Als Kim Jong-un im Dezember 2011 die Macht in Nordkorea übernahm, mutmaßten viele Beobachter, der erst 28-jährige politisch unerfahrene Sohn des verstorbenen Machthabers Kim Jong-il und Enkel des ersten Präsidenten Kim Il-sung werde wohl kaum lange an der Macht bleiben. Die kommunistische Kim-Dynastie sei wahrscheinlich bald zu Ende. Zehn Jahre später sitzt der Diktator fest im Sattel. Doch wie sieht seine wirtschaftliche und sicherheitspolitische Bilanz aus?
Da Nordkorea sich zur Abwehr der Pandemie noch mehr abgeschottet hat als ohnehin schon, wissen Außenstehende über die konkrete wirtschaftliche Entwicklung vor Ort nur wenig. Es scheint aber, dass Nordkorea tiefgreifende wirtschaftliche Schwierigkeiten hat. Dabei spielen die harten Sanktionen der Vereinten Nationen, aber auch die ineffiziente Planwirtschaft eine wichtige Rolle. Covid-19 hat die Lage nicht einfacher gemacht.
Sanktionen, ineffiziente Planwirtschaft, Pandemie: Nordkorea steckt in tiefgreifenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten.
Nordkorea befindet sich heute wohl nicht in einer so dramatisch schlechten Versorgungslage wie Mitte der 1990er Jahre. Damals führten wetterbedingte Ernteausfälle, Versalzung von Flüssen, Unterversorgung mit Kunstdünger und ein niedriges technisches Niveau der landwirtschaftlichen Maschinen zu einer Verschärfung der bereits vorhandenen Engpässe, und die verheerende Hungersnot veranlasste damals die Regierung, sogar Hilfsleistungen aus dem Ausland anzunehmen.
Die aktuellen Nöte der Menschen lassen sich mit Blick auf zwei längere Reden Kim Jong-uns beim 8. Kongress der Koreanischen Arbeiterpartei Ende Dezember 2021 erahnen. Er sprach unter anderem von den „Engpässen im vergangenen Jahr“ und forderte, die Ernährungs-, Kleidungs- und Wohnungsprobleme der Bevölkerung zu lösen. Die staatliche Presseagentur Korean Central News Agency (KCNA) berichtete ausführlich und vermittelte damit einen Eindruck von der aktuellen Nahrungsmittelknappheit. Am 5. Januar 2022 zitiert KCNA Kim Yong-un mit der „dringenden Aufgabe, das landwirtschaftliche Problem zu lösen, …trotz aller Engpässe und Schwierigkeiten.“
Bemerkenswert an Kims Aussagen zur Landwirtschaft ist zweierlei. Erstens hatte er ähnliche Versprechungen zur Verbesserung der Lage der Menschen bereits zu Beginn seiner Amtszeit vor zehn Jahren gemacht. Die Versorgungslage bleibt offensichtlich weiter angespannt, und die Schließung der Grenzen zur Abwehr der Pandemie hat die Lage verschärft, denn der grenznahe Handel, vor allem mit China, ist anscheinend empfindlich gestört.
Zweitens ist interessant, welchen Weg die Regierung einschlagen will, um die krisenhafte Situation zu beheben: mit Disziplin bei der Umsetzung des Wirtschaftsplans sowie durch Führung und Kontrolle der Wirtschaft durch den Staat. In zwei früheren Phasen, 2002 noch unter Kim Jong-il und 2012 unter Kim Jong-un, experimentierte die Regierung mit begrenzten, vorsichtigen Liberalisierungsmaßnahmen. Die Preisbindung für Grundnahrungsmittel wurde aufgehoben und sogenannte Bauernmärkte entstanden, auf denen die Bauern ihre Produkte anbieten konnten. 2012 wollte die Regierung sogar mit Landreformen nach chinesischem Vorbild experimentieren und dezentrale und marktnahe Entscheidungsprozesse zulassen.
Mit der Betonung der Planwirtschaft macht die Regierung eine Rolle rückwärts. Der Staat greift wieder stärker ein.
Jetzt macht die Regierung mit der Betonung der Planwirtschaft eine Rolle rückwärts. Die Bauern sollen ideologisch motiviert werden, der Staat greift wieder stärker ein. Um die landwirtschaftliche Produktion zu steigern, sollen nicht mehr individuelle marktnahe Anreize genutzt werden, sondern die Regierung setzt auf staatlich gelenkte Wissenschaft und Technologie. Die von Kim jetzt wieder geforderten „drei Revolutionen“ – ideologisch, technisch und kulturell – sind Konzepte aus den 1970er Jahren. Ihre „wichtigste Aufgabe“ besteht darin, „die sozialistische ländliche Frage zu lösen“, so die KCNA am 1. Januar 2022. Diese Aussagen verdeutlichen die rückwärtsgewandte orthodoxe Strategie, die schon in der Vergangenheit ganz auf Autarkie und Selbstversorgung setzte, aber der Lösung der Unterversorgung nicht wirklich nähergekommen ist.
Will die Regierung die Geschichte um vier Jahrzehnte zurückdrehen? Die wirtschaftliche Zukunft Nordkoreas, insbesondere hinsichtlich der Nahrungsmittelversorgung, ist alles andere als rosig. Die kommenden Jahre werden vermutlich ähnlich problematisch wie die vergangenen, es sei denn, grundlegende politische Umwälzungen führen zur Überwindung der Isolation dieses abgeschotteten Landes.
