Die Welt erlebt gegenwärtig Krieg, Feindseligkeiten und geopolitische Spannungen – im Nahen Osten, in der Ukraine und im Asien-Pazifik-Raum. In dieser Situation sind die Neuseeländerinnen und Neuseeländer am kommenden Wochenende aufgerufen, ein neues Parlament zu wählen. Die Alternative, vor der sie stehen, ist traditionell: hier linke, dort rechte Parteien.
In der Frühphase des Wahlkampfs sah es danach aus, als wären viele Wählerinnen und Wähler von der amtierenden Regierung unter Führung der Labour-Partei enttäuscht, die sie zwar sicher durch die Corona-Pandemie gesteuert hat, aber die steigenden Lebenshaltungskosten nicht in den Griff bekommt. Die oppositionelle Nationalpartei, die der rechten Mitte zuzuordnen ist, stellt Kürzungen der Staatsausgaben in Aussicht, was auch harte Sparmaßnahmen beinhalten könnte, und will die Sorgen und Nöte der Bevölkerung mit Steuersenkungen lindern. Unabhängige Beobachterinnen und Journalisten äußern zwar Zweifel am Rechenwerk der Nationalpartei, aber in den Umfragen konnte sie zulegen. Die neuesten Zahlen deuten allerdings darauf hin, dass der Wettlauf um die Wählerstimmen doch knapper ausfallen könnte als zunächst gedacht.
Seit Jacinda Ardern nicht mehr Chefin der Labour Party ist, hat sich auch der sprachliche Umgang gewandelt.
Unter mehreren Gesichtspunkten könnte der Unterschied zwischen der diesjährigen Parlamentswahl und der Wahl von 2020 kaum größer sein. Seit Jacinda Ardern nicht mehr Chefin der Labour Party ist, hat sich auch der sprachliche Umgang gewandelt: Der zugewandte, freundliche Ton ist dahin. Stattdessen wendet sich die Stimmung in Neuseeland wieder verstärkt gegen die indigenen Maoris. Auf Vorschläge, dass die indigenen Bevölkerungsgruppen über natürliche Ressourcen und Infrastruktur mitentscheiden sollten (Co-Governance), oder die Entscheidung, das Gesundheitswesen stärker auf die Bedürfnisse der Maori-Gemeinschaften zuzuschneiden, gibt es wieder vermehrt extremistische Gegenreaktionen. Die Beziehungen zwischen den ethnischen Gruppen im Land sind im diesjährigen Wahlkampf in einem Maße politisiert worden, wie man es seit 2004 nicht mehr erlebt hat, als der damalige Nationalpartei-Vorsitzende Don Brash seine bis heute berühmt-berüchtigte „Orewa-Rede“ hielt.
Mit diesen Stimmungen und Reaktionen wächst auch die Opposition gegen die heute weithin anerkannte Rolle des Vertrags von Waitangi, der in diversen Politikfeldern zu einem partnerschaftlichen Verhältnis zwischen den Maori und dem Staat beiträgt. Der Vertrag wurde 1840 zwischen der Mehrheit der Maori-Stammesoberhäupter und Vertretern der britischen Krone geschlossen und hat verfassungsrechtlich und kulturell eine große Bedeutung.
Jene extremistischen Positionen werden vor allem von kleineren rechten Parteien vertreten, auf die die Nationalpartei jedoch wahrscheinlich als Koalitionspartner angewiesen sein wird, falls sie die nächste Regierung bildet. Was diesen kleineren Parteien vorschwebt, geht der Nationalpartei allerdings so gegen den Strich, dass sie mit der Forderung von Neuwahlen droht für den Fall, dass aufgrund nicht verhandelbarer roter Linien nur eine wackelige Koalition zustande kommen würde.
Während diese taktischen Manöver des rechten Spektrums von Politikern und Journalisten öffentlich ausgetragen werden, haben laut einer aktuellen IPSOS-Umfrage die meisten Wählerinnen und Wähler andere Sorgen. Die Beziehungen zwischen den ethnischen Gruppen kommen in der Liste der fünf Themen, die den Menschen am meisten auf den Nägeln brennen, nicht vor. Wichtig sind neben den Lebenshaltungskosten auch die Inflation, innere Sicherheit und Gesundheit.
Erhebungen trauen den Grünen sogar ein Wählerpotenzial von 14 Prozent zu – das wäre ein Rekord für die Partei.
