Straßensperren, Tränengas, über 1 000 Festnahmen – in Pakistans Hauptstadt demonstrierten an diesem Mittwoch Zigtausende Menschen gegen die Absetzung von Ex-Premier Imran Khan. Einmal mehr befindet sich das Land im Krisenmodus. Dabei gab es eigentlich einen Anlass zur Freude, als die Regierung Ende März 2022 angesichts niedriger Fallzahlen und einer hohen Impfquote das nationale Covid-Krisenzentrum auflöste. Schließlich ist Pakistan so gut wie nur wenige andere Länder durch die Pandemie gekommen. Doch statt Freedom Day tobt nun ein erbitterter Machtkampf um die Führung des Landes, die wirtschaftlichen Aussichten sind düster und die extremistische Gewalt nimmt zu. In Pakistan braut sich ein perfekter Sturm aus politischer Instabilität, wirtschaftlicher Schwäche und Terrorismus zusammen, der die ohnehin gefährdete Demokratie in dem südasiatischen Land weiter schwächt.

Zu eine­­­­­­­­­­­­­m ersten Donnerschlag kam es, als Premierminister Imran Khan am 10. April 2022 am Ende eines dramatischen Tages durch ein Misstrauensvotum im Parlament gestürzt wurde. Nur mit Unterstützung des Obersten Gerichtshofs und durch diskrete Hinweise des Militärs gelang es der Opposition, einen erfolgreichen Misstrauensantrag in der Nationalversammlung einzubringen. Seitdem kommt Pakistans Politik nicht mehr zur Ruhe. Noch 2018 wurde Imran Khan mit dem Versprechen gewählt, den Status quo aus Korruption, Nepotismus und wirtschaftlicher Stagnation zu überwinden. Der charismatische ehemalige Cricket-Spieler überzeugte mit seinem nationalistischen Populismus viele der von den beiden großen und in dynastischen Netzwerken organisierten Parteien PML-N und PPP enttäuschten Wähler. Doch nur drei Jahre später stand Khan mit leeren Händen da. Der erhoffte Aufbruch war ausgeblieben. Für Korruption und Nepotismus stand nun auch Khans Partei PTI. Zudem hatte sich durch äußere Einflüsse, aber auch durch Fehlentscheidungen und Missmanagement, die wirtschaftliche Lage deutlich verschlechtert. Als Khan dann auch noch durch eine umstrittene Personalentscheidung in der Armeeführung seinen Rückhalt beim mächtigen Militär verlor, waren seine Tage als Premierminister gezählt. Mit den Stimmen von PML-N, PPP und kleiner Parteien wurde Shehbaz Sharif, Bruder des früheren Premierministers Nawaz Sharif, ins Amt gewählt. Damit kehren die alten Eliten an die Macht zurück.

Die neue Regierung sei, so Khan, eine aus dem Westen „importierte Regierung“ ohne jede Legitimation.

Doch Khan ist keineswegs geschlagen. Bereits vor seinem unfreiwilligen Abgang mobilisierte er seine Anhänger. Für den Nachmittag des 25. Mai hatte die PTI einen „Freiheits-Marsch“ auf die Hauptstadt Islamabad angekündigt. Khan drohte, dass man so lange die Straße mobilisieren werde, bis es Neuwahlen gebe. Wie zu Oppositionszeiten, als die PTI 2014 mit mehr als 100 000 Menschen nach Islamabad marschierte und anschließend für 126 Tage zentrale Plätze besetzte, bedient Khan dabei geschickt die Klaviatur des Populismus. Seine Erzählung einer westlichen Verschwörung zum Sturz der Regierung fällt in der pakistanischen Gesellschaft auf fruchtbaren Boden. Die von den USA angeführten Kriege im Irak und Afghanistan haben bis heute den ohnehin schlechten Ruf des Westens bei vielen Pakistanern ruiniert. Die neue Regierung sei, so Khan, eine aus dem Westen „importierte Regierung“ ohne jede Legitimation. Sie müsse mit allen Mitteln beseitigt werden. Auf landesweiten Massendemonstrationen leugnen Khan und seine Anhänger die Rechtmäßigkeit des Misstrauensvotums, greifen den Obersten Gerichtshof an und lassen zuletzt sogar kritische Töne gegen das Militär vernehmen. In Erwartung des Freiheits-Marsches, zu dem die Organisatoren mehr als 100 000 Demonstranten ankündigten und die Sicherheitskräfte einige zehntausend Teilnehmer erwarteten, wurde der Zugang zur Hauptstadt Islamabad gesperrt. Zuvor wurden zahlreiche führende PTI-Persönlichkeiten verhaftet, was die Stimmung zusätzlich anheizte. Da Khan den Rückhalt des militärischen Establishments als Königsmacher der pakistanischen Politik verloren hat, dürfte er die anstehende Machtprobe mit der Regierung jedoch verlieren. Es bleibt ihm allerdings die Möglichkeit, mit politischer Gewalt für Chaos zu sorgen und damit Pakistans fragile Demokratie weiter zu destabilisieren.

