Es waren Szenen wie aus einem Action-Film. Am Nachmittag des 9. Mai 2023 stürmten schwer bewaffnete paramilitärische Einheiten des pakistanischen Innenministeriums ein Gebäude des Obersten Gerichtshofs von Islamabad. Ihr Ziel war die Verhaftung von Ex-Premierminister Imran Khan. Dieser wurde ruppig und unter Protest seiner Anwälte zu einem gepanzerten Fahrzeug geführt und an einen unbekannten Ort gebracht. Damit erreichte die politische Dauerkrise Pakistans einen neuen Höhepunkt.

Khan wird von der Antikorruptionsbehörde vorgeworfen, sich als Regierungschef für einen pakistanischen Geschäftsmann eingesetzt und dafür eine Gegenleistung erhalten zu haben. Doch Beobachter vermuten, dass es eigentlich um mehr geht. Denn noch auf dem Weg zum Gericht, wo Khan sich in einem der mehr als 130 gegen ihn laufenden Verfahren verantworten musste, sendete er seinen Anhängern eine emotionale Videobotschaft. Darin beschuldigte er namentlich einen hohen Offizier der Sicherheitsorgane, das im November 2022 auf ihn verübte Attentat geplant zu haben. Nach Khans Verhaftung richtete sich der Zorn der Anhänger von Khans Partei PTI somit vor allem gegen das Militär: In Rawalpindi stürmten PTI-Anhänger einen Eingangsbereich des Armee-Hauptquartiers, in Lahore plünderten Demonstranten die Residenz des lokalen Kommandanten und steckten sie danach in Brand. Auch aus anderen Städten wurden gewaltsame Zusammenstöße zwischen PTI-Anhängern und Sicherheitskräften berichtet.

Offene und noch dazu gewaltsame Proteste gegen die Armee sind in Pakistan eigentlich ein Tabu und von großer symbolischer Bedeutung. Die unruhige Nachbarschaft, mit dem Erzrivalen Indien im Süden und dem chronisch instabilen Afghanistan im Norden, haben zu einer jahrzehntelangen Dominanz von Sicherheitsbedürfnissen und Sicherheitsnarrativen in der pakistanischen Politik und Gesellschaft geführt. Zivile Regierungen sind folglich nur eines von mehreren Machtzentren und wurden in der pakistanischen Geschichte immer wieder durch das Militär gestürzt – zuletzt 1999, von da an regierte bis 2008 General Musharraf. Dabei konnte die Armee lange Zeit von einem hohen Ansehen in der Bevölkerung profitieren. Im Vergleich mit der dynastischen und von Korruption geprägten Politik galt das Militär als professioneller Garant politischer Stabilität. Umso bemerkenswerter ist der Kollisionskurs, auf dem sich Imran Khan und seine Anhänger mit dem Sicherheits-Establishment nun befinden.

Offene und noch dazu gewaltsame Proteste gegen die Armee sind in Pakistan eigentlich ein Tabu.

Die Vorgeschichte beginnt mit Imran Khans spektakulärem Wahlsieg von 2018. Dem Kapitän der pakistanischen Cricket-Weltmeistermannschaft von 1992 gelang es als Außenseiter, die jahrzehntelange Dominanz der etablierten Parteien PML-N und PPP zu brechen. Geraunt wurde seinerzeit, dass Khan dies mit der mindestens stillschweigenden Unterstützung des Sicherheitsapparats gelungen sei. Doch die mit großen Hoffnungen auf einen grundlegenden Wandel von Politik, Gesellschaft und Wirtschaft gestartete Regierung enttäuschte schon bald viele ihrer Wähler. Keine der angekündigten Reformen wurde umgesetzt und Khans Politik wandelte auf den ausgetretenen Pfaden seiner Vorgänger. Als die angeschlagene pakistanische Wirtschaft durch die Corona-Pandemie und die Auswirkungen des Krieges gegen die Ukraine vollends in Schieflage geriet, wich die anfängliche Aufbruchseuphorie einer weit verbreiteten Abstiegsangst. Und so galt der Populist Khan eigentlich als entzaubert, als er im April 2022 durch ein Misstrauensvotum gestürzt wurde.

Doch ihm gelang innerhalb kürzester Zeit ein auch für die Verhältnisse der kurzlebigen pakistanischen Politik spektakuläres Comeback. Zum einen inszenierte sich Khan erfolgreich als Opfer einer Verschwörung seiner politischen Gegner mit einflussreichen Teilen des Sicherheitsapparats. Diese beschuldigte er nicht nur, eine Mehrheit für das Misstrauensvotum organisiert, sondern auch erfolgreiches Regierungshandeln verhindert zu haben. Khan präsentierte sich nun trotz seiner vormals vermuteten Nähe zum Sicherheitsapparat als Vorkämpfer für eine zivile Regierung. Zum anderen gelang es Khan, die eigene Verantwortung für den Niedergang der pakistanischen Wirtschaft zu verwischen und die durch die verheerende Flutkatastrophe 2022 noch einmal deutlich verschlechterte Wirtschaftslage ausschließlich der Nachfolgeregierung anzulasten.

Khans Sichtweise fällt bei vielen von den Eliten zutiefst enttäuschten Pakistanern auf fruchtbaren Boden.

