Ob Imran Khan wusste, was ihn am folgenden Tag erwartete, als er in der Nacht vor dem russischen Angriff auf die Ukraine am Moskauer Flughafen landete? Der pakistanische Premierminister war zu bilateralen Gesprächen mit Präsident Wladimir Putin gekommen. Während im Westen Regierungen die russische Aggression verurteilten und einschneidende Sanktionen vorbereiteten, bot Khan seinem Gastgeber in Moskau die Möglichkeit, einen Anschein von Normalität zu erwecken. Pakistan und Russland unterzeichneten eine Reihe von Vereinbarungen über russische Energie- und Getreideexporte, doch der kritische Zeitpunkt der Reise bestimmte die Schlagzeilen. Auch wenn Khan eine diplomatische Lösung des Konflikts anmahnte, dürfte ihm der vor allem im Westen entstandene negative Eindruck durchaus gelegen gekommen sein.
42 Jahre nach dem russischen Einmarsch in Afghanistan, in dem Pakistan als Partner der USA auf der Gegenseite stand, soll nun eine Ära der Freundschaft und Kooperation anbrechen.
Denn mit Khans seit Langem geplanter Reise soll ein neues Kapitel in den wechselhaften pakistanisch-russischen Beziehungen aufgeschlagen werden. 42 Jahre nach dem russischen Einmarsch in Afghanistan, in dem Pakistan als Partner der USA auf der Gegenseite stand, soll nun eine Ära der Freundschaft und Kooperation anbrechen. Pakistan braucht dringend Energie, die Russland liefern kann. Russland und China wollen den Einfluss der USA in Südasien zurückdrängen. Auf dieser Grundlage könnte eine chinesisch-russisch-pakistanische Dreieckspartnerschaft entstehen. Einen ersten Vorgeschmack brachte Pakistans Abstimmungsverhalten bei der VN-Generalversammlung. Wie China enthielt man sich bei der Abstimmung über die Verurteilung der russischen Invasion der Ukraine. Auf die Mahnung der EU, eine kritischere Haltung einzunehmen, reagierte Khan scharf, dass man kein Sklave des Westens sei.
Eine durch den Krieg in der Ukraine beschleunigte und endgültige Abkehr vom Westen wäre für Pakistan eine Art Zeitenwende. Nicht nur im Kalten Krieg, sondern auch nach den Attentaten vom 11. September 2001 war Pakistan ein wichtiger Partner des Westens. Als Drehscheibe für westlichen Nachschub und mit verlustreichen eigenen Militäraktionen in den Grenzgebieten zu Afghanistan leistete Pakistan einen wichtigen Beitrag im Afghanistan-Krieg, der im Westen nur wenig Beachtung fand. Zwar erhielt man im Gegenzug militärische und wirtschaftliche Unterstützung. Doch das konnte die große Zahl ziviler Opfer in Afghanistan, Drohnenangriffe der USA auf pakistanischem Staatsgebiet und die unabgesprochene Ermordung Osama bin Ladens durch US-Spezialeinheiten in der Nähe der pakistanischen Hauptstadt Islamabad nicht aufwiegen. Die transaktionale Allianz mit dem Westen war daher nie sonderlich beliebt. Der überstürzte Abzug westlicher Truppen aus Afghanistan und die Rückkehr der Taliban im Herbst 2021 wurden mit kaum verhüllter Freude als Niederlage der USA gefeiert.
Der überstürzte Abzug westlicher Truppen aus Afghanistan und die Rückkehr der Taliban wurden mit kaum verhüllter Freude als Niederlage der USA gefeiert.
Diese Erfahrungen bestimmen den pakistanischen Blick auf den Krieg in der Ukraine, der in erster Linie als Konflikt zwischen Russland und den USA wahrgenommen wird. Was den USA schadet, ist bei vielen Menschen populär. Das schließt Mitgefühl für das Leiden der ukrainischen Zivilbevölkerung nicht aus. Aber auch bei den Eliten überwiegt eine gewisse Genugtuung, dass der Westen, der aus pakistanischer Sicht mit seiner Doppelmoral für Leid, Zerstörung und Instabilität in Afghanistan verantwortlich ist, mit der Ukraine nun sein eigenes Afghanistan erlebt. Diese Sichtweise wird von den in Asien durchaus erfolgreichen russischen Informationskriegern seit Wochen verstärkt.
Doch wie ernst ist es Imran Kahn, der 2018 als Reformer startete und nun nach durchwachsener Bilanz unter Druck steht, mit seiner Abkehr vom Westen wirklich? Einerseits ist die Abhängigkeit der schwachen pakistanischen Wirtschaft von China groß. An den China-Pakistan Economic Corridor mit seinen gigantischen Investitionen in Häfen, Straßen und Energieerzeugung sind große Hoffnungen geknüpft. Andererseits ist die pakistanische Wirtschaft eng mit dem Westen verwoben. Die USA und die EU sind wichtige Exportmärkte für die Textilindustrie. Kredite des Internationalen Währungsfonds stabilisieren den maroden Staatshaushalt.
Russland kann Pakistan nichts Vergleichbares anbieten. Und ob die in Moskau vereinbarten Gas- und Getreideimporte unter dem gegenwärtigen Sanktionsregime überhaupt durchführbar sind, ist zweifelhaft. Und schließlich ergibt sich aus Pakistans Neutralität im Ukraine-Krieg noch ein ganz grundsätzliches Problem: Wenn man andernorts dem Stärkeren das Recht zubilligt, Grenzen nach Belieben zu verschieben, kann man bei Streitigkeiten in der eigenen Region nicht mehr glaubhaft auf die Stärke des Rechts pochen. Ob Khans Reise nach Moskau vielleicht mehr Probleme geschaffen als gelöst hat, wird sich schon bald zeigen.