Das 20. Jahrhundert gilt als US-amerikanisches Jahrhundert. Angesichts des offensichtlichen Niedergangs der Washington-Epoche konzentriert der internationale Diskurs sich nun darauf, wer wohl an die Stelle der USA als Weltordnungsmacht treten wird. Die vielfach publizierten Beiträge prognostizieren in der Regel nur einen Akteur – China. Folgt man dem Berliner Politikwissenschaftler Herfried Münkler, löst im internationalen System aber nicht lediglich ein bislang dominierender Hüter einen anderen ab. China bemühe sich zwar durchaus um regionale Vormachtstellung, erstrebe jedoch keine globale Dominanz. Diese würde sein Potenzial und Reservoir auch überlasten. Münklers Vorausschau in die nähere Zukunft richtet sich vielmehr auf eine hierarchisch-strukturierte Staatenwelt mit den fünf einflussreichsten Akteuren USA, China, Russland, EU – unter der Prämisse ihres Zusammenhalts – und Indien.

Mit seinem Buchtitel „Unsere Asiatische Zukunft“ sagt der amerikanisch-indische Politikwissenschaftler Parag Khanna eine etwas andere kommende globale Ordnung voraus. Ihm zufolge wird Asien zwar nicht die ordnungspolitische Nachfolge der USA und des Westens antreten, diese aber gleichwohl prägen. China allerdings stehe vor dem Problem, Hunderte Milliarden Dollar für ehrgeizige euro-asiatische Infrastrukturprojekte auszugeben und sich damit Gewicht und Einwirkung zu verschaffen, zugleich jedoch auch Gegenreaktionen hervorzurufen.

Und Indien? Der südasiatische Subkontinent ist hinsichtlich seiner territorialen Größe, betonten kulturellen Einzigartigkeit, nuklearen Bewaffnung und Bevölkerungszahl der bedeutendste geopolitische Rivale Chinas in Asien. In beiden Staaten leben derzeit etwa gleich viele Menschen. China wird seinen Höchststand 2030 mit 1,44 Milliarden Staatsbürgern erreichen. In knapp zehn Jahren aber wird Indien das Reich der Mitte bereits übertreffen. Für 2060 prognostizieren Demografen eine Bevölkerungszahl von 1,68 Milliarden Menschen. Damit wäre der Subkontinent das bevölkerungsreichste Land der Erde. Allein die Bewohnerzahl von Mumbai, Delhi und Kolkata übersteigt schon heute die von Italien. 65 Prozent aller Bürgerinnen und Bürger sind jünger als 30 Jahre. Das ist gleichzeitig ein potenzieller intellektueller Schatz wie zugleich eine enorme bildungspolitische Bürde, denn vielerorts werden staatliche Schulen wie Universitäten sträflich vernachlässigt. 400 Millionen Analphabeten müssen irgendwie über die Runden kommen. Etwa 370 Millionen Menschen leben in mehrdimensionaler Armut – mit knapp zwei Dollar Einkommen am Tag. 600 Millionen haben keinen Zugang zu Strom, und eine noch größere Zahl zu sauberem Wasser.

Mit seiner nationalistischen hinduistischen Volkspartei verfolgt Premierminister Narendra Modi weltpolitischen Mitgestaltungsanspruch.

Indien ist ein Paradebeispiel von Gegensätzen oder von Pluralität, je nach Perspektive und Standpunkt: Es ist ein Großstaat, unterteilt in 28 Bundesstaaten und neun zentralverwaltete Unionsterritorien, mit acht Religionen sowie 22 offiziell anerkannten Sprachen, von denen keine mehrheitlich im Land gesprochen wird. Das Sozialsystem ist starr in ein vierstufiges, hierarchisches Kastenraster gegliedert. Darunter stehen die etwa 200 Millionen Dalits, die Unberührbaren. Völlig außerhalb der Kastenordnung sind die Adivasi, „die ersten Bewohner“. Sie sind die am stärksten sozial diskriminierte und exkludierte Schicht und stellen rund sieben Prozent der Gesamtbevölkerung. Wo so viel Schatten fällt, da scheint für die Politik auch Licht. Sie  verweist stolz auf die jährlich rund zehn Millionen, die sich aus der Armut befreien können. Doch mit Blick auf die enorme Gesamtarmut müssten die Anstrengungen zur Reform des seit Jahrzehnten stark regulierten, wenig flexiblen Arbeitsmarktes viel stärker ausfallen.

