Es ist ein Überraschungserfolg, den die Partei von Ex-Premier und Cricket-Star Imran Khan in Pakistan erzielte. Rund 128 Millionen Pakistaner waren am 8. Februar 2024 dazu aufgerufen, ein neues Parlament zu wählen. Obwohl Khan seit August 2023 in Haft sitzt, die Kandidaten seiner Partei als Unabhängige antreten mussten und in den Medien der dreimalige Premierminister Nawaz Sharif von der PML-N als haushoher Favorit gehandelt wurde, ging Khans PTI mit der größten Gruppe Abgeordneter als Sieger aus den Wahlen hervor. Sharifs Ambitionen auf eine absolute Mehrheit lösten sich noch in der Wahlnacht in Luft auf. Eine bereits im Vorfeld großspurig angekündigte Siegesrede musste er kurzfristig absagen. Das wirtschaftlich schwer angeschlagene Pakistan steht nun vor einer schwierigen Regierungsbildung.
Auch bei diesen Wahlen ringen in Pakistans „hybrider Demokratie“ politische Parteien und ein „Establishment“ genannter Sicherheitsapparat um Macht und Einfluss. Das hat Tradition in einem Land, das bereits viermal direkt durch das Militär regiert wurde. Im Vorfeld der Wahlen ging es daher weniger um konkurrierende politische Ideen zur Bewältigung der dramatischen Wirtschaftskrise, zur Eindämmung des explodierenden Bevölkerungswachstums oder zur dringend nötigen Anpassung an die Folgen des Klimawandels. Stattdessen drehte sich alles um die nicht enden wollende politische Seifenoper zwischen Imran Khan und dem Sicherheits-Establishment.
Bei den letzten Parlamentswahlen 2018 galt der politische Quereinsteiger mit seiner Partei PTI noch als Shootingstar und Hoffnungsträger. Auch wenn er die in ihn gesetzten Hoffnungen während seiner kurzen Regierungszeit nicht erfüllt hat, ist Khan nach wie vor der mit Abstand populärste Politiker. Im Frühjahr 2022 wurde Khan durch ein Misstrauensvotum gestürzt. Dafür macht er bis heute eine Verschwörung der USA, des pakistanischen Militärs und der beiden großen Parteien PML-N und PPP verantwortlich. Er sei gestürzt worden, so Khan, der am Vorabend des Ukraine-Krieges bei Wladimir Putin im Kreml zu Besuch war, weil er Pakistan aus der Bevormundung des Westens habe befreien wollen. Auch wenn alle Beteiligten jede Verschwörung abstreiten und Khan Beweise schuldig bleibt, fällt seine Erzählung in der mehrheitlich anti-westlich eingestellten Bevölkerung auf fruchtbaren Boden. Beobachter machen für Khans Sturz neben seiner umstrittenen Außen- und Wirtschaftspolitik vor allem das Gerangel um die Besetzung wichtiger Spitzenpositionen im Sicherheitsapparat verantwortlich. In der Summe habe Khan dadurch das Vertrauen seiner einstigen Unterstützer im Establishment verloren.
Doch Khan räumte seinen Platz nach dem verlorenen Misstrauensvotum nicht kampflos. Er nutzte seine große Popularität, um auf der Straße gegen die fragile 13-Parteien-Koalition unter Einschluss der eigentlich verfeindeten großen Parteien PML-N und PPP mobil zu machen. Die Regierung unter der Führung von Nawaz Sharifs Bruder Shehbaz Sharif (PML-N) musste angesichts der sich verschärfenden Schulden- und Wirtschaftskrise und auf Druck des Internationalen Währungsfonds viele unbeliebte Entscheidungen treffen. Die Erhöhung von Benzin-, Gas- und Strompreisen war eine Steilvorlage für den versierten Populisten Khan, der eine zunehmend plan- und hilflos wirkende Regierung gekonnt vor sich hertrieb. Um die Proteste zu unterdrücken, setzte die Regierung auch auf Repression. Daraufhin verschärfte Khan den Ton und griff das Sicherheits-Establishment als das eigentliche Machtzentrum der pakistanischen Politik immer offener an. Ihren Höhepunkt fand Khans Kampagne in den gewaltsamen Unruhen nach seiner vorübergehenden Verhaftung in einem Korruptionsverfahren am 9. Mai 2023. Bei den landesweiten Ausschreitungen griffen Khans Anhänger Berichten zufolge auch Militäreinrichtungen an.
