Russland rekrutiert für seine Armee junge Nepalesen, ohne dass es entsprechende bilaterale Vereinbarungen gäbe, und informiert Nepals Regierung nicht einmal. Das sorgt in Kathmandu für große Aufregung. Bis zur zweiten Aprilwoche dieses Jahres starben mehr als 21 Nepalesen, Dutzende sitzen im fortdauernden russisch-ukrainischen Krieg fest, und rund 300 junge Erwachsene haben dauerhaft keinen Kontakt zu ihren Familienangehörigen. Fünf Nepalesen, die sich zurzeit in ukrainischer Gefangenschaft befinden, warten auf eine vorzeitige Rückführung in ihre Heimat. Wie viele Nepalesen zum jetzigen Zeitpunkt in der russischen Armee dienen, weiß die nepalesische Regierung nicht genau. Ein informelles Netzwerk von Familien, deren Angehörige für die russischen Armee angeworben wurden, erhebt die Daten. Nach einer aktuellen Schätzung sind rund 2 000 Familien betroffen.

Fehlende Arbeitsplätze im eigenen Land, die Aussicht auf ein lukratives Einkommen und unzureichende Informationen über die Art der Tätigkeit dürften einige der Gründe sein, warum junge Nepalesen sich für einen dermaßen gefahrvollen Job entscheiden. Auch der Wunsch, sich schon nach kurzer Zeit Land, ein Haus und ein luxuriöses Leben leisten zu können, bringt viele dazu, jedes Risiko einzugehen, um an Geld zu kommen. Die Kombination aus dauerhafter politischer Instabilität und wirtschaftlicher Rezession, die Auswirkungen der Coronapandemie und der geringe Zustrom ausländischer Investitionen führen dazu, dass es in Nepal immer weniger Erwerbschancen gibt. Die Jugend sieht für sich in ihrer Heimat keine Zukunft mehr. Einer der Hauptgründe für diese Grundstimmung ist der Mangel an Arbeitsmöglichkeiten in Nepal. In letzter Zeit stieg die Zahl der nepalesischen Erwerbstätigen mit einer Bewilligung für eine Auslandsbeschäftigung. Auch die Zahl der Menschen, die sich auf Dauer außerhalb Nepals niederlassen wollen, nimmt zu. Im Fiskaljahr 2022/23 haben sich nach offiziellen Angaben der Regierung 70 915 nepalesische Staatsangehörige entschieden, dauerhaft im Ausland zu leben. Täglich gehen mehr als 3 000 junge Menschen ins Ausland, um dort zu studieren oder zu arbeiten.

Die meisten ungelernten und angelernten Arbeitsmigranten gehen in die Golfstaaten, wobei Saudi-Arabien, Katar, die Vereinigten Arabischen Emirate, Oman und Bahrain ganz oben auf der Wunschliste stehen. Viele junge Menschen reisen auch mit einem Studentenvisum nach Europa, in die USA, Großbritannien, Australien und andere Länder, weil sie dort in gewissem Umfang sowohl studieren als auch ein Einkommen erzielen können. Früher rekrutierten Indien und das Vereinigte Königreich im Rahmen bilateraler Vereinbarungen nepalesische Staatsangehörige für ihre Armee. Doch diese Länder sind dabei, ihre Quoten zu senken, sodass die jungen Nepalesen nach Alternativen suchen und sich der russischen Armee anschließen.

Die Art und Weise, wie die Rekrutierungen vor sich gehen, lässt auf geheime Absprachen zwischen den Arbeitsagenturen schließen – mit verdeckter Unterstützung seitens russischer Stellen und nepalesischer Regierungsbehörden. In einer Zeit, in der junge Leute in Nepal verzweifelt nach Arbeit suchen, kommt Russland mit einem lukrativen Jobangebot auf sie zu. Viele Arbeitsvermittler, die nepalesische Arbeitskräfte entsenden, locken mit einem monatlichen Gehalt von 300 000 NPR (rund 2 000 Euro) und der russischen Staatsbürgerschaft für Ehepartner und Kinder nach einem Jahr ab Vertragsunterzeichnung. Um weitere ausländische Staatsangehörige anzulocken, unterzeichnete der russische Präsident Wladimir Putin im Januar dieses Jahres ein Dekret zur beschleunigten Einbürgerung von Ausländern, die sich in Russland zum Militärdienst melden.

In Nepal oder selbst in anderen Industrieländern ein so hohes Einkommen zu erzielen, ist für die nepalesische Bevölkerung schlicht unmöglich. Viele junge Nepalesen lassen sich daher trotz der bestehenden Risiken dazu verleiten, einen solchen Job anzunehmen. Ein weiterer Köder der Arbeitsvermittler ist neben dem monatlichen Gehalt die Zusage einer lebenslangen Rente und einer dauerhaften Aufenthaltsgenehmigung. Nachdem bekannt wurde, dass viele junge Beschäftigte der nepalesischen Sicherheitsbehörden und der nepalesischen Armee ihren Job aufgaben, um sich der russischen Armee anzuschließen, nahm die nepalesische Regierung sich des Problems an – zumal einheimische Medien Meldungen über den Tod von nepalesischen Staatsangehörigen verbreitet und den Druck somit erhöht hatten. Die Berichte derjenigen, denen es gelang, aus dem Kriegsgebiet zu fliehen und nach Nepal zurückzukehren, lassen eindeutig darauf schließen, dass die jungen Nepalesen sich der Gefahren nicht bewusst sind, denen sie im Kriegsgebiet ausgesetzt sind.

