Im Schatten zweier geopolitischer Großkrisen, dem Wettstreit zwischen China und den USA im Pazifik sowie dem Krieg gegen die Ukraine in Europa, geht das Kräftemessen zwischen Indien und China im Himalaya weiter. Die beiden bevölkerungsreichsten Länder der Welt können sich seit mehr als sechs Jahrzehnten nicht über einen gemeinsamen Grenzverlauf im Gebirge verständigen. Es kommt immer wieder zu gefährlichen militärischen Scharmützeln, mit dem Risiko, dass der Konflikt außer Kontrolle gerät. Die einst nach ihrer Unabhängigkeit verbündeten Länder führten 1962 einen für Indien verlustreichen Krieg. In diesem Krieg ging es um teils mehr als 4000 Metern hoch gelegene, wirtschaftlich nicht besonders bedeutsame Territorien. Drei Grenzregionen sind bis heute umstritten: im westlichen Sektor in Ladakh das Gebiet des sogenannten Aksai Chin, im östlichen Sektor der indische Staat Arunachal Pradesh, den China als Süd-Tibet bezeichnet, und um den relativ ruhigen mittleren Sektor mit Sikkim.
Zwar haben Indien und China eine Line of Actual Control (LAC) ausgehandelt, die tatsächliche Grenzziehung bleibt aber weiter heftig umstritten und keiner der beiden Kontrahenten ist bereit, auch nur einen Quadratmeter des von ihm beanspruchten Territoriums abzutreten. Nicht einmal über die Länge der umstrittenen Grenze von fast 4000 Kilometern, geschweige denn über die Zugehörigkeit der jeweiligen Territorien ist man sich einig. Beide Seiten bauen ihre Infrastruktur und militärische Präsenz entlang der Grenze aus. Die Streitigkeiten sind ein koloniales Erbe, denn Großbritannien hinterließ die umstrittenen Gebiete bei Indiens Unabhängigkeit 1947 als „undefinierte Grenze zwischen China und Indien“. Seither hat es Dutzende Grenzzwischenfälle gegeben, zum Teil mit tödlichen Folgen, der letzte größere Konflikt, der in Indiens Öffentlichkeit Aufsehen erregte, fand am 15. Juni 2020 statt. Zwanzig indische Soldaten und eine unbekannte Zahl chinesischer Soldaten wurden dabei getötet. Danach gab es immer wieder Zusammenstöße.
Jetzt wird der Grenzkonflikt auch von der Geopolitik getrieben.
Jetzt wird der Grenzkonflikt auch von der Geopolitik getrieben. Die beiden oben erwähnten geopolitischen Großkrisen spielen in der heutigen indisch-chinesischen Konkurrenz eine wichtige Rolle. Indien verfolgt in beiden Krisen eine Politik der Äquidistanz. Kritiker in Europa und in den USA drängen Indien zu einer eindeutigeren Position und nennen die indische Haltung eine Schaukelpolitik. Sushant Singh, ein indischer Strategieexperte und ehemaliger Reporter der angesehenen englischsprachigen Tageszeitung Indian Express, nennt Indiens Politik gegenüber China „vorsichtig, konfus und widersprüchlich“.
Indien ist zusammen mit den USA, Japan und Australien Mitglied im Quadrilateral Security Dialogue (Quad), der 2007 gegründet, aber erst in den letzten Jahren besonders von den USA als Instrument zur Eindämmung von Chinas Einfluss im Pazifik wiederbelebt wurde. Anders als Australien und Japan ist Indien kein formeller militärischer Verbündeter der USA. Nachdem die USA lange auf Seiten Pakistans gestanden hatten, nahmen sie im Jahr 2005 einen fundamentalen außenpolitischen Schwenk vor, indem sie Indiens Status als Nuklearmacht, wenn nicht formal, so doch de facto anerkannten. Die USA möchten Indien auf die westliche Seite ziehen und haben weitgehende Vereinbarungen zum Verkauf und zur Herstellung von US-Waffen in Indien genehmigt. Die Regierung Narendra Modi in Neu-Delhi pflegt das gute Verhältnis zu den USA, möchte sich aber nicht vor den Karren amerikanischer Interessen spannen lassen. Sie ist gegenüber der amerikanischen China- und Russlandpolitik sehr zurückhaltend und versucht einen diplomatischen Seiltanz.
Noch ist die indische Armee auf die Rüstungskooperation mit Russland angewiesen.
Trotz der Bemühungen um privilegierte Beziehungen zu den USA spielt Indien gleichzeitig eine aktive Rolle im BRICS-Zusammenschluss (Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika). Dieser Interessensclub, in dem sich die Regierungschefs jährlich auf Gipfeltreffen abstimmen, hat sich zum Ziel gesetzt, die gemeinsamen Anliegen der Mitglieder durchzusetzen und mit Reformen die westliche Dominanz in internationalen Organisationen wie Weltbank und Internationalem Währungsfonds zu brechen. Wie nach der Okkupation der Krim 2014 verhielt sich BRICS im Ukrainekrieg ambivalent. Es war auch nicht zu erwarten, dass eine Organisation eines ihrer Mitgliedsländer verurteilt. Der Wandel zu einer multipolaren Welt, die auch BRICS fordert und fördert, kommt Indiens Politik der Unabhängigkeit entgegen.
