Das Jahr 2022 war einschneidend für den Westen und das Militärbündnis NATO. Die russische Invasion in die Ukraine und die zunehmenden militärischen Drohungen Chinas gegen Taiwan zwangen die NATO dazu, ihre Risikoanalyse zu justieren.
Bemerkenswert war deshalb das NATO-Gipfeltreffen in Madrid im Juni: Zwei fernöstliche Staaten, Südkorea und Japan, waren eingeladen. Während Japan bereits im Rahmen der G7 als westlicher Akteur agiert, war insbesondere die südkoreanische Einladung zum Gipfel erstaunlich. Obwohl Seoul schon seit 2006 ein globaler Partner der NATO ist, waren bisherige Kooperationen eher von diplomatischer Bedeutung. Schon früher wurde Südkorea mehrmals zu NATO-Außenministertreffen eingeladen, ohne dass daraus ein geopolitisches Engagement des Landes für die NATO oder für Europa folgte. Doch die Bedingungen haben sich gewandelt. Die Gipfel-Einladung wurde vom mit Abstand wichtigsten Akteur der Nato forciert – den USA, dem Bündnispartner Südkoreas. Folgt nun eine neue sicherheitspolitische Bedeutung Japans und Südkoreas für Europa und den Fernen Osten?
Am 28. Dezember veröffentlichte die südkoreanische Regierung unter dem neuen Präsidenten Yoon Suk-Yeol erstmals eine Indopazifikstrategie. Der Schwerpunkt des Landes solle in Zukunft auf der Förderung von Freiheit, Frieden und Wohlstand durch die Schaffung einer auf Regeln basierenden Ordnung sowie die Zusammenarbeit bei den Themen Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten liegen. Das 43-seitige Dokument beinhaltet nur einen Absatz zu China, dem größten Handelspartner Seouls und Rivalen des wichtigsten Verbündeten, der USA. Yoon hatte bei seinem Amtsantritt im Mai eine harte Linie gegenüber China angekündigt und seitdem die Sicherheitszusammenarbeit mit den USA intensiviert.
Die Indopazifikstrategie geht indirekt auf die Befürchtungen eines militärischen Vorgehens Chinas gegen Taiwan ein und fordert eine Wiederaufnahme des Gipfeltreffens zwischen Südkorea, Japan und China, das zuletzt im Jahr 2019 stattfand. Dazu heißt es, die Kooperation mit Japan sei für die Förderung von Zusammenarbeit und Solidarität zwischen gleichgesinnten Nationen im indopazifischen Raum von wesentlicher Bedeutung – ein deutlicher Hinweis, dass Yoon die Beziehungen zwischen den Nachbarn verbessern will. Auch will Seoul die Zusammenarbeit mit dem Quad – dem Quadrilateral Security Dialogue zwischen Australien, Indien, Japan und den USA – ausbauen, der als Gegengewicht zu Chinas regionalen Ansprüchen gilt. Aus Washington gab es umgehend Lob für die Indopazifikstrategie.
Eine sicherheitspolitische Partnerschaft mit Südkorea und Japan hätte strategische Vorteile für die NATO.
Eine Annäherung Südkoreas und Japans und eine sicherheitspolitische Partnerschaft mit den beiden ostasiatischen Staaten hätte strategische Vorteile für die NATO. Auf Südkorea bezogen: Erstens kann sie von der Stärke des südkoreanischen Militärs profitieren, nicht zuletzt in Anbetracht der chinesischen Aufrüstung im Indopazifik. Das südkoreanische Militär ist aufgrund der steten nordkoreanischen Militärprovokationen gerüstet und einsatzbereit. Dazu veranstaltet Südkorea jährlich große Militärübungen zusammen mit den USA. Zweitens kann Südkorea im Rahmen der Rüstungskooperation etwas zur NATO beitragen und hochqualitative Waffen liefern. Wie wettbewerbsfähig die Rüstungsindustrie ist, zeigt etwa die Bestellung von südkoreanischen Panzern und Panzerhaubitzen durch Polen als Reaktion auf die russische Invasion der Ukraine. Drittens kann Südkorea als digitale Führungsmacht die NATO-Cybersicherheit gegenüber Russland und China (oder auch Nordkorea) stärken. Viertens, als weltweit wichtiger Chip-Hersteller wird Südkorea mit Japan und Taiwan von den USA als Teil einer Chip-Allianz gesehen, deren Aufgabe darin besteht, China komplett von den Chip-Lieferketten zu isolieren. Im Umkehrschluss dient Südkorea somit als verlässlicher Partner in der Chip-Lieferkette der NATO-Staaten.