Nepal ersucht Russland, seine bereits in der dortigen Armee dienenden Bürger zurückzuschicken und ihre Verträge aufzuheben. Dem hält Russland entgegen, die Nepalesen wollten gar nicht zurück.

Laut der einheimischen Berichterstattung sind die Todesfälle vor allem darauf zurückzuführen, dass die Nepalesen ohne entsprechende Ausbildung an der Kriegsfront eingesetzt werden. Viele von ihnen sterben, weil sie die Befehle der russischen Kommandeure nicht verstehen – die Sprache ist ein Kommunikationshindernis.

Nepal versucht mit einer Reihe von Maßnahmen, die Rekrutierung seiner Staatsbürger für die russische Armee zu stoppen, und stellt zum Beispiel keine Arbeitserlaubnisse mehr für die Ausreise nach Russland aus. Um den Reiseverkehr nach Russland einzuschränken, hat die Regierung eine neue Bestimmung eingeführt, nach der bei Flügen von Indien und den Golfstaaten nach Russland – die Routen werden oft von jungen Menschen genutzt – eine gesonderte Einreisegenehmigung vorgelegt werden muss. Seit Inkrafttreten dieser Bestimmungen ist die Zahl der jungen Nepalesen, die sich der russischen Armee anschließen, nach Behördenangaben zwar erheblich zurückgegangen, aber nicht auf Null. Die diplomatischen Bemühungen Nepals, dieses Problem zu lösen, bleiben wirkungslos.

Nepal hat Russland mehrfach aufgefordert, die Anwerbung nepalesischer Staatsangehöriger einzustellen, doch trotz regelmäßiger Proteste vor der russischen Botschaft in Kathmandu hat sich Moskau nicht öffentlich zu diesem Schritt verpflichtet. Auch in der Frage der Entschädigung der Familienangehörigen und der Rückführung der Leichen gibt es keinerlei Fortschritte. Nepal ersucht Russland, seine bereits in der dortigen Armee dienenden Bürger zurückzuschicken und ihre Verträge aufzulösen, aber Russland hält entgegen, die Nepalesen wollten gar nicht zurück. Entkommen konnten der russischen Armee nur wenige. Russland arbeitet weiterhin mit der nepalesischen Regierung zusammen, um sie zu besänftigen. Mitten im Krieg hat Russland neue Vorschläge zur Zusammenarbeit unterbreitet – offenbar mit dem Ziel, die Öffentlichkeit von den Rekrutierungen abzulenken. Der Präsident der Nationalversammlung, Ganesh Prasad Timalsina, reiste zu einem Besuch nach Russland, und auch darüber hinaus befinden sich beide Länder im Austausch. Moskau hat dem nepalesischen Außenministerium ein Angebot zur Intensivierung der Zusammenarbeit unterbreitet. Bislang sind diesem Vorschlag jedoch noch keine Taten gefolgt.

Die amtierende Regierung sympathisiert offenbar mit Russland und betont dessen legitime Sicherheitsinteressen. Deshalb ist nicht zu erwarten, dass sie den Druck auf Russland aufrechterhalten wird.

Nepal liegt zwischen Indien und China. Es stimmte für die Resolution des UN-Sicherheitsrats zur Verurteilung der russischen Invasion. Sowohl China als auch Indien, die bei der Abstimmung nicht anwesend waren, setzen ihre regulären Geschäftsbeziehungen mit Russland fort. Dass Nepal einerseits seine Bürger zum Dienst in der russischen Armee entsendet und andererseits die Invasion verurteilt, ist ein Widerspruch. Die neue Regierung in Kathmandu, der überwiegend kommunistische Parteien angehören, verfolgt mit Blick auf den Krieg zwischen Russland und der Ukraine einen wohl etwas anderen Kurs, und es ist durchaus möglich, dass dieser Kurs nicht die Ergebnisse liefert, die ein Großteil der nepalesischen Bevölkerung erwartet.

Die amtierende Regierung sympathisiert offenbar mit Russland und betont dessen legitime Sicherheitsinteressen. Deshalb ist nicht zu erwarten, dass sie den Druck auf Russland aufrechterhalten wird. Entsprechend gering sind die Aussichten auf eine baldige Lösung. Wenn es der Regierung jedoch nicht gelingt, das Problem so schnell wie möglich zu lösen, könnte dies zu sozialen Unruhen führen. Denn die Familienangehörigen mobilisieren inzwischen immer mehr ihre Kräfte, um auf die Straße zu gehen. Auf lange Sicht gibt es aus der jetzigen Situation nur einen Ausweg: In Nepal müssen Arbeitsplätze geschaffen werden.

Aus dem Englischen von Christine Hardung