Auch im Ukrainekrieg achtet Indien auf Distanz und hat dem Drängen der USA und der EU-Länder nicht nachgegeben und sich bei den Abstimmungen in den Vereinten Nationen zur Verurteilung der russischen Aggression der Stimme enthalten. Ein Grund für die indische Zurückhaltung ist auch die Tatsache, dass Indien über Jahrzehnte vor allem in Russland, beziehungsweise vorher in der Sowjetunion, Waffeneinkäufe im großen Stile tätigte. Zwar hat die Regierung ihre Bezugsquellen mit Importen aus Frankreich und den USA diversifiziert, doch noch ist die indische Armee auf die Rüstungskooperation mit Russland angewiesen. Der Ursprung dieser Kooperation stammt aus den 1960er Jahren nach dem Krieg mit China und wurde intensiviert, als sich die USA im Konflikt zwischen Pakistan und Indien um die Unabhängigkeit Bangladeschs auf die Seite Pakistans schlugen. Die UdSSR und Indien schlossen daraufhin im Jahr 1971 einen 25 Jahre gültigen Vertrag über Frieden, Freundschaft und Kooperation. Die heutige indische Politik der Äquidistanz oder der propagierten multiplen Allianzen ist geprägt durch diese historischen Erfahrungen und passt auch in das kontinuierlich von Indien verfolgte Konzept der Blockfreiheit.
Indiens Regierung möchte auf keinen Fall in die von der Biden-Regierung definierte System-Auseinandersetzung zwischen Demokratien und autoritären Regimes hineingezogen werden.
Indiens Regierung möchte auf keinen Fall in die von der Biden-Regierung definierte System-Auseinandersetzung zwischen Demokratien und autoritären Regimes hineingezogen werden. Wie die meisten Staaten des globalen Südens akzeptiert die Regierung Modi diese Sichtweise nicht. Zwar wird Indien oft als größte Demokratie der Welt bezeichnet und ist somit automatisch ein Mitglied dieser Wertegemeinschaft. Doch die Modi-Regierung hat mit ihrer Innenpolitik der harten Hand und der Betonung des Hinduismus und Nationalismus manche Freiheitsrechte deutlich eingeschränkt. Die Regierung fühlt sich vermutlich unwohl dabei, die eigene demokratische Bilanz auf den Prüfstand stellen zu lassen.
Für das indisch-chinesische Verhältnis ergibt sich aus den heutigen geopolitischen Gegebenheiten eine komplizierte Gemengelage. Einerseits ist die indische Regierung daran interessiert, den chinesischen Einfluss in Asien zurückzudrängen. Andererseits aber bemüht sie sich, China auf keinen Fall zu provozieren. Neu-Delhi äußerte sich beispielsweise weder zur chinesischen Repression in Hong Kong, noch hat sie die intransparente chinesische COVID-19-Politik kritisiert.
Indien ist weder in der Lage, China im Himalaya militärisch zurückzudrängen noch diplomatisch zu einer Einigung zu bewegen.
Auch im Kräftemessen an der chinesisch-indischen Grenze drängt die Regierung auf Mäßigung. Denn Indien ist weder in der Lage, China im Himalaya militärisch zurückzudrängen noch diplomatisch zu einer Einigung zu bewegen. Beide Seiten können sich nicht einmal darauf verständigen, was zu verhandeln wäre. Das Armdrücken im Himalaya geht weiter: trotz der Einrichtung von bislang 16 Arbeitsgruppen zur Beilegung des Grenzkonfliktes, trotz der Vereinbarung vertrauensbildender Maßnahmen in den Jahren 1993, 1996, 2005, 2012 und 2013. Auch nach einigen bilateralen Treffen zwischen Narendra Modi und Xi Jinping bleibt die Atmosphäre frostig.
Dennoch hat sich ein dichtes Geflecht wirtschaftlicher Beziehungen entwickelt, von dem Indien stärker abhängig ist als China. Trotz dieses engen Netzes behauptet Neu-Delhi, nicht zu normalisierten Beziehungen zurückkehren zu wollen, bis der Grenzkonflikt gelöst ist. Peking dagegen sagt: Dieser Streit sollte nicht die übrigen Beziehungen belasten. Chinas früherer Botschafter in Neu-Delhi meinte im August 2022, die Line of Actual Control sei stabil. Einen Monat später deeskalierten dann beide Seiten, in dem sie einen begrenzten Truppenrückzug vereinbarten. Doch im Dezember 2022 kam es zur nächsten Auseinandersetzung, um die chinesische Besetzung eines Höhenzugs im indischen Staat Arunachal Pradesh.
In Neu-Delhi glaubt man, China nutze globale Krisen aus, um territoriale Gewinne zu erzielen, so im Jahr 2020 während der Pandemie bei dem Konflikt im Osten Ladakhs. In Indien hat man noch in Erinnerung, dass China den Krieg 1962 während der Kubakrise begann, als die Aufmerksamkeit der USA und der UdSSR auf dem dortigen „Showdown“ lag. Kurz nach Beendigung der Kubakrise erklärte China dann einen Waffenstillstand.
Die indische Presse empört sich vehement bei jedem Streit in der Grenzregion und spricht von chinesischem „Eindringen“ oder „Verletzungen“, während die Regierung mit der Bezeichnung „Überschreitung“ zwar die aggressive chinesische Politik nicht billigt, aber im Grenzkonflikt eher deeskalieren möchte und möglichst nicht die Streitkräfte einsetzen will. Denn es bleibt das indische Dilemma, militärisch China unterlegen zu sein und diplomatisch seit sechs Jahrzehnten kaum einen Schritt vorwärts gemacht zu haben.
Eine englische Version ist beim japanischen Friedensforschugsinstitut Toda erschienen.