Wie lange mag Kim Jong-un geduldig warten? Wie viel Zeit lässt Nordkorea der Biden-Regierung für eine neue Nordkoreapolitik? Für das nordkoreanische Regime war die Trump-Administration nach einer euphorischen Anfangsphase letztlich eine herbe Enttäuschung. Im Rahmen der Treffen zwischen Trump und Kim Jong-un wurde zwar großspurig von einem baldigen Deal zur Denuklearisierung der koreanischen Halbinsel gesprochen. In den konkreten Verhandlungen im Anschluss daran stellte sich aber rasch heraus, dass die beiden Staatsoberhäupter mit allzu breitem Pinsel über die praktischen Probleme und die fundamentalen Differenzen der amerikanisch-nordkoreanischen Annäherung hinweggewischt hatten.
Seit mindestens zwei Jahren herrscht Funkstille. Nach vier Jahren erratischer Politik wartet Pjöngjang, wie sich die Regierung Biden gegenüber Nordkorea positionieren wird. Doch aus Washington ist keine rasche Antwort zu erwarten. Auch wenn Biden ein erfahrener Außenpolitiker ist, gelten für seine Regierung zunächst innergesellschaftliche Prioritäten: die Bewältigung der Corona-Krise, der verheerende wirtschaftliche Einbruch, die Spaltung der Gesellschaft, der Kampf gegen Rassismus und die Konsequenzen aus dem Sturm auf das Kapitol.
Es ist daher nicht unwahrscheinlich, dass Nordkorea – in aus der Vergangenheit bekannter Manier – provokativ Raketen abschießt und Atomsprengköpfe testet, weiter Uran für den Atomwaffenbau anreichert, an der innerkoreanischen Grenze zündelt und Politiker in Seoul und Washington beschimpft. Mit solchen Aktionen am Rande des Abgrunds hat die nordkoreanische Regierung schon häufig versucht, internationale Aufmerksamkeit zu erlangen. Immer mit dem Ziel, die wirtschaftlich schädliche Isolierung des Landes zu überwinden und die verhängten Wirtschaftssanktionen zu lockern.
Maximalistische Positionen konnten in der Vergangenheit Nordkorea nicht von seinem Kurs abbringen – nicht zuletzt, da insbesondere China und Russland die Isolierung Nordkoreas allenfalls halbherzig mitgetragen haben.
Lange – für Nordkoreas Regierung zu lange – wurden die Themen Nordkorea und sein Atomprogramm auf der internationalen Bühne in den Hintergrund gedrängt. Mit der Vereidigung Joe Bidens als Präsident wird es aber früher oder später auf der Tagesordnung stehen. Noch ist nicht klar, wie sich die neue US-Regierung verhalten wird. Über drei unterschiedliche, sich zum Teil gegenseitig ausschließende Ansätze spekulieren Beobachter, mit denen die Biden-Regierung die Instabilität und Gefahr, die von Nordkorea ausgeht, angehen könnte.
Erstens das Denuklearisierungsparadigma: Verfechter dieser Politik argumentieren, dass Nordkorea Vorleistungen erbringen muss – also Teile des Atom- und Raketenprogramms zurückfahren oder zumindest einfrieren muss –, bevor Verhandlungen geführt und die Sanktionen gelockert oder aufgehoben werden können. Langfristig geht es um die komplette Abrüstung des Atomprogramms. Um die nordkoreanische Regierung zu einer solchen Politik zu bewegen, ist nach diesem Konzept die Aufrechterhaltung von Druck und Zwangsmaßnahmen unbedingt erforderlich. Gleichzeitig wird auch die militärische Kooperation mit den amerikanischen Verbündeten Südkorea und Japan betont. Aber maximalistische Positionen konnten in der Vergangenheit Nordkorea nicht von seinem Kurs abbringen – nicht zuletzt, da insbesondere China und Russland die Isolierung Nordkoreas allenfalls halbherzig mitgetragen haben.