Mit seiner – seit Mai 2019 für eine zweite Amtsperiode mit der Machtfülle einer absoluten parlamentarischen Mehrheit ausgestatteten – nationalistischen hinduistischen Volkspartei verfolgt Premierminister Narendra Modi weltpolitischen Mitgestaltungsanspruch. Sein Mantra lautet: „Jetzt ist Indien an der Reihe. Wir wissen, dass unsere Zeit gekommen ist.“ Seine „kompetitive Zukunftsvision“, die Priorisierung von wirtschaftlichem Wachstum als herausragendem nationalem Ziel, versteht er als einen Pfeiler der beanspruchten globalen Rolle. Es sind aber nicht nur Ökonomie, Demografie und Demokratie – „immerhin ist Indien die größte Demokratie der Welt“ –, die Indiens internationale Bedeutung unterstreichen sollen.

Mit historischem Rückblick auf einst mächtige Dynastien wird zudem Anspruch auf kulturellen Vorrang in Südasien erhoben. Den sehnlich gewünschten Zugang zur exklusiven Mitgliedschaft im UN-Sicherheitsrat aber versperrt weiterhin insbesondere China. Das Sino-Indo-Verhältnis ist ein ständiges Schwanken zwischen friedlicher Koexistenz und Konfliktbereitschaft. Die USA und Indien verbindet seit 2008 eine wachsende Handelspartnerschaft und die gemeinsame Sorge gegenüber Pekings Geopolitik in Asien. Bereits jetzt ist offensichtlich, dass mit Blick auf die Corona-Pandemie Delhis Rückkehr auf die internationale Bühne länger dauern wird, als es bei China der Fall ist.

Innenpolitisch treibt die Regierung mit hindu-nationalistischer Rhetorik und juristischen Maßnahmen gegen die muslimische Bevölkerung – immerhin mehr als 13 Prozent der Gesamtbevölkerung – die Umstrukturierung in einen Hindustaat voran. Dazu zählen das neue Staatsbürgerschaftsgesetz von Dezember 2019 mit der Möglichkeit schneller Einbürgerungen für Nicht-Muslime aus Afghanistan, Pakistan und Bangladesch, wie auch der Aufbau eines landesweiten Bürgerregisters. Damit sollen illegale Migranten, zumeist Muslime, identifiziert und abgeschoben werden. Diese Maßnahmen trafen auf massive Kritik, wird doch die Verfassungsidee einer Staatsbürgerschaft unabhängig von der religiösen Identität damit verletzt. Im selben Kontext stehen auch die Abschaffung des Autonomiestatus von Kaschmir und die Umwandlung in ein von Delhi kontrolliertes Unionsterritorium sowie die dort anhaltenden Notstandsregelungen.

Das ehrgeizige Ziel der Modi-Regierung, bis 2025 eine Fünf-Billionen-Dollar-Wirtschaft zu werden und sich bis 2030 zu einem Land hohen mittleren Einkommens zu entwickeln, ist durch die Covid-19-Pandemie aller Voraussicht nach nicht mehr zu erreichen.

Das ehrgeizige Ziel der Modi-Regierung, bis 2025 eine Fünf-Billionen-Dollar-Wirtschaft zu werden und sich bis 2030 zu einem Land hohen mittleren Einkommens zu entwickeln, ist durch die Covid-19-Pandemie aller Voraussicht nach nicht mehr zu erreichen. Mitte September gab es mehr als fünf Millionen bestätigte Infektionsfälle und die Zahlen steigen unaufhörlich weiter. Nach Auskunft des nationalen Gesundheitsministerium liegt die Sterberate derzeit aber nur bei 1,7 Prozent – der weltweite Durchschnitt liegt bei 3,4 Prozent.

Das Bruttoinlandsprodukt wird voraussichtlich im laufenden Finanzjahr nur um zwei Prozent steigen. Bei anhaltender Pandemie über die Jahreswende hinaus könnte die Wirtschaft sogar bis zu fünf Prozent einbrechen. Im April erwartete der Internationale Währungsfonds für das nächste Finanzjahr optimistisch noch ein Wachstum von 7,4 Prozent. Die Regierung hofft auf deutliche Wirtschaftsimpulse durch ihr 250 Milliarden schweres Konjunkturprogramm vom Mai. Durch Konjunkturprogramm und Steuereinbußen allerdings wird das Haushaltsdefizit um bis zu acht Prozent steigen.

