Mehr als 204,8 Millionen indonesische Wahlberechtigte haben am Mittwoch den Präsidenten, den Vizepräsidenten, das Parlament sowie die Regionalvertreter gewählt. Nach der ersten Auszählung kam das Duo Prabowo Subianto und Gibran Rakabuming Raka auf über 58 Prozent der Stimmen und sieht seiner offiziellen Ausrufung zum neuen Präsidenten beziehungsweise Vizepräsidenten entgegen. Die meisten Bürgerinnen und Bürger atmen erleichtert auf, aber für Millionen andere ist das Ergebnis deprimierend.

Die diesjährige Wahl war eine Zitterpartie zwischen den Kandidaten des Status quo (Prabowo/Gibran), den Reformern Ganjar Pranowo und Mahfud MD und den populistischen Kräften, vertreten durch Anies Baswedan und Muhaimin Iskandar. Die Stimmung war angespannt, denn je näher die Wahl rückte, desto mehr Fälle von Diskriminierung und Einschüchterung wurden durch die Teams von Ganjar/Mahfud und Anies/Muhaimin bekannt gemacht. Das Gespann Prabowo/Gibran hatte zudem seit Januar 2024 behauptet, es werde die Wahlen schon im ersten Wahlgang für sich entscheiden.

Der Armeegeneral Prabowo ist der Ex-Schwiegersohn des autoritären Präsidenten Suharto, der im Mai 1998 gestürzt wurde.

Prabowo versucht zum dritten Mal, Präsident zu werden. Der Armeegeneral ist der Ex-Schwiegersohn des autoritären Präsidenten Suharto, der im Mai 1998 gestürzt wurde. Bei den letzten beiden Versuchen setzte Prabowo auf Populismus und scheiterte. Diesmal stellte Prabowo sich auf die Seite des Status quo und verbündete sich mit dem amtierenden Präsidenten Joko Widodo (Jokowi), der seinen ältesten Sohn Gibran als Prabowos Vizepräsidentschaftskandidaten ins Rennen schickte. Das Duo Prabowo/Gibran nahm vor allem die Erstwählerinnen und -wähler ins Visier, die derzeit 52 bis 54 Prozent der Wahlberechtigten ausmachen und keine Erinnerung haben an Prabowo oder an Suhartos autoritäre „Neue Ordnung“, sowie die Bevölkerungsgruppen, die nur Jokowis Stärken sehen.

Die Schlüsselfigur bei dieser Wahl war allerdings nicht das Zweiergespann Prabowo/Gibran, sondern Jokowi. Millionen Menschen setzten 2014 und 2019 große Hoffnungen in ihn und sind heute enttäuscht. Denn Jokowi vollzog – nachdem das Land sich 25 Jahre lang bemüht hatte, die Demokratie zu festigen und die Menschenrechte zu stärken – in einer kritischen Phase des demokratischen Reformprozesses eine rasante Kehrtwende, um durch seinen Sohn die eigene Herrschaft zu verlängern. Er setzte sich unbekümmert über politische Moral und Regeln hinweg, um seinen Sohn als Kandidaten durchzusetzen.

Jokowi hat den Schachzug, die eigene Regierungszeit durch seinen Sohn fortzuführen, allerdings raffiniert eingefädelt.

Jokowi hatte diesen Schachzug, die eigene Regierungszeit durch seinen Sohn fortzuführen, allerdings in sechs Schritten so raffiniert eingefädelt und geschickt kalkuliert, dass die Bevölkerung erst in letzter Minute erkannte, was er im Schilde führte. Erstens erwarb Jokowi Vertrauen und Macht durch die Partai Demokrasi Indonesia Perjuangan (PDIP), die eine zentrale Rolle spielte, weil sie symbolisch für den Kampf gegen die „Neue Ordnung“ stand. Die PDIP bot Jokowi diverse Möglichkeiten, seine Geschäfte und seine Netzwerke auszubauen; und er hoffte, von seiner Popularität zu profitieren.