Die beiden kleineren linken Parteien (die Grünen und die Maori-Partei Te Pāti Māori) haben die fünf drängendsten Probleme zu zentralen Wahlkampfthemen gemacht. Sie senden konsequent positive Botschaften aus und gewinnen relativ geräuschlos mehr und mehr Unterstützerinnen und Unterstützer. Die allerneuesten Erhebungen trauen den Grünen sogar ein Wählerpotenzial von 14 Prozent zu – das wäre ein Rekord für die Partei. Te Pāti Māori wird voraussichtlich einen Parlamentssitz hinzugewinnen. Dass die beiden Parteien und Labour zusammen 50 Prozent der Sitze erobern, ist unwahrscheinlich, aber inzwischen deutet vieles auf ein Kopf-an-Kopf-Rennen hin, während die Umfragen noch vor einem Monat auf einen mühelosen Sieg der rechten Parteien hindeuteten.
Was den linken Parteien Sorge bereitet, ist die zu erwartende Wahlbeteiligung. Ob der populistische und reaktionäre Angriffswahlkampf und die drohenden und beleidigenden Töne gegenüber den gegnerischen Kandidaten zu einer geringeren Wahlbeteiligung führen werden, ist nicht abzusehen. In diesem Jahr machen weniger Wähler von der Möglichkeit der vorzeitigen Stimmabgabe Gebrauch als 2020, aber mehr als 2017. Ersteres ist nicht überraschend und hat zwei Gründe. Erstens fand die Wahl 2020 unter Corona-Bedingungen statt, und wegen der zusätzlichen Abstandsregeln, die von der Wahlkommission beschlossen worden waren, galt die vorzeitige Stimmabgabe damals als gefahrlosere Alternative zum Gang ins Wahllokal.
Was den linken Parteien Sorge bereitet, ist die zu erwartende Wahlbeteiligung.
Zweitens finden in diesem Jahr zeitgleich zur Wahl keine Referenden zu wichtigen Themen statt. Am Wahltag 2020 wurde auch über die Legalisierung der Sterbehilfe und des Cannabisverkaufs abgestimmt. Für jüngere Wählerinnen und Wähler war gerade das Cannabisthema eine Motivation, von ihrem Wahlrecht Gebrauch zu machen. Dass am kommenden Wochenende keine solchen Referenden anstehen und dass rechtspopulistische Positionen eine dominierende Rolle spielen, könnte der Wahlbeteiligung schaden.
Der Stimmenanteil der Labour-Partei dürfte diesmal geringer ausfallen, und das war für 2023 auch schon lange voraussehbar. Neuseeland hat ein ähnliches Wahlsystem wie Deutschland, in dem Koalitionen oder Duldungsmodelle die Regel sind. Vor diesem Hintergrund war das Wahlergebnis von 2020 eine Ausnahme, als Labour genügend Stimmen holte, um eine Regierung mit absoluter Mehrheit zu bilden. Dies war zuvor noch nie vorgekommen, seit 1996 das personalisierte Verhältniswahlrecht eingeführt wurde, und lag mit Sicherheit daran, dass die Wählerschaft während der Corona-Pandemie ein starkes Vertrauensverhältnis zu Jacinda Ardern aufgebaut hatte. Labour kann nach den aktuellen Umfragen mit etwas über 30 Prozent rechnen.
So oder so ist nicht zu erwarten, dass die beiden großen Parteien auch nur in die Nähe der 40-Prozent-Marke kommen. Beide werden also auf die kleineren Parteien angewiesen sein – insbesondere auf die populistische, von Maoris geführte Partei New Zealand First, die sozial konservative und anti-neoliberale Positionen vertritt und dem Vertrag von Waitangi kritisch gegenübersteht. Sie ist dafür bekannt, dass sich Koalitionsverhandlungen mit ihr oft in die Länge ziehen.
Am Donnerstag vor der Wahl fand das letzte Fernsehduell zwischen dem Herausforderer Christopher Luxon von der Nationalpartei und Labour-Chef und Premierminister Chris Hipkins statt. Die bisher unentschlossenen Wählerinnen und Wähler wissen vielleicht inzwischen, wem sie ihre Stimme geben werden. Das unerwartet knappe Rennen lockt möglicherweise mehr Wahlberechtigte an die Urnen, weil beiden Seiten des politischen Spektrums bewusst ist, dass es wirklich auf jede einzelne Stimme ankommt. Doch was auch immer in den letzten Tagen bis zur Wahl passiert – die Regierungsbildung wird wohl kaum vor Mitte November abgeschlossen sein. Neuseeland kehrt also nach der coronabedingten Ausnahmewahl wieder zur wahlsystembedingten Normalität zurück.
Aus dem Englischen von Andreas Bredenfeld