Die Sorge wächst, dass sich die Unzufriedenheit gewaltätig entlädt. Dabei hat der als durchsetzungsstarke Macher geltende Shehbaz Sharif bereits alle Hände voll zu tun, um Pakistan vor einer Staatspleite zu bewahren. Von der Vorgängerregierung hat er eine desaströse Wirtschaftslage übernommen. Die Staatsverschuldung ist in den vergangenen Jahren explodiert, im Haushalt klaffen große Lücken und die Währungsreserven der Zentralbank sind auf knapp 10 Milliarden US-Dollar zusammengeschmolzen. Insbesondere die hohe Inflation von 10 Prozent und der auf immer neue Tiefstände fallende Wechselkurs der pakistanischen Rupie machen Grundnahrungsmittel, Strom und Benzin für viele, vor allem ärmere Familien, zunehmend unerschwinglich. Gewiss sind die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie, ebenso wie die durch den Klimawandel begünstigte aktuelle Hitzewelle, für die schlechte Wirtschaftslage mitverantwortlich. Vor allem aber leidet die pakistanische Wirtschaft unter gravierenden strukturellen Schwächen. Pakistan ist abgesehen von wenigen Ausnahmen wie der Textilindustrie kaum in globale Lieferketten eingebunden. Der bedeutende Wirtschaftssektor Landwirtschaft bleibt durch antiquierte Anbautechniken und Wassermangel weit unter seinen Möglichkeiten. Das Bildungssystem ist marode und stattdessen werden die knappen staatlichen Mittel für die Befriedigung der wirtschaftlichen Interessen der herrschenden Elite eingesetzt. Dadurch gerät Pakistan in die ökonomische Abhängigkeit auswärtiger Geldgeber, während der rasant wachsenden Bevölkerung Arbeitsplätze und Perspektiven fehlen.

Die aus dem Misstrauensvotum gegen Khan hervorgegangene wackelige Allianz aus PML-N und PPP dürfte kaum auf Dauer angelegt sein. Zu tief sind die Gräben zwischen den Parteien.

Premierminister Sharif gelobt zwar Besserung, doch für wirkliche Veränderungen bräuchte es eine starke Regierung mit einem deutlichen Mandat der Wähler für tiefgreifende Reformen in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft. Die aus dem Misstrauensvotum gegen Khan hervorgegangene wackelige Allianz aus PML-N und PPP dürfte hingegen kaum auf Dauer angelegt sein. Zu tief sind die Gräben zwischen den Parteien und die gegenseitige Abneigung ihrer Anführer. Neuwahlen vor dem nächsten regulären Wahltermin im Herbst 2023 sind daher wahrscheinlich. Diese kosten jedoch Zeit und Geld, beides ist in Pakistan derzeit Mangelware. Beunruhigend erscheinen daher die Parallelen zwischen Pakistan und Sri Lanka, wo unlängst eine ähnliche Gemengelage zum ersten asiatischen Staatsbankrott im 21. Jahrhundert mit extremen sozialen Verwerfungen geführt hat.