Khans PTI wurde nun zu einem Sammelbecken der Unzufriedenen und zu einer attraktiven Protestwahloption.
Aus Sicht des Establishments wurde damit eine rote Linie überschritten. Politiker und Anhänger der PTI bekamen die volle Härte des Sicherheitsapparats zu spüren. Führende PTI-Politiker verließen in der Folgezeit die Partei oder wurden in Folge einer Vielzahl von Gerichtsverfahren verhaftet. In der PTI sah man dies als Vorbereitung für die Parlamentswahlen, um ein schlechtes Ergebnis der Partei zu garantieren. Sollte das der Plan gewesen sein, ging er spektakulär schief. Denn die PTI wurde nun zu einem Sammelbecken der Unzufriedenen und zu einer attraktiven Protestwahloption. Ausweislich der wenigen seriösen Meinungsumfragen vor der Wahl lag Khans Partei mit großem Abstand zur Konkurrenz vorne. Daran änderten weder Khans neuerliche Verhaftung im August 2023 und seine wiederholten Verurteilungen zu mittlerweile mehr als 30 Jahren Haft etwas noch die Nichtzulassung zahlreicher prominenter PTI-Politiker zur Wahl. Selbst der Entzug des traditionellen Cricket-Schläger-Symbols durch die Staatliche Wahlkommission – eine wichtige Orientierung für die rund 40 Prozent Analphabeten unter den Wählern – wegen mangelnder innerparteilicher Demokratie (freilich kein Alleinstellungsmerkmal der PTI) konnte die Wahlchancen von Khans Partei nicht schmälern. Eine gravierende Konsequenz hat diese Entscheidung dennoch: Faktisch mussten alle PTI-Kandidaten als Unabhängige antreten und können im neugewählten Parlament keine Fraktion bilden. Auch von der proportionalen Verteilung der 70 reservierten Sitze für Frauen und religiöse Minderheiten sind unabhängige Abgeordnete ausgeschlossen.
Khan gelang es, aus dem Gefängnis heraus den Wahlkampf zu dominieren. Seine Partei führte einen kreativen Guerilla-Wahlkampf mit virtuellen Wahlkampfveranstaltungen, Chat Bots, lokalen WhatsApp-Gruppen und KI-generierten Reden Imran Khans. Damit hob sich die PTI deutlich von der altbackenen Konkurrenz und ihrer betulichen politischen Kommunikation ab. Insbesondere Nawaz Sharif wirkte im Wahlkampf gelangweilt und lustlos. Der PTI gelang es hingegen, ihre als Unabhängige antretenden und oft wenig bekannten Kandidaten einem breiten Publikum zu vermitteln. Eine Organisations- und Kommunikationsleistung, die nur wenige der eigentlich ganz auf Imran Khan zugeschnittenen Partei zugetraut hatten. Noch wichtiger war aber eine elektrisierende Wahlkampf-Botschaft. Die von Khan offen gestellte Machtfrage gegenüber dem Establishment sprach vor allem die vielen jungen und von den politischen Verhältnissen frustrierten Wähler an. Rund 45 Prozent der pakistanischen Wähler sind jünger als 35 Jahre. Sie haben trotz oftmals guter Ausbildung auf einem hart umkämpften Arbeitsmarkt wenig Chancen und leiden besonders unter den stark gestiegenen Lebenshaltungskosten.
Khan ist mit den gewaltsamen Protesten nach seiner Absetzung zu weit gegangen und hat sich – wenigstens für den Moment – schlicht verzockt.
Dabei ist es für PTI-Wähler offenbar zweitrangig, dass Khans Kritik an den herrschenden Machtverhältnissen vor allem taktischer Natur ist. Denn Khan selbst ist 2018 mit freundlicher Unterstützung des Establishments an die Macht gekommen und als Premierminister ist er mit seinen politischen Gegnern ebenfalls nicht zimperlich umgegangen. Zudem hat Khan auch nach seiner Absetzung immer wieder zu erkennen gegeben, dass er zu einem Deal mit dem Establishment bereit ist, wenn er dadurch zurück an die Macht kommt. Doch nach den Unruhen vom 9. Mai 2023 wäre ein solcher Deal nur mit einem schwer vorstellbaren Autoritätsverlust des Establishment zu haben. Khan ist mit den gewaltsamen Protesten nach seiner Absetzung zu weit gegangen und hat sich – wenigstens für den Moment – schlicht verzockt.
