Trotz jahrzehntelanger Verhandlungen haben sich die beiden asiatischen Großmächte Indien und China nicht über den umstrittenen gemeinsamen Grenzverlauf im Himalaya verständigen können. Erneut kam es jetzt zu Grenzstreitigkeiten und militärischen Scharmützeln mit Toten auf beiden Seiten. Keine der beiden Seiten rückt von ihrer Position ab, und beide wollen jeden Zentimeter umstrittenen Territoriums verteidigen. Um drei Gebiete entlang der fast 4 000 km langen Grenze geht der Streit. Im westlichen Teil das sogenannte Aksai Chin, im östlichen Teil der indische Staat Arunachal Pradesh, den China als Süd-Tibet bezeichnet, und als drittes der mittlere Sektor, weniger umstritten und von China als „Sikkim State of the Republic of India“ quasi informell anerkannt.

Der Grenzkonflikt hat seinen Ursprung in der Kolonialzeit. Großbritannien hinterließ das Gebiet bei der Unabhängigkeit Indiens als „undefinierte Grenze zwischen China und Indien“. Verschiedene Konventionen, besonders das Simla Abkommen von 1914, werden von Indien und China unterschiedlich interpretiert, und immer wieder versuchen beide Seiten, mit Nadelstichen die eigene Position zu stärken. 1962 führten die Differenzen zu einem Krieg, bei dem die indische Armee eine empfindliche Niederlage erlitt, die in Neu-Delhi bis heute als Schmach empfunden wird.

In den vergangenen Jahrzehnten verhandelten die beiden Regierungen und setzten Grenzkommissionen ein. Dennoch: 2017 stritt man über den Bau einer von China vorangetriebenen Straße, die die Armeen an den Rand des Krieges führte. Heute ist es wieder so weit wegen des Baus einer Straße auf indischer Seite. Die indische Armee beklagt 20 tote Soldaten, und die Heißsporne in Indien fordern Rache.

Chinas Aktivitäten werden in Indien nicht nur als globale Konkurrenz angesehen wie in Europa und den USA. In der unmittelbaren geografischen Nachbarschaft Indiens haben sie eine spannungsgeladene sicherheitspolitische Dimension.

Die Rivalität zwischen Indien und China sitzt tief und betrifft auch das Verhältnis zu Pakistan, Indiens „Erzfeind“. China unterstützt Pakistan politisch und ökonomisch und stärkt, zum Ärger und zur Sorge Indiens, das pakistanische Militär. Trotz einiger Versuche Indiens, die Beziehungen zu Pakistan zu normalisieren, führt der Streit um Kaschmir seit der Unabhängigkeit vor mehr als sieben Jahrzenten immer wieder zu Rückschlägen. Vier Kriege zwischen den beiden Atommächten Indien und Pakistan hinterließen eine Beziehung, die durch Ressentiments und Misstrauen gekennzeichnet ist. Der nicht gelöste Kaschmirkonflikt, die territorialen Ansprüche beider Seiten, der Ruf nach Autonomie in Kaschmir selbst und der von pakistanischen Milizen ausgehende Terrorismus lassen kaum Spielraum für Diplomatie zu. Bislang bedroht man sich mit konventionellen militärischen Mitteln, doch beide Seiten haben ein einsatzfähiges Atomarsenal in der Hinterhand.

In dieser indisch-pakistanischen Gemengelage hat sich die chinesische Regierung eindeutig auf Pakistans Seite geschlagen. China ist mit Abstand der größte Waffenlieferant Pakistans, und bei politisch-diplomatischen Bemühungen stützt Pakistan konsequent Chinas Position, umgekehrt unterstützt China Pakistan. Mithin sind die Grenzprobleme für Indien sowohl mit Pakistan als auch mit China eine Quelle der Unsicherheit.

Chinas Projekt „Neue Seidenstraße“ heizt die Situation weiter an. Insbesondere ist der „Chinesisch-pakistanische Wirtschaftskorridor“ zwischen der chinesischen Unruheprovinz Xinjiang und Pakistans Tiefseewasserhafen Gwadar ein Dorn im Auge der indischen Regierung. Obwohl das Projekt als „Wirtschaftskorridor“ bezeichnet wird, ist seine strategische Bedeutung offensichtlich. Chinas Aktivitäten werden in Indien nicht nur als globale Konkurrenz angesehen wie in Europa und den USA. In der unmittelbaren geografischen Nachbarschaft Indiens haben sie eine spannungsgeladene sicherheitspolitische Dimension. Das Eisenbahn- und Straßenprojekt führt durch ein von Pakistan administriertes Gebiet, auf das auch Indien Anspruch erhebt. Die indische Regierung stemmt sich gegen die „Neue Seidenstraße“ und erklärte bereits 2015 die Pläne Chinas für „inakzeptabel“.

