Seit Beginn der Öffnungs- und Reformpolitik 1978 wurde China dank seines beispiellosen Wirtschaftswachstums aus bitterer Armut in die Riege der Länder mit gehobenem Einkommen im mittleren Bereich (upper middle-income country) katapultiert. Das hohe Entwicklungstempo der vergangenen fünfzig Jahre hat allerdings gravierende Verteilungsprobleme mit sich gebracht: Die Einkommensschere hat sich immer weiter geöffnet, ebenso wie die Entwicklungsschere zwischen den Regionen sowie zwischen Stadt und Land. Große Diskrepanzen gibt es auch beim Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen und bei den wirtschaftlichen Chancen. Letzteres ist eine Folge des je nach Region und Einkommen ungleichen Bildungszugangs.
Vor diesem Hintergrund rief die Kommunistische Partei Chinas (KPCh) 2020 den „Gemeinsamen Wohlstand“ (common prosperity) zum offiziellen Ziel aus. Dahinter verbirgt sich ein ganzes Bündel wirtschafts- und sozialpolitischer Maßnahmen, die eine Balance zwischen Effizienz und Gerechtigkeit, Wachstum und fairer Verteilung schaffen sollen.
Das hohe Entwicklungstempo der vergangenen fünfzig Jahre hat gravierende Verteilungsprobleme mit sich gebracht.
In der Folge hat die chinesische Regierung dieses Ziel in ihren Fünfjahresplan und in ihre langfristige Vision für 2035 aufgenommen, um so die „Nebenwirkungen“ der rasanten wirtschaftlichen Entwicklung zu bekämpfen. Um diese Politik richtig einzuordnen, wollen wir ihre verschiedenen Entwicklungsstadien Revue passieren lassen.
Bis zu den Reformen von 1978 war China eine hochgradig zentralisierte Planwirtschaft. Der Staat bestimmte fast alle Aspekte der Ressourcenverteilung. Seit Gründung der Volksrepublik 1949 sorgte die Regierung bewusst für ein niedriges und relativ einheitliches Lohnniveau, um die Kapitalakkumulation zu fördern. Zwischen 1952 und 1986 zählte China zu den Ländern mit der geringsten Ungleichheit weltweit.
Die Regierung sah in niedrigen Löhnen ein probates Mittel, um die Industrialisierung voranzutreiben. Die Umsetzung dieser Politik ging jedoch zu Lasten der Leistungsanreize und verringerte die wirtschaftliche Effizienz. Die Folge: 1978 belegte China mit einem Pro-Kopf-Einkommen von gerade einmal 156 US-Dollar einen der letzten Plätze weltweit. 1978 lebten 770 Millionen Landbewohner in Armut; die Armutsquote betrug 97,5 Prozent.
1978 reagierte die Regierung auf die mangelnde Leistungsfähigkeit der Planwirtschaft und die gewaltigen finanziellen Schwierigkeiten mit einem entschlossenen Kurswechsel und leitete wirtschaftliche Reformen und eine Liberalisierung des Landes ein. Sie erhob Effizienz zum obersten Gebot und überließ den Kräften des Marktes die bestimmende Rolle bei der Ressourcenverteilung. Etwa zur Jahrtausendwende war der Übergang zur Marktwirtschaft vollzogen. Teil dieses Prozesses war auch der Beitritt zur Welthandelsorganisation (WTO), der Chinas Integration in die Weltwirtschaft beschleunigte.
Die Marktliberalisierung führte zu einer Neuausrichtung der Leistungsanreize und bewirkte ein rasantes Wachstum. Eine explizite Einkommenspolitik wurde in dieser Phase aber nicht betrieben. Dadurch vergrößerte sich die Einkommenskluft zwischen Stadt und Land von 155 US-Dollar im Jahr 1978 auf 3 375 US-Dollar im Jahr 2015 – ein Indikator für ein massives Verteilungsproblem.
Die Linderung der Armut wurde zum Konsens innerhalb der gesamten KPCh und auf allen staatlichen Ebenen.
In der „Neuen Ära“, in der das Land sich bis heute befindet, hat die chinesische Regierung nun erneut konkrete politische Maßnahmen ergriffen, um die Verteilungsprobleme zu lösen. Dabei lassen sich grob zwei Phasen unterscheiden: In der ersten Phase ging es um die Beseitigung der absoluten Armut und in der zweiten geht es um die Verwirklichung des „gemeinsamen Wohlstands“.
Nach seinem Amtsantritt als Generalsekretär der KPCh regte Xi Jinping bei einem Besuch im Westen der Provinz Hunan eine „zielgerichtete Armutsbekämpfung“ an. In der Folge wurde die Linderung der Armut zum Konsens innerhalb der gesamten KPCh und auf allen staatlichen Ebenen. Erhebliche Mittel flossen in die Verbesserung der Infrastruktur im ländlichen Raum und die Gründung diverser nachhaltiger Beschäftigungsinitiativen auf lokaler Ebene. Mit gezielter Förderung, der Ansiedlung von Kadern in den Dörfern und mit anderen Maßnahmen wurden binnen sieben Jahren beachtliche Resultate erzielt: Ende 2020 hatten die 832 ärmsten Kreise im Land allesamt die Armut überwunden, und nach chinesischen Maßstäben war die absolute Armut beinahe gänzlich beseitigt.