Als Favorit des Establishments galt vor den Wahlen daher der dreimalige Premierminister Nawaz Sharif (PML-N). Sharifs letzte Amtszeit endete ebenfalls unfreiwillig. 2017 musste er im Zuge der Enthüllungen um die Panama Papers zurücktreten und hat sich seitdem im Londoner Exil einer Strafverfolgung in Pakistan entzogen. Eine Rolle dürfte bei Sharifs Rücktritt gespielt haben, dass er für eine behutsame Öffnung gegenüber dem Erzrivalen Indien eintrat und damit indirekt die herausgehobene Rolle des Militärs in Frage stellte. Nach den Erfahrungen mit Imran Khan scheint Sharif entscheidenden Personen im Hintergrund nun als das kleinere Übel zu gelten. Die gegen Sharif laufenden Gerichts- und Ermittlungsverfahren wurden nach seiner Rückkehr so überraschend wie kurzfristig eingestellt oder auf unbestimmte Zeit ausgesetzt.
Für viele Wählerinnen und Wähler steht Sharif allerdings wie kein Zweiter für die alte pakistanische Politik.
Für viele Wählerinnen und Wähler steht Sharif allerdings wie kein Zweiter für die alte pakistanische Politik, in der einflussreiche Familienclans mit der Unterstützung des Sicherheits-Establishments die Politik zum eigenen wirtschaftlichen Vorteil bestimmen. PML-N und PPP definieren sich kaum über Inhalte, sondern stehen für konkurrierende Netzwerke wirtschaftlich einflussreicher Eliten, die um die Gunst des Establishments buhlen. Viele Wähler haben diese als korrupt wahrgenommene Politik satt. Sie sehen darin einen Hauptverantwortlichen für die tiefgreifende Wirtschaftskrise des Landes. Große Armut und hohe Arbeitslosigkeit haben zu weit verbreiteter Frustration und Verzweiflung in Pakistans junger und rasch wachsender Bevölkerung geführt. Und so kann es kaum verwundern, dass Sharifs Rückkehr nur wenig Enthusiasmus hervorgerufen hat.
Wie schon bei früheren Wahlen wurden der Wahltag und die Zeit danach von viel politischem Drama begleitet. Obwohl das Wahlgesetz offizielle Zwischenergebnisse bis spätestens zwei Uhr nachts vorsah, hüllte sich die Staatliche Wahlkommission noch für viele Stunden in Schweigen. Die inoffiziellen Zwischenstände mehrerer großer Medienhäuser deuteten am Wahlabend hingegen auf einen spektakulären Überraschungserfolg von Imran Khans PTI hin. Trotz aller Widrigkeiten lagen die als Unabhängige angetretenen PTI-Kandidaten zwischenzeitlich in bis zu 150 der 266 Wahlkreise vorne. Die favorisierte PML-N blieb hingegen weit hinter den Erwartungen zurück und selbst Spitzenkandidat Nawaz Sharif musste in seinem als sicher geltenden Wahlkreis in Lahore um den Einzug in das Parlament fürchten.
Erst am nächsten Tage veröffentlichte die Wahlkommission nach und nach einzelne offizielle Wahlkreisergebnisse. Zum Teil wichen diese deutlich von den in der Nacht verbreiteten Zwischenständen ab und sicherten insbesondere der PML-N einige bereits verloren geglaubte Mandate und damit ihren Status als zwar schwache, aber doch stärkste Fraktion. In Verbindung mit der so spärlichen wie widersprüchlichen Kommunikation staatlicher Stellen zum Wahlausgang und der in Sozialen Medien hochkochenden Gerüchteküche nährte dies vor allem bei PTI-Anhängern den Verdacht, dass es, wie schon bei früheren Wahlen, bei der Stimmauszählung nicht mit rechten Dingen zugegangen sei.
Imran Khan wird auch nach der Wahl die pakistanische Politik dominieren.