Anfangs hatte Jokowi genau die richtige Einstellung. Er setzte sich über mehrere Jahre dafür ein, mit staatlichen Mitteln für eine bessere soziale Absicherung zu sorgen und den armen Bevölkerungsgruppen zu helfen, und richtete sich bei der Besetzung der Kabinettsposten nach den Vorgaben der Partei. Jokowi rief dazu auf, Kleidung aus indonesischer Produktion zu tragen, und gab den bescheidenen Regierungschef, der keine Berührungsängste mit den notleidenden und vergessenen Orten in ganz Indonesien hatte und den Menschen Fahrräder und Lebensmittelpakete schenkte. Die Region Papua fühlte sich geschmeichelt, dass Jokowi die Insel als Präsident 17 Mal besuchte

Als die PDIP „in Jokowis Hand“ war, schwächte er zweitens seine internen Gegner und spannte sie in seine Absichten ein. Er macht sich zunutze, dass die politischen Parteien von seiner Popularität profitieren wollten, um selbst beliebter zu werden – insbesondere die größeren, oligarchischen Parteien wie Golkar, Nasdem, Gerindra und die Demokraten. Um deren Bedürfnissen entgegenzukommen, bildete er das Kabinett mehrfach um. Viele Kabinettsumbildungen waren eine Reaktion darauf, dass Minister der Korruption überführt wurden. Damit nicht argwöhnisch nachgefragt wurde, warum er diese Leute überhaupt ausgewählt hatte, stellte Jokowi sich mit Hilfe seiner Social-Media-Hilfstruppen („Buzzer“) als Opfer korrupter Politiker dar. Der Höhepunkt war erreicht, als Jokowi 2019 Prabowo als Verteidigungsminister installierte.

Jokowi band einige Militärs in seinen geschäftlichen und politischen inneren Zirkel ein.

In einem dritten Schritt nahm Jokowi einige Militärs unter seine Fittiche und band sie in seinen geschäftlichen und politischen inneren Zirkelein. Mit dieser Strategie ging er auf die Streitkräfte und die Oligarchen zu – die eigentlichen Strippenzieher im Hintergrund. 2015 wurde Jokowi von General Moeldoko, der später sein Stabschef wurde, zum Ehrenmitglied der indonesischen Streitkräfte ernannt. Vor General Moeldoko ernannte Jokowi den Ex-General Luhut Binsar Pandjaitan zu seinem Stabschef und übertrug Luhut in der Folge zehn weitere Posten, darunter auch die Ämter des Koordinationsministers für maritime Angelegenheiten und Investitionen. Mit Moeldokos und Luhuts Unterstützung gelang es Jokowi, sich finanziell zu konsolidieren – unter anderem durch die Erschließung des lukrativen Bergbaugeschäfts, das schon seit den Zeiten von Suhartos „Neuer Ordnung“ als Cashcow für Politiker gilt. Jokowi erkannte, dass aktive Militärs und Polizeivertreter sich oft als treu ergebene Gefolgsleute eines Oberbefehlshabers eignen, und ernannte loyale jüngere Polizisten und Militärs zu Kommandeuren der Streitkräfte und zu lokalen Regierungsbeamten.

Viertens initiierte Jokowi verschiedene Leuchtturm-Projekte, um sich ein Denkmal für die Nachwelt zu setzen. Er leitete den Bau einer neuen Hauptstadt in Kalimantan ein, ließ Nickelhütten und Industrieparks errichten. Jokowi zeigte verstärkt Präsenz auf der internationalen Bühne, organisierte aufwändige G20-Treffen und die ASEAN 2023 und reiste unmittelbar nach Ausbruch des Krieges gegen die Ukraine nach Kiew und Moskau. Jokowi wollte sich international profilieren, um nicht nur Vertrauen zu gewinnen, sondern auch um Investitionen in die von ihm auf den Weg gebrachten Vorhaben zu mobilisieren.