Mit der Beseitigung der absoluten Armut hat China ein solides Fundament für die zweite Phase geschaffen: die Verwirklichung des „gemeinsamen Wohlstands“ und den weiteren Abbau der Verteilungsungleichheit. Auch wenn nicht ganz klar ist, was „gemeinsamer Wohlstand“ konkret beinhaltet, deuten viele der verfügbaren Strategiepapiere darauf hin, dass eine „Ex-ante-Gleichheit“ angestrebt wird, d.h. Chancengleichheit, nicht Ergebnisgleichheit.
Nach Aussage der KPCh „besteht die erste Regierungsaufgabe dieses Landes darin, das Volk reicher zu machen“. Dementsprechend rückte der Nationalkongress 2015 die „schrittweise Verwirklichung des gemeinsamen Wohlstands für alle Menschen“ auf der Prioritätenliste noch weiter nach oben und betonte, für den Sozialismus chinesischer Prägung müsse der gemeinsame Wohlstand das Grundprinzip und die entscheidende Voraussetzung sein.
Xi Jinping bekräftigte dies 2021 in seiner Rede zum 100. Jahrestag der Parteigründung: „Die Verwirklichung des gemeinsamen Wohlstands ist nicht nur eine wirtschaftliche Frage, sondern auch ein wichtiges politisches Anliegen, das sich aus den Regierungsgrundsätzen der Partei ergibt.“ Aus all diesen Aussagen spricht die feste Entschlossenheit der Partei, China zu erneuern.
Fest steht, dass China politisch allen Grund hat, die Verwirklichung des „gemeinsamen Wohlstands“ mit Hochdruck voranzutreiben. Die wachsende Einkommensungleichheit und die hohen Immobilienpreise hindern jüngere Generationen am sozialen Aufstieg und beeinträchtigen die vertikale Mobilität von Bevölkerungsgruppen mit niedrigerem Einkommen. Dies führt zu gesellschaftlicher Instabilität: Petitionen und Kundgebungen bestimmter gesellschaftlicher Gruppen haben zuletzt deutlich zugenommen und könnten die politische Stabilität gefährden.
Die wachsende Einkommensungleichheit und die hohen Immobilienpreise führen zu gesellschaftlicher Instabilität.
Neben den politischen Aspekten lässt sich auch eine wirtschaftliche Motivation für die genannten Maßnahmen vermuten. Die jüngsten handelspolitischen Reibungen zwischen den USA und China sind ein Indiz dafür, dass ihr geopolitischer Konflikt sich zuspitzt. China reagiert mit dem Umstieg auf die sogenannte „Politik der zwei Kreisläufe“, also dem Fokus auf heimische Nachfrage bei gleichzeitiger weltwirtschaftlicher Offenheit, um sich mit Blick auf mögliche Konflikte vom bilateralen Handel unabhängiger zu machen. Da erhöhte Ungleichheit aber die durchschnittliche Konsumneigung schwächt, könnte möglicherweise die Binnennachfrage und damit das Wirtschaftswachstum gebremst werden.
Die politischen Maßnahmen zur Verwirklichung des „gemeinsamen Wohlstands“ zeigen, dass der Regierung soziale Gerechtigkeit ein Anliegen ist, und spiegeln Chinas umfassende Reformanstrengungen wider. Der Kerngedanke ist und bleibt, „dem Markt eine entscheidende Rolle bei der Ressourcenverteilung zu überlassen, nötigenfalls ergänzt durch Eingriffe des Staates“.
Erreicht werden soll Ex-ante-Chancengleichheit unter anderem durch erhebliche finanzielle Hilfen für die Pflichtschulbildung in weniger entwickelten Regionen; die Einschränkung außerschulischer Lehrangebote, die sich eher Wohlhabende leisten können; die Subventionierung von fertigkeitsbezogenen Hochschulangeboten sowie von Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten in kleinen und mittleren Unternehmen und eine bessere Infrastruktur für die betriebliche Aus- und Weiterbildung. Die wichtigsten Ex-Post-Eingriffe zur Effizienzsteigerung der Märkte sind wettbewerbspolitische Maßnahmen, mit denen die Monopolmacht verschiedener Internetplattformen wie DiDi, WeChat, Meituan und Alibaba eingeschränkt werden soll.
„Gemeinsamer Wohlstand“ ist ein gesellschaftliches Experiment von großer Tragweite, aber wie sich die Maßnahmen auswirken bleibt abzuwarten.
Kurz gesagt: „Gemeinsamer Wohlstand“ zielt vor allem darauf ab, Effizienz und Gerechtigkeit, Wachstum und faire Verteilung auszubalancieren, damit die Früchte der wirtschaftlichen Entwicklung gleichmäßig auf die Gesamtgesellschaft verteilt werden können. Der Katalog von wirtschafts- und sozialpolitischen Maßnahmen trägt zur Schaffung eines ganzheitlichen Wachstumsmodells bei, das für Ex-ante-Chancengleichheit sorgt und Ex-post-Marktverzerrungen minimiert. Dies ist ein gesellschaftliches Experiment von großer Tragweite, aber wie sich die Maßnahmen auswirken bleibt abzuwarten.
Aus dem Englischen von Andreas Bredenfeld