Die Bilder aus Taiwan erinnern an die Sonnenblumen-Proteste von vor zehn Jahren. Damals hielten Hunderte Demonstranten 24 Tage lang das Parlamentsgebäude besetzt, Hunderttausende gingen auf die Straße. Ihr Protest richtete sich gegen die regierende Kuomintang (KMT), die unter dem Präsidenten Ma Ying-jeou ein Dienstleistungsabkommen mit der Volksrepublik vereinbaren und Investoren vom chinesischen Festland zulassen wollte. Die Demonstranten fürchteten einen Ausverkauf Taiwans mit seinen gerade einmal 24 Millionen Einwohnern an China mit 1,4 Milliarden Menschen, die mit ihrem Geld die Insel geradezu überrannt hätten. Die KMT musste die Ratifizierung auf unbestimmte Zeit vertagen. Zwei Jahre später war sie abgewählt. Die Demokratische Fortschrittspartei (DPP), die hinter den Forderungen der Demonstranten stand, übernahm die Regierung.

In den letzten Maiwochen dieses Jahres lieferten sich Abgeordnete im Parlamentsgebäude wüste Rangeleien, fünf von ihnen mussten gar ins Krankenhaus. Die Parlamentarier stritten sich so heftig, als ginge es um das Überleben der Insel. Vor dem Parlamentsgebäude protestierten Zehntausende gegen die KMT. Auch auf der Straße befürchten nicht wenige der Protestierenden das Ende von Taiwans Demokratie: „Die Demokratie ist tot“, steht auf ihren Stirnbändern. Wie konnte es so weit kommen?

Die China-kritische DPP hatte im Januar bei den Wahlen zwar das dritte Mal in Folge die Präsidentschaftswahl gewonnen und stellt mit Lai Ching-Te (William Lai) seit Anfang Mai das Staatsoberhaupt. Bei den Parlamentswahlen, die zu Beginn des Jahres zeitgleich stattgefunden haben, gewannen aber die beiden sich nahestehenden Oppositionsparteien KMT und die populistische Taiwanische Volkspartei (TPP) – und bilden seitdem eine Mehrheit im Legislativ-Yuan, wie das Parlament in Taiwan offiziell heißt. Beide Parteien stehen für eine sehr viel China-freundlichere Politik als die DPP. Und gemeinsam haben sie geradezu in Rekordgeschwindigkeit eine Parlamentsreform durchgepeitscht, die die Macht des Parlaments ausweitet und die Befugnisse des Präsidenten und der Regierung deutlich beschneidet.

So räumt das neue Gesetz der Legislative investigative Rechte ein, die bisher bei der Justiz und beim Kontroll-Yuan angesiedelt waren, einer Besonderheit des politischen Systems in Taiwan, die die Regierungsgeschäfte kontrolliert. Unter dem neuen Gesetz ist nicht nur der Präsident sehr viel stärker als bisher verpflichtet, dem Parlament Rede und Antwort zu stehen. Auch jeder einzelne Minister ist gegenüber dem Parlament rechenschaftspflichtig – und zwar in einer Weise, die das Regieren unmöglich machen könnte. Denn auch gegenüber jedem einzelnen Bürger müssen sie sich rechtfertigen, sofern ein Parlamentarier ihn oder sie einbestellt hat. Die regierende DPP befürchtet langwierige Befragungen, die den gesamten Regierungsapparat lahmlegen könnten.

In Taiwan ist die Reform aber zu einem geradezu existenziellen Streit ausgeufert.

Eine solche einschneidende Parlamentsreform würde auch in anderen demokratischen Ländern für hitzige Debatten sorgen. In Taiwan ist die Reform aber zu einem geradezu existenziellen Streit ausgeufert. Die gewalttätigen Auseinandersetzungen unter den Parlamentariern und die Zehntausenden wütenden Demonstranten, die die regierende DPP spontan auf die Straße bringen konnte, zeugen von der aufgeladenen Stimmung auf der Insel, die auf Druck der Volksrepublik zwar von kaum einem Land mehr als eigenständiger Staat anerkannt, de facto aber unabhängig regiert wird und seit Aufhebung des Kriegsrechts 1988 auch eine Demokratie ist – und zwar eine äußerst lebhafte.