Die Regierung müsste endlich mit einer kohärenten Wirtschaftspolitik die derzeit verunsicherten Investoren überzeugen. Zwar war Indien  in den letzten vier Jahren im Ease of Doing Business Ranking der Weltbank von Platz 130 auf 77 aufgestiegen. Doch der im November 2019 unerwartete Rückzug aus dem asienweiten Freihandelsabkommen RCEP hat das Vertrauen der Investoren in die Verlässlichkeit der indischen Regierung stark beeinträchtigt. Die indische Regierung hatte sich geweigert, dem geplanten Abbau von Zöllen zuzustimmen. Als daraufhin die anderen Partner drohten, Indien aus den Verhandlungen auszuschließen, stieg die Regierung Modi kurzerhand selbst aus.

China nutzte die Schwäche der indischen Wirtschaft und Währung sowie die niedrigen Börsenkurse für Käufe und Übernahmen in Indien.

China nutzte die Schwäche der indischen Wirtschaft und Währung sowie die niedrigen Börsenkurse für Käufe und Übernahmen. Die Volksrepublik hält derzeit in Indien Direktinvestitionen in Höhe von 6,2 Milliarden Dollar und ist der größte Anleger. Keiner weiß aber, wie hoch der chinesische Anteil über Fonds an indischen Unternehmen ist. Die Modi-Regierung entzog im April generell allen Direktinvestitionen aus den Nachbarländern die automatische Konzession, so dass Käufe und Übernahmen von Unternehmen nun genehmigungspflichtig sind. Dieser Vorstoß richtet sich offensichtlich nicht gegen Investoren aus Sri Lanka, Nepal oder Bangladesch, sondern gegen China. Immerhin sollen 18 der 30 großen Neugründungen im indischen Technologiebereich auf chinesisches Geld angewiesen sein. Aber im Ranking der größten chinesischen Handelspartner belegt Indien nur Platz 19. In vielen Wirtschaftsbranchen ist es von chinesischen Zulieferungen abhängig. Im Zuge des seit langem verfolgten nationalistischen Kurses  kam es im Sommer in mehreren Städten zu antichinesischen Protesten. Im Juni verbot die Regierung 59 chinesische Apps, darunter auch Tiktok, das etwa 200 Millionen Inder nutzen. Mit Verweis auf die nationale Sicherheit wurde zuvor auch Huawei ausgegrenzt und die Beteiligung chinesischer Unternehmer an notwendigen Modernisierungen indischer Häfen verboten.

Die Corona-Krise hat – wie vielen anderen Staaten – auch Indien die eigene Abhängigkeit von chinesischen Importen aufgezeigt. Die Regierung Modi reagiert mit dem politisch-strategischen Vorsatz des Aatmanibhar Bharat, des selbstständigen Indien. Als Schlüsselfaktor gilt dabei die Stärkung der lokalen Wertschöpfung in zentralen Industriebranchen. Nach der neuerlichen Eskalation des blutigen chinesisch-indischen Grenzkonflikts an der strittigen Line of Actual Control (LAC) im Himalayagebiet werden diese ökonomischen Restriktionen innenpolitisch unter dem Stichwort der Nationalen Sicherheit instrumentalisiert. Der starken Abhängigkeit von chinesischen Importen bei Vorprodukten in den Bereichen Pharma, Elektronik, Telekommunikation und Kraftwerksbau soll durch Substitutionsimporte entgegengewirkt werden.

Während solche Maßnahmen in der Bevölkerung durchaus Anklang finden, befürchtet die indische Wirtschaft, dass durch den Boykott chinesischen industriellen Equipments und den Kauf aus Drittländern die Preise steigen werden. Kurzfristig sind für die indische Wirtschaft negative Effekte zu erwarten, das genaue Ausmaß aber kann noch nicht prognostiziert werden. Mittel- und langfristig aber könnte damit die einheimische Produktion gestärkt werden; gleiches gilt für die ökonomische Verflechtung mit Drittländern in Asien und mit den USA.