Premierminister Narendra Modis Statement unmittelbar nach dem Angriff der Hamas ließ nichts an Deutlichkeit vermissen: Wir sind „zutiefst geschockt von den Nachrichten der terroristischen Attacke in Israel … In Solidarität stehen wir Israel in dieser schwierigen Stunde bei.“ Die Tageszeitung Indian Express schlussfolgerte am 8. Oktober: Dies „ist eine unverkennbare Verschiebung weg von dem sorgfältig choreografierten Balanceakt, der frühere Reaktionen Neu-Delhis bei Auseinandersetzungen zwischen Israel und militanten Palästinensern kennzeichnete.“

Warum die zurückhaltende Reaktion nach dem Beginn von Russlands Krieg im Februar 2022? Seit jeher hat Indien sich als blockfreies Land verstanden. Die indische Regierung geht, wie sie es bezeichnet, „multiple Allianzen“ ein und sucht sich Partnerschaften aus, die der eigenen Interessenlage entsprechen. Samir Saran, Präsident des großen indischen Thinktanks Observer Research Foundation, der auch die Regierung berät, argumentiert, dass die heutige Geopolitik durch die Wahrnehmung von Eigeninteressen gekennzeichnet ist. Er spricht von „limited liability partnerships among nations“, also Partnerschaften mit beschränkter Haftung. Das unterschiedliche Verhalten Indiens gegenüber der Ukraine und Israel, die beide völkerrechtswidrig angegriffen wurden, erklärt sich aus dieser Balancepolitik, die manche Beobachter auch als Schaukelpolitik bezeichnen.

Indien pflegt seit langem ein freundschaftliches Verhältnis zu Russland, das mit einem Freundschaftsvertrag zwischen Indien und der Sowjetunion 1971 fest vereinbart wurde. Danach wurde die Sowjetunion und später Russland Indiens Hauptlieferant für Rüstung. Die indischen Streitkräfte sind bis heute auf die Kooperation Russlands bei ihrem Waffenarsenal angewiesen. Außerdem importiert Indien Energie zu günstigen Kondition aus Russland, auch wenn die Abhängigkeit bereits reduziert wurde und Indien aktiv um eine Diversifizierung bemüht ist.

Bei der entscheidenden Abstimmung in der UN-Vollversammlung, mit der Russlands Angriffskrieg mit überwältigender Mehrheit missbilligt wurde, enthielt sich Indien der Stimme. Danach machte Außenminister Subrahmanyam Jaishankar klar, dass Indiens Wirtschaftsinteressen wichtiger sind als die Isolierung Russlands. Die indische Außen- und Sicherheitspolitik ist weiterhin daran orientiert, sich nicht von einem der konkurrierenden geopolitischen Camps vereinnahmen zu lassen, und wies deshalb die Aufforderungen des Westens zurück, sich an den Sanktionen gegen Russland zu beteiligen.

Erst seit 1992 unterhalten Israel und Indien diplomatische Beziehungen.

Zu Israel pflegt Indien, im Gegensatz zur Ukraine, sehr enge politische und wirtschaftliche Beziehungen. Doch die waren nicht immer so freundschaftlich. Als Indien 1947 seine Unabhängigkeit von der britischen Kolonialmacht erkämpft hatte, wurde dies von den Israelis enthusiastisch begrüßt. Dabei hatte sich Mahatma Gandhi vorher über Israels Staatsgründung 1948 äußerst kritisch geäußert: „Palästina gehört den Arabern, im gleichen Sinne wie England den Engländern und Frankreich den Franzosen gehört. Es ist falsch und inhuman, den Arabern die Juden aufzuzwingen.“

An dieser distanzierten Haltung zu Israel änderte sich lange nichts und Indien stimmte bis 2015 sämtlichen UN-Resolutionen zu, mit denen Israels Palästinapolitik verurteilt wurde. Indien war das erste nicht-arabische Land, das die Palestine Liberation Organization (PLO) als einzige legitime Repräsentanz der Palästinenser anerkannte. Erst im Jahr 2015 enthielt sich Indien erstmals der Stimme im UN-Ausschuss für Menschenrechte, als Israel sich wegen Kriegsverbrechen vor dem Internationalen Strafgerichtshof verantworten sollte.