Rangeleien bis hin zu handfesten Faustkämpfen im Parlament sind in Taiwan keine Seltenheit. Sie werden im Volksmund auch als „Heidelberger Praxis“ bezeichnet, weil einer der ersten Parlamentarier, der in einem Wutrausch einen anderen Abgeordneten mit einer Teetasse beworfen und eine Prügelei ausgelöst hatte, in Heidelberg studiert hatte. Und die Tumulte sind durchaus inszeniert: Im Streit über den Import von US-Schweinefleisch im November 2020 etwa brachten KMT-Abgeordnete Schweine-Innereien mit und bewarfen damit den damaligen DPP-Regierungschef. Auch eine Wasserballonschlacht hat es schon gegeben.

Doch zuletzt haben die Konflikte deutlich an Schärfe gewonnen. Und auch wenn die fast wöchentlichen Militärmanöver, die China inzwischen vor den Küsten Taiwans abhält und mit denen es eine gewaltige Drohkulisse aufbaut, die meisten Taiwaner zumindest nicht sichtbar einzuschüchtern scheinen, dürften die heftigen Auseinandersetzungen um die Parlamentsreform und auch die großen Proteste auf der Straße sehr wohl mit der ständigen Bedrohung Taiwans durch China im Zusammenhang stehen. Und für diesen Konflikt steht insbesondere die KMT.

Wie keine andere Partei in Taiwan steht die Kuomintang heute für die Annäherung an die Volksrepublik.

Wie keine andere Partei in Taiwan steht die Kuomintang heute für die Annäherung an die Volksrepublik – DPP-Anhänger würden diese Annäherung als „Ausverkauf“ bezeichnen. Das war keineswegs immer so. Im Gegenteil: Die KMT waren die Erzfeinde der Kommunisten. Nach dem verlorenen Bürgerkrieg gegen Mao flüchtete der damalige Präsident der Republik China und KMT-Chef General Chiang Kai-shek mit fast zwei Millionen seiner KMT-Anhänger nach Taiwan. Von dort aus wollte Chiang das chinesische Festland wieder zurückerobern. An diesem Plan hielt er bis zu seinem Tod im Jahre 1975 fest. 

Nach der Niederlage war Taiwan das Einzige, was Chiang und seiner KMT von China blieb. Entsprechend hart verteidigte er seine Herrschaft. Mit der taiwanischen Bevölkerung, die damals etwa fünf Millionen Menschen ausmachte, ging er keineswegs zimperlich um. Chiang besetzte fast sämtliche Regierungsposten mit den ihm gefolgten KMT-Anhängern vom Festland. Sie bildeten in den nächsten Jahren rasch die wirtschaftliche Elite. Und Chiang regierte die Insel mit eiserner Hand. Er verhängte das Kriegsrecht über Taiwan und setzte die Wahlen unbefristet aus mit der Begründung: Solange nicht in ganz China gewählt werde, sei die KMT die einzig legitime Regierung. Kritiker ließ er brutal verfolgen. In den Jahrzehnten seiner Amtszeit wurden Zehntausende inhaftiert, zum Teil auch exekutiert. Taiwaner bezeichnen diese Zeit als die Jahre des Weißen Terrors. Entsprechend verhasst waren die KMT und ihre Anhänger bei den Alteingesessenen, die die KMT als Besatzer empfanden. 

Chiangs Sohn und Nachfolger im Präsidentenamt Chiang Ching-kuo setzte die Politik seines Vaters fort. Erst im letzten Jahr vor seinem Tod, 1987, hob Chiang Ching-Kuo das Kriegsrecht auf – und ebnete damit Taiwans Weg zur Demokratie. Die ersten freien Präsidentschaftswahlen fanden 1996 statt.

Ein Großteil der Verfolgten des Chiang-Regimes sammelte sich in der Demokratischen Fortschrittspartei (DPP). Im Jahr 2000 stellte die DPP erstmals einen Präsidenten und die Aufarbeitung des Weißen Terrors und eine Erinnerungskultur wurden fortan wichtiger Bestandteil der taiwanischen Innenpolitik. Die Kuomintang hingegen tat sich auch weiter schwer, die Verbrechen insbesondere unter Chiang Kai-shek anzuerkennen und den Opfern und ihren Angehörigen Tribut zu zollen.