Die jetzige japanische Regierung von Fumio Kishida will bis 2027 die Militärausgaben des Landes auf zwei Prozent des BIPs steigern und 500 Tomahawk-Cruise-Missiles beschaffen. Die so gesteigerten militärischen Fähigkeiten Japans würden der NATO mehr strategische Optionen bieten in Anbetracht der militärischen Aufrüstung Chinas im Indopazifik.
Aus fernöstlicher Sicht würde eine strategische Partnerschaft mit der NATO dazu beitragen, besser mit der chinesischen Militärbedrohung umzugehen. Als erster Schritt könnten gemeinsame Militärübungen zwischen der NATO und ostasiatischen Staaten im Indopazifik (wo die USA, Frankreich, Großbritannien und auch Deutschland bereits jetzt militärisch präsent sind) oder in Europa durchgeführt werden, um etwa die Verteidigung des freien und offenen Verkehrs im Südchinesischen Meer sicherzustellen. Als zweiter Schritt wäre es vorstellbar, dass die fernöstlichen Staaten und die NATO ein Geheimdienstbündnis etablieren, vergleichbar mit den Five Eyes der angelsächsischen Mächte. Dadurch könnten beiden Seiten Militärinformationen untereinander austauschen und einfacher gemeinsame Strategien gegenüber China und Russland entwerfen. Als dritter Schritt könnten die NATO und fernöstliche Staaten ein informelles Militärbündnis vergleichbar mit dem Quad gründen, womit beide Seiten die kollektive Sicherheit stärken würden.
Japan und Südkorea müssen ihre Beziehungen deutlich verbessern.
Um die strategische Partnerschaft zwischen der NATO und dem Fernen Osten erfolgreich zu entwickeln, ist es wichtig, die Beziehungen zwischen Südkorea und Japan deutlich zu verbessern. Der schwelende Konflikt um die Aufarbeitung der japanischen Kolonialgeschichte steht einer engen Kooperation entgegen. Die koreanischen Zwangsprostituierten in der Kolonialzeit, die Besuche japanischer Politiker beim Yasukuni-Schrein, wo japanische Kriegsverbrecher begraben sind, oder der Grenzstreit um die Liancourt-Felsen (Dokdo auf Koreanisch/Takeshima auf Japanisch) sind Beispiele für die ungelösten historisch sensiblen Streitpunkte. Dazu kommen die 2019 verhängten japanischen Handelssanktionen gegen Südkorea, die darauf zielen, den weiteren Aufstieg der südkoreanischen Industrien zu erschweren. Erfreulicherweise will die jetzige Regierung Südkoreas von Yoon Suk-Yeol die Beziehungen mit dem Nachbarstaat stark verbessern, um die sicherheitspolitische Kooperation beider Seiten gegenüber China und Nordkorea voranzubringen. Die japanische Regierung wird nun auf die Signale aus Seoul reagieren müssen, gegebenenfalls auch unter Vermittlung der USA.
Die Entscheidung der NATO im August, den Antrag Südkoreas anzunehmen, eine Botschaft als Vertretung des Landes bei dem Militärbündnis zu benennen, ist ein gutes Signal für die Entwicklung einer engen strategischen Partnerschaft. Angesichts der steigenden militärischen Spannungen im Indopazifik und der militärischen Drohungen Chinas gegen Taiwan ist die Kooperation Südkoreas und der NATO nicht nur ein klares Signal der Abschreckung (und damit der Kriegsprävention), sondern auch ein Bekenntnis zur weltweiten Verteidigung der liberalen Werte, die beide Seiten teilen.