Doch sind derartig fundamentale Veränderungen in der Außen- und Sicherheitspolitik möglich oder gar zu erwarten? Nach wie vor betrachtet das Regime in Pjöngjang seine Atomwaffen und das Raketenprogramm als Lebensversicherung. Es nutzt die Waffensysteme zur Abschreckung und gleichzeitig als Verhandlungsmasse bei den schon mehrmals gescheiterten Abrüstungsgesprächen. Schon Kim Jong-uns Vater, Kim Jong-il, hatte seit Ende der 1990er Jahre ganz auf den Ausbau des Atomprogramms gesetzt und 2003 die Mitgliedschaft Nordkoreas im Atomwaffensperrvertrag gekündigt. Als Kim Jong-un die Macht übernahm, verfügte das Land über schätzungsweise vier bis sechs Atomsprengköpfe. Heute sind es 40 bis 50. Die Verhandlungen zwischen Nordkorea und den USA sowie anderen Regierungen, vor allem China und Südkorea, erlebten über Jahrzehnte ein ständiges Auf und Ab, ohne zum Erfolg zu führen. Die Obama-Regierung versuchte es mit „strategischer Stabilität“, sprich: nichts an den bestehenden Verhältnissen zu ändern. Donald Trumps Konzept bestand aus öffentlichkeitswirksamen Fototerminen und Druck auf Nordkorea. Doch die Absprachen zwischen Trump und Kim bei zwei Gipfeltreffen 2018 und 2019 blieben zu nebulös, um wirkliche Fortschritte darzustellen.
Das Regime in Pjöngjang betrachtet nach wie vor seine Atomwaffen und das Raketenprogramm als Lebensversicherung.
US-Präsident Joe Biden signalisiert, er sei bereit für Diplomatie, verknüpft dies aber mit dem unmissverständlichen Hinweis auf die notwendige Denuklearisierung. Auf die mehrfache Einladung zur Aufnahme von neuen Verhandlungen hat das Regime in Pjöngjang bislang nicht reagiert. Nach Auffassung der Kim-Regierung ist die heutige US-Politik keine Grundlage für Verhandlungen. Sie charakterisiert sie mit drei Begriffen: „feindliche Politik“, „Doppelmoral“ und „zweigleisige Politik“.
„Feindliche Politik“ sind vor allem die jährlichen US-südkoreanischen Militärmanöver. Nordkorea erwartet nicht den Abschluss eines umfassenden Vertrages, sondern graduelle Maßnahmen. Als Gegenleistung zu jedwedem Entgegenkommen Nordkoreas möchte Pjöngjang kleine Schritte seitens der USA sehen, beispielsweise die Lockerung der Sanktionen und Sicherheitsgarantien.
Nach Ansicht der Regierung Kim ist es Ausdruck von „Doppelmoral“, dass Nordkoreas Atom- und Raketenprogramm „zur Selbstverteidigung“ von den Vereinten Nationen scharf sanktioniert wird, während Südkorea und die USA ihre Programme durchführen können, ohne dafür gerügt zu werden.
Schließlich kritisiert Nordkorea die „zweigleisige Politik“ der USA, die darin bestehe, diplomatischen Dialog anzubieten, um als friedliebend dazustehen, gleichzeitig aber mit militärischen und ökonomischen Mitteln Druck auszuüben.
Inzwischen ist Kim Jong-un der unangefochtene Machthaber.
Pjöngjang reagiert mit einer Mischung aus Warnung und Entgegenkommen: „Macht gegen Macht und guter Wille gegen guten Willen“. Der US-Politik wird derzeit durch eine Stärkung der eigenen Macht begegnet. Der vor einem Jahr verabschiedete Fünf-Jahres-Plan sieht eine Priorität für die Stärkung der Streitkräfte vor. Die Nuklear- und Raketentechnologie wird weiterentwickelt. In der ersten Januarhälfte 2022 gab es bereits zwei Raketentests. Die nordkoreanischen Ingenieure konzentrieren sich darauf, die Reichweite der Raketen zu erhöhen; sie entwickeln Hyperschall- und U-Boot-stationierte Raketen sowie militärische Aufklärungssatelliten. Gleichzeitig findet im konventionellen Bereich ein nord-südkoreanisches Wettrüsten statt. Südkorea setzt auf die Modernisierung des Waffenarsenals, Nordkorea auf Quantität. Angesichts der im März in Südkorea stattfindenden Präsidentschaftswahlen, deren Ausgang völlig offen ist, ist kaum mit der baldigen Aufnahme von Verhandlungen zu rechnen. Der zweite Teil der nordkoreanischen Strategie, nämlich „guter Wille gegen guten Willen“, ist in Pjöngjang zurzeit offensichtlich nicht gefragt.
Trotz der negativen ökonomischen Bilanz scheint Kim Jong-un fest im Sattel zu sitzen, unter anderem auch, weil sich das Nuklear- und Raketenprogramm als Lebensversicherung erweist. Inzwischen ist er der unangefochtene Machthaber, der sich auf seine engsten Mitstreiter verlassen kann. Potenzielle Konkurrenten hat er nach seiner Machtübernahme mit zum Teil brutalen Methoden eliminieren lassen. Seine Schwester Kim Yo-jong ist als Direktorin des Ministeriums für Propaganda und Agitation in den inneren Zirkel der Entscheidungsträger aufgerückt. Ein baldiges Ende der kommunistischen Kim-Dynastie ist nicht wahrscheinlich.