Die Wirtschaftsberichterstattung über China konzentriert sich viel zu stark auf das Bruttoinlandsprodukt (BIP) für das ganze Land und nicht genügend auf das BIP pro Kopf, das die aussagekräftigere Kennzahl ist. Und diese verzerrte Berichterstattung hat Folgen, denn die beiden Kennzahlen zeigen deutlich unterschiedliche Bilder von Chinas aktueller wirtschaftlicher und politischer Lage. Sie lenken unsere Aufmerksamkeit zudem auf unterschiedliche Fragen.
Eine schnelle Suche in allen englischsprachigen Nachrichtenpublikationen in der ProQuest-Datenbank für den Zehnjahreszeitraum von 2011 bis 2021 zeigt, dass 20 915 Artikel Chinas BIP diskutierten, aber nur 1 163 sein BIP pro Kopf erwähnten. Proportional sogar noch größer war dieser Unterschied bei den acht größten und angesehensten Zeitungen, darunter der New York Times, dem Wall Street Journal und der Washington Post, wo 5 963 Artikel auf das chinesische BIP verwiesen, aber nur 305 das BIP pro Kopf diskutierten.
Im Jahr 2019 war Chinas BIP (zu Marktkursen) von 14 Billionen US-Dollar das weltweit zweithöchste hinter den USA (21 Billionen US-Dollar); auf dem dritten Platz lag Japan (fünf Billionen US-Dollar). Das aggregierte BIP spiegelt die Gesamtheit der Ressourcen – einschließlich der Steuerbasis – wider, die einer Regierung zur Verfügung stehen. Dies ist hilfreich für eine Betrachtung des Umfangs der staatlichen Investitionen Chinas wie etwa seines Raumfahrtprogramms oder seiner Militärkapazitäten. Für das Alltagsleben der chinesischen Bevölkerung jedoch ist es viel weniger relevant.
2019 betrug Chinas BIP pro Kopf 8.242 US-Dollar. Damit liegt das Land zwischen Montenegro und Botsuana.
Den meisten Ökonomen ist daher Chinas BIP pro Kopf – oder anders ausgedrückt: das Einkommen pro Person – wichtiger. Und die zentrale Erkenntnis ist hier, dass China trotz des phänomenalen Wachstums seines BIP in den vergangenen vier Jahrzehnten auch weiterhin ein armes Land bleibt. 2019 betrug Chinas BIP pro Kopf 8 242 US-Dollar. Damit liegt das Land zwischen Montenegro (8 591 US-Dollar) und Botsuana (8 093 US-Dollar). Sein BIP pro Kopf nach Kaufkraftparität – das heißt nach Bereinigung des Einkommens unter Berücksichtigung der Lebenshaltungskosten – betrug 16 804 US-Dollar. Dies liegt unter dem weltweiten Durchschnitt von 17 811 US-Dollar, und China belegt damit den 86. Platz in der Welt, zwischen Surinam (17 256 US-Dollar) und Bosnien und Herzegowina (16 289 US-Dollar). Im Gegensatz dazu beträgt das BIP pro Kopf nach Kaufkraftparität in den USA und der EU 65 298 bzw. 47 828 US-Dollar.
Um das Ausmaß der Armut in China zu begreifen, müssen wir uns zudem den Grad der Ungleichheit innerhalb seiner großen Bevölkerung vergegenwärtigen. Die Ungleichheit in China (gemessen durch den Gini-Koeffizienten) ähnelt der in den USA und Indien. Da China eine Bevölkerung von 1,4 Milliarden Menschen hat, bedeutet das, dass noch immer hunderte von Millionen Chinesinnen und Chinesen in Armut leben.
Laut Angaben der chinesischen Regierung haben 600 Millionen Menschen ein monatliches Einkommen von knapp 1 000 Yuan (155 US-Dollar). Das entspricht einem Jahreseinkommen von 1 860 US-Dollar. 75,6 Prozent dieser Menschen leben in ländlichen Gebieten. Um die Reihen der weltärmsten Länder zu verlassen, muss China die Einkommen einer Bevölkerung von der Größe jener Subsahara-Afrikas und mit ähnlichem Durchschnittseinkommen (Subsahara-Afrika: 1 657 US-Dollar) erheblich steigern. Und die chinesische Regierung weiß, dass sie das tun muss, um sich die Unterstützung der Bevölkerung zu erhalten. Unter ansonsten gleichbleibenden Umständen wird sie noch mindestens eine weitere Generation lang damit beschäftigt sein, die Einkommen im Lande zu steigern.