Im fünften Schritt brachte Jokowi seine Familienmitglieder in Stellung, um sich politische Chancen bei den Parteien zu sichern. 2019 holte Jokowi seinen Sohn Gibran und 2020 seinen Schwiegersohn Bobby Nasution als Mitglieder der PDIP ins Boot. Die beiden jungen Männer wurden, gestützt auf das Vertrauen der PDIP, zu Bürgermeistern von Solo und Medan gewählt. Im September 2023 trat Jokowis jüngster Sohn Kaesang der kleinen Partai Solidaritas Indonesia (PSI) bei und wurde binnen zwei Tagen deren Vorsitzender. Als bekannt wurde, dass Gibran für das Amt des Vizepräsidenten kandidieren würde, kamen bei den PDIP-Vertretern Zweifel auf, wie loyal Gibran, Bobby und Jokowi gegenüber der Partei sind, die sie groß gemacht hatte. Doch die drei beschlossen, ihre Parteizugehörigkeit in der Schwebe zu lassen. Die PSI bekam in der Folge das Etikett „Jokowis Partei“ verpasst. Jokowi trat verschiedentlich mit gelber Krawatte auf und signalisierte damit, dass er auch in der Partai Golongan Karya (kurz Golkar) gern gesehen war. Zudem kursierten Gerüchte, Jokowi übernehme möglicherweise den Vorsitz von Prabowos Partei Gerindra

Sechstens, Jokowi nutzte seine Macht, um Regeln und Vorschriften zu seinen Gunsten zu ändern. 2017 wirkte Jokowi an der Novellierung des Wahlgesetzes mit und beauftragte seinen Schwager Anwar Usman, die Voraussetzungen für die Kandidatur zum Präsidenten und Vizepräsidenten seinen Bedürfnissen entsprechend zu ändern. Er änderte auch viele Regelungen des Gesetzes zur Schaffung von Arbeitsplätzen („Omnibus Law“). Die entsprechenden Gespräche liefen weitgehend, wenn nicht vollständig, hinter verschlossenen Türen.

Ein Nicht-Oligarch ist in die Reihen der Oligarchie gewechselt.

Wir konnten also mitverfolgen, wie eine wichtige Wegscheide auf Indonesiens Pfad zum Industriestaat auch zu einer politischen Wegscheide wurde. Ein Nicht-Oligarch ist in die Reihen der Oligarchie gewechselt. Auch wenn Jokowi der PDIP und der Öffentlichkeit Sand in die Augen gestreut und den Vorwurf entkräftet hat, er wolle seine Macht auf eine dritte Präsidentschaft ausdehnen oder die Wahlen 2024 verschieben, zeigt sein strategisches Vorgehen, dass er im Politdrama der vergangenen Jahre die zentrale Figur ist.

Wie geht es für Indonesien weiter? Die Demokratie ist bereits jetzt geschädigt. Das Duo Anies/Muhaimin kündigte an, es werde die manuelle Auszählung der Stimmzettel weiter genau beobachten, die bis zum 20. März 2024 abgeschlossen sein soll. Das Gespann Ganjar/Mahfud sammelt derzeit Berichte über Wahlfälschungen und hat ein Team gebildet, das die Wahl prüfen soll.

Diejenigen, die den komplexen und gewaltsamen Niedergang der autoritären „Neuen Ordnung“ unmittelbar miterlebt haben, hatten den Wunsch, die demokratischen Kräfte würden sich konsolidieren und Stellung beziehen. International bemüht Indonesien sich im Rahmen der BRICS-Gruppe und der OECD um eine ausgewogene Position, doch wenn sich in Indonesien ein zunehmend autoritäres Regime etabliert, könnte dies eine Sogwirkung in anderen autoritären Ländern entfalten. In welche Richtung Indonesien sich entwickeln wird, hängt nicht zuletzt davon ab, wie andere Länder seinen wirtschaftlichen Kurs mitbestimmen.

Aus dem Englischen von Christine Hardung