Thailands stark polarisierte Gesellschaft steht derzeit vor der Entscheidung, welchen Weg sie gehen will: in die Vergangenheit oder in die Zukunft. Die aktuellen Proteste, die vorwiegend von Studierenden organisiert werden, zeigen die tiefen Verwerfungen zwischen der älteren und der jüngeren Generation. Entwickelt haben sie sich aus jahrzehntelangen Auseinandersetzungen zwischen dem Establishment und seinen Herausforderern. Zum Establishment gehören der Palast, militärische Eliten, konservative Bürokraten und gleichgesinnte Unternehmenschefs. Sie behaupten ihre ideologische Vormachtstellung, ihre politische Macht und ihren Wohlstand gegen die Kräfte des Wandels. 

Doch zunehmend bekommt es das Establishment in den letzten Jahren mit einer Gegenbewegung zu tun, die gegen Unterdrückung und Vereinnahmung immun scheint. Mehrere Konfrontationen, in denen sich die Vertreter beider Seiten nichts schenkten, vertieften die Spaltung des Landes und ermöglichten gleichzeitig den Wiederaufstieg des Autoritarismus. Das jüngste Kapitel dieses Teufelskreises begann, als 2014 Demonstrationen zugunsten des Establishments einem Militärputsch den Weg bereiteten. 

Zwischen 2014 und 2019 ersetzte die Militärherrschaft die Überbleibsel der Demokratisierung aus den 1990er Jahren mit autoritären Institutionen und hyper-royalem Nationalismus. Die Unterdrückung von Dissidenten griff um sich. Doch Widerstand und Aktivismus gegen das Establishment hielten sich, ja, sie nahmen im öffentlichen und privaten Raum noch zu. Die etablierten Eliten unterschätzten, wie stark der demokratische Diskurs an Boden gewann.  

Die etablierten Eliten unterschätzten, wie stark der demokratische Diskurs an Boden gewann. 

Der Aufstieg der Partei Neue Zukunft (Future Forward Party, FFP) versinnbildlicht diesen neuen Diskurs. Bereits wenige Monate nach ihrer Gründung bündelte die FFP die Hoffnung vieler junger Menschen auf eine progressive Politik und gewann in der Wahl vom März 2019 6,3 Millionen der rund 53 Millionen Stimmen. In den sozialen Netzwerken vertreten junge Leute Ideen, die mit dem FFP-Programm übereinstimmen, unter anderem eine Verfassungsreform, die Bildung eines Sozialstaats, demokratische Diversität und Gleichheit. Zwar erlangte die vom Militär gestützte Phalang-Pracharat-Partei (PPP) über eine Manipulation der Verfassung die Mehrheit der Stimmen und führt seither die Regierungskoalition. Dennoch fühlen sich das Establishment und seine Anhänger zunehmend bedroht von der Kraft der jungen Bevölkerung, die von der FFP entfesselt wurde. 

Vor diesem Hintergrund sind die aktuellen Proteste eine Reaktion der Jugend auf diverse Fälle von Unrecht, Menschenrechtsverletzungen, Machtmissbrauch und verantwortungslosem Regieren. So hatte das Verfassungsgericht, ein wichtiger Partner des Establishments, im Februar die FFP aufgelöst, was erste Studentenproteste in mehr als 50 Universitäten und Schulen nach sich zog.  

Mit Beginn der Covid-19-Pandemie und im Zuge des anschließenden Lockdowns blieb den herrschenden Eliten großflächiger Widerstand aus dem Volk vorübergehend erspart. Doch das wirtschaftliche Missmanagement, verbunden mit dem Verlust von Millionen von Arbeitsplätzen und dem Bankrott von Unternehmen sowie einer Kultur der Straflosigkeit, die erst kürzlich in der Entführung eines exilierten Aktivisten sichtbar wurde, brachte für die Studenten das Fass zum Überlaufen und trieb sie Mitte Juli 2020 auf die Straßen. Sie fordern, dass Regierung und Behörden Bürgerinnen und Bürger nicht weiter schikanieren, die Verfassung demokratisch reformieren und das derzeitige Parlament auflösen, um den Weg zu Neuwahlen zu ebnen. Passend zu diesen drei Forderungen haben die Demonstranten den Drei-Finger-Gruß aus dem Hollywood-Blockbuster Die Tribute von Panem als Zeichen gegen die Diktatur übernommen. 

Die Mobilisierung der Jugend zeichnet sich durch drei zentrale Elemente aus. Erstens sind die Proteste von ihrer Organisation her „vernetzt“ und entstehen aus einer losen Koordination diverser Studentengruppen an unterschiedlichen Universitäten. Aus solchen Kooperationen ging jüngst die breite studentische Bewegung „Free Youth“ hervor, die Dutzende studentischer Gruppierungen repräsentiert.  

Die Proteste setzen sich durch originelle Sprüche und Elemente der urbanen Popkultur von früheren Demonstrationen für oder gegen das Establishment ab.

Anfang August 2020 entstand die Bewegung „Free People“, der neben Free Youth auch eine breite Palette verbündeter nichtstaatlicher Organisationen angehört, darunter Arbeiter- und LGBTQI-Bewegungen. Die Mitglieder von Free People verfolgen zwar dieselben drei Ziele und beteiligen sich an der Organisation größerer Protestveranstaltungen, bleiben jedoch autonom, führen eigene Demonstrationen durch und kümmern sich um bestimmte Missstände. So protestierten Schülerinnen und Schüler kürzlich gegen die autoritären Schulvorschriften für Frisuren und Uniformen sowie die konservativen Inhalte schulischer Texte. Solche vernetzten Proteste ermöglichen eine dezentrale Führung und lassen Raum für taktische Kreativität.  