Die Erfahrung legt nahe, dass Sanktionen, Boykotte und militärischer Druck ihre beabsichtigten Ziele kaum erreichen dürften.
Doch kommen in der Politik „ansonsten gleichbleibende Umstände“ selten vor, und Regierungen können ihre Unterstützung in der Bevölkerung zudem auf eine Weise stärken, die das Wirtschaftswachstum nicht fördert. Die chinesische Regierung etwa betont ihre Rolle als Verteidigerin der Bevölkerung gegen äußere oder unpersönliche Kräfte wie etwa Erdbeben oder die Covid-19-Pandemie. Sie hat zudem in letzter Zeit eine aggressive Haltung in Bezug auf territoriale Streitigkeiten im Südchinesischen Meer und entlang der chinesisch-indischen Grenze eingenommen.
Die westlichen Länder haben auf diese und andere Maßnahmen auf viele Arten reagiert. Die USA weiten derzeit ihre Militärpräsenz im Südchinesischen Meer aus, während sich China aufgrund von Menschenrechtsbedenken zudem der Gefahr von Wirtschaftssanktionen und eines Boykotts der Olympischen Winterspiele in Peking 2022 ausgesetzt sieht.
Die Erfahrung legt nahe, dass Sanktionen, Boykotte und militärischer Druck ihre beabsichtigten Ziele kaum erreichen dürften. Russland etwa ist seit 2014 westlichen Wirtschaftssanktionen ausgesetzt – und die Regierung von US-Präsident Joe Biden hat kürzlich weitere Strafmaßnahmen angekündigt –, doch hat der Kreml seine Politik der Besetzung des Donezkbeckens in der Ostukraine trotzdem fortgesetzt. In ähnlicher Weise hatten im Kalten Krieg die Boykotte der Olympischen Spiele in Moskau 1980 und in Los Angeles 1984 kaum eine Wirkung auf eine der beiden Seiten. Im Gegenteil: Militärische Aggression provoziert häufig eine politische Gegenreaktion im Zielland und stärkt die Unterstützung für die Regierung. Wirtschaftssanktionen können ähnliche Auswirkungen haben und die öffentliche Unterstützung für eine kompromisslose politische Linie verfestigen.
Viele Chinesinnen und Chinesen glauben, dass der Westen versucht, neuerlich seine politische Vorherrschaft geltend zu machen, und fühlen sich schmerzhaft an den Kolonialismus und den Zweiten Weltkrieg erinnert.
Dieser Effekt lässt sich derzeit problemlos in China beobachten. Viele Chinesinnen und Chinesen glauben, dass der Westen versucht, neuerlich seine politische Vorherrschaft geltend zu machen, und fühlen sich schmerzhaft an den Kolonialismus und den Zweiten Weltkrieg erinnert. Damals kamen in China 20 Millionen Menschen ums Leben – mehr als in jedem anderen Land mit Ausnahme der Sowjetunion. Die von der westlichen Politik gegenüber China ausgelösten starken Emotionen überschatten die Tatsache, dass Chinas Handlungen Länder wie Indien, Vietnam und Indonesien, die ebenfalls unter einer brutalen Kolonialpolitik gelitten haben, mit Sorge erfüllen.
Zugleich lenken diese emotionalen Reaktionen die Aufmerksamkeit von wichtigen innenpolitischen Fragen ab, nicht zuletzt der Notwendigkeit, die Einkommen zu steigern. Chinas Arme, von denen den meisten Grenzstreitigkeiten oder internationale Sportereignisse ziemlich egal sein dürften, werden die Hauptleidtragenden eventueller Kollateralschäden sein.
Für einen effektiven Dialog mit China sollten sich andere Länder an Folgendes erinnern: Im Gegensatz zum ersten Eindruck ist das Land kein wirtschaftlicher Monolith. Hinter dem weltweit zweithöchsten BIP verbergen sich hunderte von Millionen Menschen, die einfach nur der Armut entkommen möchten.
Aus dem Englischen von Jan Doolan
(c) Project Syndicate