder Widersprüche provoziert? Oder wird man die bilateralen Beziehungen stärken, indem man den Wettbewerb gestaltet und die Zusammenarbeit fördert? Wird man den innen- und außenpolitischen Druck auf China abwälzen oder zuverlässig nach gemeinsamen Nennern suchen? Die neue Bundesregierung muss diese Fragen beantworten und ihren chinesischen Partnern die entsprechende Botschaft übermitteln.

Im Kooperationsspiel der neuen Dreiparteienregierung dürfte eine Arbeitsteilung entstehen, bei der kleine Parteien für Veränderungen und große Parteien für Stabilität zuständig sind.

Dank ihrer politischen Konstanz konnte die Bundesrepublik ihren Einfluss auf die Europa- und Weltpolitik ausbauen und erreichen, dass sich die chinesisch-deutschen und die chinesisch-europäischen Beziehungen gegenseitig verstärkten. Diese Wechselbeziehung manifestiert sich in der wirtschaftlichen Zusammenarbeit, im strategischen Dialog, in der politischen Vertrauensbildung und im persönlichen Austausch auf zweierlei Art. Zum einen wirkt sich die erfolgreiche Kooperation zwischen China und Deutschland insbesondere wirtschaftlich positiv auf die EU und die übrigen Mitgliedsstaaten aus, sodass die EU hier von der chinesisch-deutschen Zusammenarbeit profitiert. Auch der Rechtsstaatsdialog zwischen China und der EU ist dem Erfolg des chinesisch-deutschen Dialogs zu verdanken. Zum anderen kann Deutschland eine aktive Rolle in der Krisenbewältigung spielen, falls es auf chinesisch-europäischer Ebene zu Differenzen kommt. Ein eindrückliches Beispiel ist der Streit um Solarmodule zwischen China und der EU, der mit deutscher Hilfe beigelegt wurde.

China hat keinen Anlass, den freundlichen Umgang zu beenden, nimmt aber in Deutschland wie auch in der Europäischen Union sehr wohl Veränderungen wahr: Die Bundesrepublik verfolgt eigene Interessen, indem sie die Kollektivmacht der EU stärkt. Und die EU fördert die Solidarität – die gemeinsame Stimme in der Außenpolitik –, indem sie die unterschiedlichen Haltungen in den Mitgliedsstaaten und den EU-Institutionen gegenüber China ausgleicht. Daher ist es durchaus möglich, dass die zukünftige Rolle der neuen Bundesregierung in den europäisch-chinesischen Beziehungen darin besteht, ihren finanziellen und regulatorischen Einfluss in der EU für eine gemeinsame EU-Politik gegenüber China einzusetzen.

Deutschland und Europa sollten sich jedoch klarmachen, dass es unvernünftig und nicht praktikabel ist, im Umgang mit China Regelwerk und Modell vorzugeben.

China kann sich in seinen Beziehungen zu den Europäern langfristig nicht einseitig auf einen bestimmten Mitgliedsstaat verlassen, weil sich in der aktuellen Situation nur schwer vermeiden lässt, dass die beiden Ebenen in einen Konflikt geraten. Ebenso unklug wäre es, angesichts einer schwachen Regierung in Deutschland stattdessen verstärkt mit Frankreich oder anderen europäischen Ländern zu kooperieren, um die chinesisch-europäischen Beziehungen zu gestalten.

So wird China voraussichtlich die direkte Kommunikation und den Dialog mit den EU-Institutionen stärken müssen. Deutschland und Europa sollten sich jedoch klarmachen, dass es unvernünftig und nicht praktikabel ist, im Umgang mit China Regelwerk und Modell vorzugeben. Da die europäische Integration noch nicht abgeschlossen ist, liegt für China die bilaterale Zusammenarbeit mit bestimmten Mitgliedsstaaten nahe. Das hat mit einer „Verschwörung zur Spaltung Europas“ nichts zu tun, sondern ergibt sich logisch aus dem Zustand der Europäischen Union.

Da beide Seiten in der Vergangenheit gemeinsame Interessen erfolgreich durchgesetzt und zusammen viel Verantwortung geschultert haben, gibt es keinen Grund für allzu pessimistische oder auch für allzu optimistische Vorhersagen. Wenn es nicht gelingen sollte, in die Vergangenheit zurückzukehren, dann gehen wir doch am besten mit mehr Mut in die Zukunft.

Aus dem Englischen von Anne Emmert