Zum zweiten stützt sich die Mobilisierung der Jugend auf soziale Medien. Besonders mittels neuer Twitter-Hashtags werden Protestveranstaltungen publik gemacht (z. B. #deadlineForDictatorship für die bislang größte Demonstration am 17. August 2020) und Ideen für „hippe“ und „coole“ Aktionen gesammelt (z. B. #ideasForMob). In letzter Zeit lieferte Twitter die Plattform dafür, viele Menschen vor einer Polizeistation oder einem Gericht zu versammeln, wenn Aktivisten willkürlich festgenommen worden waren (z. B. #savePenguin, wobei Penguin der Spitzname eines führenden Aktivisten ist). Einige Hashtags lenkten auch die internationale Aufmerksamkeit auf die Proteste (z. B. #WhatIsHappeningInThailand). Die meisten viralen Hashtags kommen auf mehr als 30 000 Retweets und entwickeln sich zum „Trend“ des Tages. 

Drittens setzen sich die Proteste durch originelle Sprüche und Elemente der urbanen Popkultur von früheren Demonstrationen für oder gegen das Establishment ab. Auf selbstgestalteten Bannern nehmen die Demonstrierenden die herrschenden Eliten satirisch aufs Korn. Auf manchen Protestveranstaltungen bedient man sich eines absurden Humors. So stellte die Stadtverwaltung von Bangkok im Juli 2020 rund um das Demokratiedenkmal unzählige Blumentöpfe auf, um Versammlungen zu verhindern. Die Aktivisten forderten daraufhin die Menschen auf, den neuen städtischen Blumengarten aufzusuchen und gemeinsam „So ein wunderschöner Garten“ zu skandieren. Spätere Protestaktionen wurden beispielsweise von einem beliebten japanischen Manga, dem Buch- und Filmhelden Harry Potter und einer thailändischen Komödie inspiriert. Auf die Behörden, die auf die routinierte Überwachung von Protestaktionen eingestellt sind, wirkt der Einsatz von Humor und Popkultur verwirrend und womöglich entwaffnend. Diese neuen Proteste veranlassten zudem viele Außenstehende, sich mit den Forderungen der Demonstrierenden zu befassen. 

Den drei Forderungen der Protestbewegung liegen vielfältige Missstände zugrunde, die sich in den Jahren der Militärherrschaft zugespitzt haben. Die demonstrierenden jungen Leute erkennen jedoch eine gemeinsame Ursache hinter den zahlreichen politischen Problemen: das Festhalten an der feudalen hierarchischen politischen Ordnung auf Kosten der Volkssouveränität. Da diese Hierarchie von Anhängern des Establishments weiter zementiert wird, haben die Jugendlichen mittlerweile eine pessimistische Sicht ihrer Zukunft in der thailändischen Gesellschaft, es sei denn, sie sind Erben eines reichen Tycoons oder mächtiger politischer Eliten. Viele junge Leute betrachten die Proteste als letzte Chance, für ihre Zukunft zu kämpfen, für eine bessere, in der Souveränität des Volkes verankerte Politik. Entsprechend definieren die Demonstrierenden das „Volk“ als Fundament der thailändischen Nation, das den orthodoxen nationalen Unterbau aus Monarchie und Buddhismus ersetzt. Für Anhänger des Establishments grenzt diese Umdeutung an Verrat und muss unbedingt verhindert werden. Wieder erleben wir die Kollision zweier politischer Visionen, eine verwurzelt in der Vergangenheit, die andere in die Zukunft gerichtet. 

Viele junge Leute betrachten die Proteste als letzte Chance, für ihre Zukunft zu kämpfen, für eine bessere, in der Souveränität des Volkes verankerte Politik.

Je nachdem, wie sich die Demonstrierenden, die Oppositionsparteien und die herrschenden Eliten verhalten, sind drei Szenarien denkbar. Erstens könnte die Regierung den Forderungen der Protestbewegung nachgeben, besonders in Hinblick auf die Verfassungsreform. Wird nur dieser eine Aspekt herausgegriffen, so dürften die Demonstrierenden eine Beschwichtigungstaktik dahinter vermuten und die anderen heiklen Punkte, besonders die Reform der Monarchie, weiterverfolgen. In diesem Fall könnte das zweite und schlimmste Szenario eintreten: Militaristische Gruppen innerhalb des Regimes finden eine Rechtfertigung für die gewaltsame Niederschlagung der Proteste – in Thailand durchaus kein Novum. Angesichts der mangelnden Legitimität der derzeitigen Regierung und der lauter werdenden Kritik am Palast sind militärische Lösungen riskant, denn wenn sich das Regime verkalkuliert, könnte es noch mehr Menschen auf die Straßen treiben.

Das führt uns zum dritten und wahrscheinlichsten Szenario: einem Patt. Vertreter des Regimes spielen „guter Bulle, böser Bulle“, das heißt, die einen versprechen den Demonstrierenden, ihre Forderungen zu erfüllen, während die anderen im Hintergrund zu Repressalien greifen, seien es harte Gerichtsurteile, gezielte Angriffe auf führende Aktivisten oder Schmutzkampagnen gegen gesamte Protestbewegungen. Doch diesmal sind die Demonstrierenden entschlossen und dürften sich von Einschüchterung nicht abschrecken lassen. Daraus könnte eine dauerhafte Pattsituation entstehen.

Aus dem Englischen von Anne Emmert