Es gab jedoch durchaus Anknüpfungspunkte zwischen Israel und Indien. Der Zionismus war nicht nur bei Indiens Hindunationalisten populär, auch Indiens erster Premierminister, Jawaharlal Nehru, hatte viel Anerkennung für das zionistische Staatsbildungskonzept übrig. Nehru lehnte jedoch die diplomatische Anerkennung Israels ab, weil er um die Akzeptanz der indischen Blockfreiheit bei arabischen Regierungen fürchtete.

Mehr als vier Jahrzehnte wies Indien Israels Avancen zurück. Erst seit 1992 unterhalten Israel und Indien diplomatische Beziehungen. Das lange Zögern der indischen Regierung lag auch daran, dass Indien auf Öllieferungen aus dem Nahen Osten angewiesen war. Inzwischen unterhalten die beiden Länder intensive Beziehungen im Handel, mit hohen jährlichen Wachstumsraten, in der Landwirtschaft und in der Kultur.

Rund 40 Prozent aller Rüstungsexporte Israels gehen nach Indien.

Israel ist zu einem wichtigen, zeitweise zum zweitwichtigsten Rüstungslieferanten für Indien geworden. Rund 40 Prozent aller Rüstungsexporte Israels gehen nach Indien. Israelische Firmen modernisierten die veralteten sowjetischen MiG-21 und andere Kampfflugzeuge der indischen Streitkräfte. Seit Jahren liefert Israel Elektronik und Raketen für die Modernisierung fast sämtlicher Waffenkategorien. Ein Abkommen sieht die gemeinsame Produktion von Flugabwehrraketen vor. Laut Schätzungen des Stockholmer Friedensforschungsinstituts (SIPRI) betrug das Volumen der israelischen Rüstungsexporte nach Indien in den letzten fünf Jahren 1,8 Milliarden US-Dollar. Um sich gegen die aggressive Politik Chinas zu wappnen, orderte Indien weitere Waffen von Israel. Der indische Verteidigungsminister Rajnath Singh und sein israelischer Kollege Benny Gantz verabredeten bei einem Besuch im Juni 2022 in Indien die Stärkung der bilateralen Beziehungen, und sie sprachen über ein weiteres Engagement israelischer Firmen in der indischen Rüstungsindustrie.

Der „Krieg gegen den Terror“ nach dem 11. September 2001 führte zu einer Intensivierung der indisch-israelischen Beziehungen. Beide Länder machten bittere Erfahrungen mit terroristischen Anschlägen: Israel wegen der ungeklärten Palästinafrage, Indien früher durch die Tamil Tigers in Sri Lanka und bis heute wegen Kaschmir, um das sich Indien und Pakistan erbittert streiten. Im Jahr 2008 erlebte Indien sein „9/11“, als bei einem Terroranschlag nach offiziellen Angaben 166 Menschen getötet wurden, darunter auch Israelis. Ziel des Anschlags waren touristische und jüdische Einrichtungen in Mumbai.

Das israelische Konzept der Heimatverteidigung fand folgend in Indien großen Zuspruch. Streitkräfte und Polizei sollten von der „israelischen Erfahrung“ profitieren. Aufgrund des öffentlichen Drucks praktiziert die indische Regierung seither ein härteres militaristisches Vorgehen gegen Terrorismusverdächtige. Eine indische Delegation besuchte Israel und als Ergebnis wurde eine von Israel trainierte Kommandoeinheit in Mumbai aufgebaut. Mit israelischer technischer Unterstützung schuf Indien ein zentrales elektronisches Monitoringsystem, das in der Lage ist, umfassend private Kommunikation zu überwachen. Dabei wurde auch die berüchtigte israelische Spionagesoftware Pegasus eingesetzt.

Das israelisch-indisch Verhältnis hat sich durch die jeweilige Terrorbekämpfung fortentwickelt und ist seit Modis Besuch in Israel 2017 und Netanjahus Gegenbesuch 2018 ungetrübt. Sowohl das 25-jährige als auch das 30-jährige Bestehen diplomatischer Anerkennung waren Anlass für den weiteren Ausbau der Beziehungen. Es ist zu erwarten, dass Indien diese Politik so lange weiter pflegt, wie es seiner Interessenlage entspricht.