Die zweite Variante sieht eine graduelle nukleare Abrüstung bei gleichzeitiger Lockerung der wirtschaftlichen Sanktionen vor. Dieses Paradigma nimmt zur Kenntnis, dass die nordkoreanische Regierung ihr Atomprogramm als Lebensversicherung betrachtet und nicht bereit ist, Vorleistungen bei der Rüstungskontrolle oder Abrüstung zu erbringen. Es wird zur Kenntnis genommen, aber nicht akzeptiert, dass Nordkorea mit Atomwaffen Politik macht. Reziprozität und Gleichzeitigkeit ist der Kern dieser Strategie. Es müssten Maßnahmen zum Einfrieren bestimmter Nuklearanlagen in Nordkorea erfolgen und gleichzeitig humanitäre oder Wirtschaftshilfe von den USA und anderen Ländern geleistet werden, so wie sie bei dem Treffen zwischen Donald Trump und Kim Jong-un im Juni 2018 in Singapur und im Februar 2019 in Hanoi ins Auge gefasst wurden.
Wenn vertrauensbildende Maßnahmen greifen, könnte die vertrackte Lage in Korea gelöst werden, so wie es in den 1980er-Jahren zwischen Ost und West in Europa gelang.
Bekanntlich wurde das zweite Gipfeltreffen in Hanoi wegen unüberbrückbarer Differenzen vorzeitig abgebrochen. Das heißt aber nicht, dass eine solche Strategie von vornherein zum Scheitern verurteilt wäre. Ein graduell in Gang gesetzter Prozess, so die Protagonisten dieser Position, würde sich gegenseitig befördern und Schritt für Schritt eine Entspannung einleiten. Wenn entsprechende vertrauensbildende Maßnahmen greifen, könnte die vertrackte Lage in Korea gelöst werden, so wie es in den 1980er-Jahren zwischen Ost und West in Europa gelang.
Die dritte mögliche Variante fußt darauf, strategische Stabilität zu bewahren; im Namen der Stabilität Geduld aufzubringen und nicht an den bestehenden Verhältnissen zu rütteln. Weniger positiv ausgedrückt: „abwarten und nichts tun“. Dieses Politikmuster wurde von der Obama-Regierung verfolgt. Allerdings versuchten die USA parallel, international Druck aufzubauen. Nordkorea dagegen hat in den acht Obama-Jahren das Raketen- und Atomprogramm ausgebaut und modernisiert.
Es ist nicht unwahrscheinlich, dass die Biden-Regierung dieses Paradigma wieder aufgreift. Biden hat als Vizepräsident diese Nordkoreapolitik mitgetragen. Sie hätte für die neue Regierung den Vorteil, zumindest zunächst über kein neues Politikmuster entscheiden zu müssen; denn in den letzten beiden Jahren ist diese Politik des Abwartens und Nichtstuns unausgesprochen weiterverfolgt worden. Es haben keine ernsthaften Verhandlungen stattgefunden. Der zweite Vorteil für Biden bestünde darin, dass er sich nicht sofort auf allen wichtigen Politikfeldern gleichzeitig betätigen müsste und seine innenpolitischen Prioritäten verfolgen könnte.
Sich auf die eigenen militärischen Mittel – allen voran Nuklearwaffen – zu verlassen, hat hohe Priorität bei der nordkoreanischen Regierung.
Der große Nachteil aber ist – dies zeigen die Erfahrungen der Vergangenheit –, dass vermutlich Nordkoreas Regierung nicht tatenlos zusehen wird. Wahrscheinlich werden das Raketen- und Atomprogramm mit allen verfügbaren Mitteln weiter vorangetrieben. Sich auf die eigenen militärischen Mittel – allen voran Nuklearwaffen – zu verlassen, hat hohe Priorität bei der nordkoreanischen Regierung.
Unruhe und Ungeduld in Nordkorea wachsen. Die Regierung Kim will nach Möglichkeit nicht länger als internationaler Paria behandelt werden. Das Regime hat gerade erst die Notwendigkeit wirtschaftlicher Reformen öffentlich anerkannt. Für wirkungsvolle Reformen bedarf es des Endes der Isolation und zumindest einer Lockerung der Sanktionen. Mit Donald Trump auf Augenhöhe zu verhandeln, war seinerzeit für Kim Jong-un ein wichtiger symbolischer Akt. Entsprechend wurde er in Pjöngjang zelebriert, auch wenn er letztlich nicht zur gewünschten Veränderung der außenpolitischen Beziehungen geführt hat.
Es ist zu befürchten, dass Nordkorea zunächst keine hohe außenpolitische Priorität in Washington hat, ebenso wenig Verhandlungen im Sinne der Strategie der graduellen Abrüstung und Annäherung und dass Pjöngjang gleichzeitig die Geduld verliert. Mit weiteren Raketenabschüssen und Nukleartests würden aber die Chancen für eine langfristig angelegte Nordkoreapolitik der USA verbaut werden.