Sowohl das Nuklearprogramm als auch große Investitionen in ein militärisch nutzbares Weltraumprogramm unterstreichen die globalen Ambitionen Indiens. Doch die indischen Wünsche wurden oft von China blockiert.

Seit langem drängt Indien auf mehr globalen Einfluss und ist bereit, Verantwortung zu übernehmen. Indien will nicht länger in der Regionalpolitik steckenbleiben, sondern global mitmischen. Der Doyen der indischen Außenpolitik, Raja C. Mohan, argumentiert, dass seine Stärke es Indien ermöglichen sollte, „seine rechtmäßige Position auf der Weltbühne einzunehmen.“ Premierminister Modi selbst sagte 2015 selbstbewusst: „Die Zeiten sind vorbei, als Indien betteln musste. Jetzt wollen wir unser Recht. Es ist Indiens Recht, einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen zu bekommen.“

Indiens phänomenales Wachstum seit den 1990er Jahren hat zu diesen ehrgeizigen Zielen beigetragen. Sowohl das Nuklearprogramm als auch große Investitionen in ein militärisch nutzbares Weltraumprogramm unterstreichen die globalen Ambitionen. Doch die indischen Wünsche wurden oft von China blockiert, so beispielsweise bei der Reform des UN-Sicherheitsrats. Zusammen mit anderen Regierungen verhinderte China auch, dass Indien in den exklusiven Club der „Nuclear Suppliers Group“, die den Transfer nuklearer Technologie kontrolliert, aufgenommen wurde. Immer wieder diplomatisch von China ausgebremst zu werden kränkt das Selbstbewusstsein der indischen Elite.

Trotz normaler diplomatischer und wirtschaftlicher Beziehungen zwischen China und Indien und diversen Treffen zwischen Narendra Modi und Xi Jinping hat sich die Rivalität zwischen den beiden Ländern verstärkt. Die chinesisch-indische „Brüderschaft“ zu Zeiten Nehrus und Mao Tse-tungs ist längst dahin. 2005 schlossen die USA und Indien einen sogenannten „Nuclear Deal“, in dem die USA de facto den Nuklearstatus Indiens anerkannten, obwohl Indien nicht dem Atomwaffen­sperrvertag beitrat. Indien wurde damit als strategischer Partner der USA im globalen Wettstreit mit China anerkannt.

Würden die heutigen fragilen bis spannungsreichen Beziehungen zwischen Indien und China durch Kooperation gestärkt, hätte dies enorme positive wirtschaftliche und sicherheitspolitische Auswirkungen in der Region und weit darüber hinaus.

Zurzeit liegt, gemessen an den Militärausgaben, China auf Platz zwei und Indien auf Platz drei der Weltrangliste, noch vor Russland und übertroffen nur von den USA. China wendet jährlich über 260 Milliarden US-Dollar für sein Militär auf, Indien derzeit über 70 Milliarden. Chinas Verteidigungsbudget ist damit fast viermal so hoch wie Indiens, während man vor zwei Jahrzehnten ungefähr gleich viel ausgab. Beide Regierungen fühlen sich, trotz ungelöster sozialer und politischer Probleme als asiatische Kraftzentren und wollen sich politisch, wirtschaftlich und militärisch positionieren.

Chinas diplomatische, ökonomische und maritime Aktivitäten im Indischen Ozean werden in Indien zunehmend als Risiko angesehen. China investiert mit großem Aufwand in Hafenprojekte in verschiedenen Ländern, von Sri Lanka bis Pakistan, von Myanmar bis Bangladesch und Djibuti. Indische Sicherheitsexperten sprechen von einer „Einkreisung“ durch diese „Perlenkette“ an Stützpunkten und fordern die Aufrüstung der indischen Marine. Natürlich dementiert die chinesische Regierung militärische Absichten jedweder Art, doch die Dual-use-Kapazität der Häfen für zivile und militärische Zwecke ist offensichtlich.

China wiederum ist in Sorge wegen der US-indischen Partnerschaft. Immer wieder hat es Versuche von beiden Regierungen in Peking und Neu-Delhi gegeben, die wechselseitige Kooperation zu verstärken. Auch wenn Premierminister Modi die regionale Kooperation der Anrainerstaaten des Indischen Ozeans einfordert, bleiben besorgte bis alarmistische Stimmen in Neu-Delhi über Chinas wachsenden Einfluss und seine Einkreisungsstrategie. Angesichts des großen Potenzials dieser beiden asiatischen Länder ist die derzeitige Kooperation zwischen ihnen deutlich unterentwickelt. Würden die heutigen fragilen bis spannungsreichen Beziehungen zwischen Indien und China durch Kooperation gestärkt, hätte dies enorme positive wirtschaftliche und sicherheitspolitische Auswirkungen in der Region und weit darüber hinaus. Doch derzeit sind Rüstungsanstrengungen auf der Tagesordnung. Man lässt die Muskeln spielen, um notfalls für eine militärische Auseinandersetzung vorbereitet zu sein.