Aus dieser politischen und ökonomischen Gewitterfront wird ein perfekter Sturm, wenn man die sich rapide verschlechternde Sicherheitslage hinzunimmt. Zwar haben erfolgreiche Militäroffensiven nach 2014 zu einer deutlichen Verbesserung der Sicherheitslage in Pakistan geführt. Doch dies hat sich mit der Rückkehr der Taliban in Afghanistan geändert. Beflügelt durch den Erfolg der Islamisten im Nachbarland wittern die pakistanischen Taliban ebenso wie der afghanisch-pakistanische IS-Ableger Morgenluft. Im März ereignete sich bei dem IS-Anschlag auf eine schiitische Moschee in Peschawar der größte Terroranschlag seit Jahren. Die Sicherheitsbehörden werden zunehmend nervös, dass Extremisten die ohnehin schon explosive innenpolitische Lage zu ihrem Vorteil ausnutzen könnten. Das gilt insbesondere für die pakistanischen Taliban TTP. Noch im vergangenen Jahr hatte die Regierung in Islamabad gehofft, durch gute Beziehungen zu den Taliban in Kabul mäßigend auf die Taliban im eigenen Land einzuwirken. Diese Hoffnung hat sich nicht erfüllt. Im Gegenteil, es wird vermutet, dass die pakistanischen Taliban ihre Angriffe auch von afghanischem Territorium aus planen und vorbereiten, worauf Pakistan nach Berichten mit Luftschlägen in Afghanistan reagiert haben soll.

Auch wenn im Westen die Aufmerksamkeit durch den Krieg in der Ukraine gegenwärtig vor allem auf Mittel- und Osteuropa gerichtet ist, werden die geopolitischen Konflikte der Zukunft in Asien ausgetragen.

Wo kann die neue pakistanische Regierung also Zuflucht suchen? Der wichtigste Partner Pakistans ist seit vielen Jahren China. Das gigantische Infrastrukturprojekt China-Pakistan Economic Corridor soll Pakistans Wirtschaft langfristig auf die Beine bringen. Doch die Umsetzung zahlreicher Projekte stockt und stößt in besonders betroffenen Gegenden auf gewaltsamen Widerstand. Gewiss wird China auch in schweren Zeiten der zentrale strategische Partner Pakistans bleiben, das haben die jahrzehntelangen engen Beziehungen zwischen beiden Ländern gezeigt. Allerdings ist die Not mittlerweile so groß, dass Peking alleine sie nicht lindern kann (oder will). Imran Khan setzte seine Hoffnung Anfang des Jahres noch auf Russland. In der Tat bietet sich das energiehungrige Pakistan als Abnehmer von billigem russischem Gas und Öl an. Pakistans Enthaltung bei Abstimmungen in der UN-Generalversammlung zur Ukraine und Khans Staatsbesuch bei Wladimir Putin am Tag der Invasion in der Ukraine sind in Moskau zwar gut angekommen, doch das über zahlreiche Verbindungen in die USA verfügende militärische Establishment war weniger begeistert und konterkarierte Khans Avancen mit einer Verurteilung des russischen Angriffskrieges. Heute erscheinen pakistanische Hoffnungen auf eine Kooperation mit Russland als ökonomischen Game Changer angesichts der politischen und wirtschaftlichen Folgen des Krieges in der Ukraine als übertrieben optimistisch. Folgerichtig setzt die neue Regierung andere Akzente. Die erste Auslandsreise von Außenminister Bilawal Bhutto führte zu den Vereinten Nationen nach New York, wo er mit seinem amerikanischen Amtskollegen Antony Blinken zu einem bilateralen Gespräch in betont freundlicher Atmosphäre zusammentraf.  

Auch wenn im Westen die Aufmerksamkeit durch den Krieg in der Ukraine gegenwärtig vor allem auf Mittel- und Osteuropa gerichtet ist, werden die geopolitischen Konflikte der Zukunft in Asien ausgetragen. Südasien mit seinen drei Atommächten China, Pakistan und Indien nimmt in den Indo-Pazifik-Strategien von Bundesregierung und EU eine Schlüsselstellung ein. Es ist daher nicht zuletzt im eigenen Interesse des Westens, die taumelnde pakistanische Demokratie ungeachtet ihrer Versäumnisse und Defizite nach Kräften zu unterstützen, damit sie diesen perfekten Sturm übersteht.