Taiwan profitierte massiv vom wirtschaftlichen Aufstieg des chinesischen Festlands.

Offiziell noch immer verfeindet, hat sich die Volksrepublik in den 1990er Jahren gegenüber der taiwanischen Wirtschaft geöffnet. Taiwaner gehörten rasch zu den größten und wichtigsten Investoren. Entsprechend profitierte Taiwan massiv vom wirtschaftlichen Aufstieg des chinesischen Festlands. Auch Taiwan boomte. Und es waren insbesondere Anhänger der KMT, die besonders intensive Geschäftsbeziehungen in China pflegten. Viele von ihnen stammten selbst vom Festland und hatten noch Verwandte dort.

Während die KMT-Anhänger sich in der Mehrheit bis heute an Chiang Kai-sheks Doktrin halten und Taiwan als Teil Chinas betrachten – wenn auch nicht unter kommunistischer Herrschaft –, besinnt sich eine große Mehrheit der DPP umso intensiver auf ihre Identität als Taiwaner. Und es sind insbesondere die jungen Menschen in Taiwan, die – nicht zuletzt angesichts der sich wieder verhärtenden politischen Bedingungen in China unter Xi Jinping – mit dem chinesischen Festland nichts zu tun haben wollen und auch formal für eine Unabhängigkeit Taiwans eintreten. Entsprechend hat sich vor allem die junge Generation von der KMT entfremdet. Umfragen zufolge bezeichnen sich 66 Prozent als Taiwaner gegenüber 28 Prozent, die sich auch der chinesischen Kultur zugehörig fühlen, wie das die KMT stets betont. Die KMT verliert vor allem unter der jungen Wählerschaft an Zustimmung – während die Stammwählerschaft ausstirbt. Umso aggressiver gehen KMT-Politiker gegen die nun regierende DPP vor.

Beim jüngsten Streit um die Parlamentsreform geht es so auch um sehr viel mehr als lediglich um mehr Mitbestimmung der Oppositionsparteien im Parlament – was im Prinzip eine Stärkung der Demokratie bedeuten würde. Es geht um die aus Sicht vieler Taiwaner ungenügende Aufarbeitung der KMT-Verbrechen, um Fragen der taiwanischen Identität – und um den Umgang mit der Volksrepublik. 

Anhänger der DPP wittern eine Verschwörung. Die kommunistische Führung auf dem Festland versuche über die Einbindung von KMT-Politikern, Taiwans Gesellschaft zu destabilisieren, wird unter DPP-Anhängern oft kolportiert. Zu diesem Misstrauen trägt nicht zuletzt der ehemalige Präsident Ma Ying-jeou von der KMT bei, der innerhalb eines Jahres schon zwei Mal die Volksrepublik bereiste – offiziell um Verwandte zu besuchen. Zugleich nahm er aber dubiose Termine mit kommunistischen Spitzenkadern wahr. Seine Botschaft: Unter einer KMT-Regierung würde das Verhältnis zu Peking wieder deutlich besser werden. Auch eine Wiederbelebung des Handelsabkommens, gegen das sich die Sonnenblumen-Bewegung 2014 wandte, bringt Ma regelmäßig ins Spiel. „Diese Bemühungen werden als Versuch wahrgenommen, Taiwan durch die Hintertür in ein von China dominiertes Wirtschaftssystem zu integrieren“, sagt der Soziologieprofessor Ho Ming-Sho von der National Taiwan University im China.Table. Entsprechend emotional werden auch andere, harmlose Themen erbittert ausgefochten. Beide Seiten blockieren sich selbst in kommunalen Sachfragen oft gegenseitig – aus Prinzip.

Sosehr Taiwans junge Demokratie als ein leuchtendes Beispiel dafür gefeiert wird, dass Demokratie im chinesischen Kulturraum sehr wohl möglich ist – die Polarisierung innerhalb der Gesellschaft droht zum existenziellen Problem für Taiwan zu werden, das die Handlungsfähigkeit der Insel inmitten eines immer heftigeren Großmachtkonflikts zwischen China und den USA lähmt. Sehr zur Freude von Peking.