Bis das offizielle Endergebnis feststeht, wird noch einige Zeit vergehen. Denn die PTI hat bereits angekündigt, in zahlreichen Wahlkreisen zu klagen. Solche Prozesse können sich über Monate und Jahre hinziehen. Dennoch können einige Trends festgehalten werden: Keine Partei wird über eine absolute Mehrheit verfügen, eine Koalitionsregierung wird erforderlich sein. Die PTI als vergleichsweise neue Partei im traditionell von PML-N und PPP dominierten pakistanischen Parteiensystem ist gekommen, um zu bleiben. Imran Khan wird auch nach der Wahl die pakistanische Politik dominieren, unabhängig davon, ob er hinter Gittern oder auf freiem Fuß ist. Er wird das Sprachrohr aller Unzufriedenen und Frustrierten bleiben.
Doch es wird für Imran Khan schwer werden, die „unabhängigen“ PTI-Abgeordneten zu kontrollieren. Bereits jetzt wird über zahlreiche moralische und unmoralische Angebote berichtet, die diese erhalten, um sich anderen Parteien anzuschließen. Imran Khan könnte also trotz seines Überraschungserfolgs am Ende als König ohne Land dastehen. Die daraus folgende Verbitterung seiner Wähler und Anhänger dürfte die Polarisierung in der pakistanischen Gesellschaft weiter vertiefen. Für den vor der Wahl stark favorisierten Nawaz Sharif und seine PML-N ist der Wahlausgang hingegen eine Enttäuschung, auch wenn sich Nawaz Sharif oder sein Bruder Shehbaz Sharif am Ende noch in das Premierministeramt retten können. Die sozialdemokratische PPP landet auf einem soliden dritten Platz und findet sich in der Rolle als potenzieller Königsmachers wieder. Religiöse Parteien sind auch weiterhin nur schwach im Parlament vertreten.
Für Pakistans Zukunft verheißen Wahlverlauf und Wahlausgang wenig Gutes. Was das von multiplen Krisen geschüttelte Land bräuchte, wäre eine handlungsfähige zivile Regierung, die über ein starkes demokratisches Mandat für tiefgreifende Strukturreformen in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik verfügt. Was das Land stattdessen bekommen wird, ist, unabhängig von den beteiligten Parteien und Personen, eine schwache Koalitionsregierung, die in den Augen eines erheblichen Teils der Wählerschaft mit dem Makel belastet ist, „selected“ und nicht „elected“ zu sein.
Eine aus undurchsichtigen Hinterzimmerdeals hervorgehende Regierung wird dem Land wohl kaum die dringend benötigte innenpolitische Stabilität geben können.
Nach derzeitigem Stand am wahrscheinlichsten ist eine Neuauflage der ungeliebten 13-Parteien-Koalition unter Führung von PML-N und PPP, die im April 2022 Imran Khan gestürzt hatte. In den Tagen nach der Wahl rief der mächtige Armeechef zu einer Regierung der nationalen Einheit auf und gab damit einen deutlichen Fingerzeig für die Regierungsbildung. Diskutiert werden nun allerlei realistische und unrealistische Varianten, die in einem umfassenden Deal die Regierungsbildung in den Provinzen und das demnächst vom Parlament und den Provinzen neu zu wählende Präsidentenamt einschließen. Auch ein Wechsel im Premierministeramt von PML-N zu PPP oder umgekehrt zur Mitte der Legislaturperiode ist eine Variante. Eine Regierungsbeteiligung der PTI oder gar ein PTI-Premierminister sind hingegen äußerst unwahrscheinlich. Daran haben weder das politische noch das Sicherheits-Establishment ein Interesse. Allerdings wird eine aus undurchsichtigen Hinterzimmerdeals hervorgehende Regierung dem Land wohl kaum die dringend benötigte innenpolitische Stabilität geben können und in der Lage sein, die extreme innenpolitische Polarisierung zu befrieden. Wie Pakistan aus seinen zum Teil selbstverschuldeten Krisen herausfinden will, ist nach der Wahl mindestens so unklar wie vorher.
Immerhin einen Lichtblick hatten diese ansonsten wenig erfreulichen Wahlen. Obwohl im Vorfeld der Eindruck bestand, alles sei bereits entschieden und der Wahlakt nur noch eine lästige Formalie, auf die man bequem verzichten könnte, sind die Menschen (darunter viele Frauen und junge Menschen) in großer Zahl zur Wahl gegangen. Sie haben durch die Beteiligung an der Wahl, aber auch durch ihre Wahlentscheidung deutlich zum Ausdruck gebracht, dass sie ein anderes politisches System wünschen, in dem echte politische Mitbestimmung und wirkungsvolle demokratische Teilhabe für alle möglich sind.