Der Regierung von Premierminister Shehbaz Sharif und Außenminister Bilawal Bhutto ist es nicht gelungen, eine wirksame Gegenerzählung zu finden. Stattdessen wirkt es, als habe die Regierung nichts zu entscheiden und als schaue sie dem dramatischen Verfall der Landeswährung, dem bedrohlichen Schrumpfen der Währungsreserven auf nur noch rund 4,5 Milliarden US-Dollar und der explodierenden Inflation auf über 35 Prozent tatenlos zu. Und just am Tag der Verhaftung Imran Khans meldete die Rating-Agentur Moody’s, dass ein pakistanischer Staatsbankrott bereits im Juni möglich sei, weil es der Regierung seit Oktober 2022 nicht gelingt, sich mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) über die Auszahlung der letzten Tranchen eines sieben Milliarden US-Dollar schweren Rettungspakets zu einigen. Ohne das IWF-Programm wird Pakistan seine drückenden Auslandsschulden nicht bedienen können. Und schon jetzt sind durch den Devisenmangel in der von Importen abhängigen pakistanischen Wirtschaft viele Arbeitsplätze verloren gegangen. Pakistan hängt wirtschaftlich am Tropf seiner Unterstützer in China und am Golf, die jedoch zunehmend ungeduldig werden.

In dieser düsteren Lage sieht sich Imran Khan mit der Kraft der Autosuggestion als Heilsbringer und weiß sich darin mit vielen von Armut und Arbeitslosigkeit betroffenen Pakistanern einig. Und so verwundert es kaum, dass Khan derzeit der mit Abstand beliebteste Politiker Pakistans ist und die Chancen seiner PTI bei den für Herbst 2023 geplanten Parlamentswahlen kaum besser sein könnten. Doch der 71-Jährige weiß, dass aus verheißungsvollen Zukunftsperspektiven nicht unbedingt reale Machtgewinne folgen müssen. Die anstehenden Wahlen könnten angesichts der multiplen Krisen verschoben werden. Daher drängt Khan mit einer Strategie des maximalen Drucks auf vorgezogene Neuwahlen. Mit täglichen Videobotschaften mobilisiert er seine Anhänger, bei regelmäßigen Versammlungen und Märschen demonstriert er die Stärke seiner Partei und mit riskanten politischen Manövern – wie der von der PTI-Mehrheit erzwungenen Auflösung der einflussreichen Provinzparlamente in Punjab und Khyber Pakhtunkhwa – will er den Handlungsspielraum der Zentralregierung einschränken.

Doch bislang hat Khans Kampagne ihr Ziel nicht erreicht und stattdessen die Reihen seiner Gegner geschlossen. Auf den drohenden Verlust des politischen Momentums reagierte Khan in den letzten Monaten mit einer kontinuierlichen rhetorischen Eskalation. Immer offener kritisierte er die Regierung und vor allem den Sicherheitsapparat. Diese Strategie elektrisierte viele PTI-Anhänger und sicherte ihm eine Dauerpräsenz in den Medien. Der Preis hierfür ist eine extreme Polarisierung der politischen Debatte, die mittlerweile bis in die oberste Gerichtsbarkeit hineinreicht und bei der sich die politischen Lager in unversöhnlicher Feindschaft gegenüberstehen. Zu einer gemeinsamen Lösung der gigantischen Probleme des Landes scheinen die politischen Lager weder gewillt noch in der Lage zu sein.

Mit Khans Verhaftung werden die Karten in Pakistans politischer Dauerkrise nun neu gemischt.

Mit Khans Verhaftung werden die Karten in Pakistans politischer Dauerkrise nun neu gemischt. Die Entwicklungen der letzten Tage deuten darauf hin, dass er den Bogen endgültig überspannt hat. Der weitere Verlauf ist völlig offen. Wie immer werden im schwer einsehbaren Hintergrund Allianzen geschmiedet, Intrigen gesponnen und Verbündete verraten. Denkbare Szenarien reichen von einer Freilassung Khans in wenigen Tagen, da das Verfahren der Antikorruptionsbehörde noch läuft, bis zu einer Verurteilung zu einer langjährigen Haftstrafe. Dieses Schicksal hat einige seiner Amtsvorgänger ereilt. Die Proteste von Khans Anhängern könnten andauern und eskalieren, was ein Verbot der PTI nach sich ziehen könnte. Sollten sie friedlich bleiben, könnten die Proteste die Grundlage für einen Wahlsieg der PTI bei den nächsten Parlamentswahlen legen. Doch sollte Khan für längere Zeit von der politischen Bühne verschwinden, dürfte es für die ganz auf ihn zugeschnittene und kaum organisierte Partei schwer werden, dauerhaft eine politisch einflussreiche Kraft zu bleiben.

Es ist wie immer in Pakistans chaotischer und undurchsichtiger Politik: Sicher ist, dass nichts sicher ist. Das sorgt wieder einmal für gewiss eindrucksvollen politischen Theaterdonner, trägt aber nichts zur Lösung der tiefgreifenden strukturellen Probleme eines Landes bei, das sich in vielerlei Hinsicht gefährlich nah am Abgrund bewegt.