Die G7-Außenminister trafen sich Anfang November in Tokio. Die Abschlusserklärung vom 8. November enthält die erste offizielle Stellungnahme der G7-Staaten zum Gazakrieg. Darin verurteilen die Außenministerinnen und Außenminister den Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober scharf, sie bekräftigen Israels Recht auf Selbstverteidigung einschließlich des expliziten Ziels, zukünftige Angriffe zu verhindern. Und sie forderten eine sofortige und bedingungslose Freilassung der Geiseln. Die Erklärung entspricht maßgeblich der gemeinsamen Stellungnahme Deutschlands, Frankreichs, Großbritanniens, Italiens und der Vereinigten Staaten; sie unterscheidet sich jedoch deutlich von den ersten Reaktionen des Gastgeberlands Japan, welches die G7-Präsidentschaft innehat. Weder der Pressesprecher des Außenministeriums am Tag des Angriffs noch die Außenministerin Yoko Kamikawa am Folgetag wählten das Wort „Terror“ oder hoben das israelische Recht auf Selbstverteidigung hervor. Stattdessen wurden „alle Seiten“ zur „maximalen Zurückhaltung“ aufgefordert. 

In der internationalen Presse wurden diese zurückhaltenden Verlautbarungen mit einer einfachen Formel erklärt: Öl und Amerika. Japan versuche eine möglichst neutrale Position einzunehmen, um zwei widersprüchliche Interessen zu balancieren. Einerseits ist Japan wirtschaftlich von Ölimporten aus dem Nahen Osten abhängig und daher um gute Beziehungen zur arabischen Welt bemüht. Das Land ist daher einer der wichtigsten Unterstützer des Hilfswerks der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten. Der drastische Wertverlust des Yen seit Februar 2022 hat die Problematik der Abhängigkeit von Ölimporten noch einmal verschärft. Andererseits ist Japan sicherheitspolitisch auf die Vereinigten Staaten angewiesen, die wiederum auch wichtigster Unterstützer Israels sind. 

Würde man dieser Interpretation Glauben schenken, müsste man die japanische Unterstützung der gemeinsamen Erklärung vom 8. November dann allein durch Druck aus Washington erklären. Ein japanisch-amerikanischer Austausch über den Terrorangriff des 7. Oktober mag auch stattgefunden haben. Dennoch greift die Verengung der japanischen Außenpolitik auf das Öl und die Allianz mit den USA zu kurz. Sie beruht auf veralteten Annahmen über die japanische Nahostpolitik und blendet andere wichtige Elemente der japanischen Außenpolitik aus. 

Seit Benjamin Netanjahus Besuch in Japan 2014 und einem Gegenbesuch Shinzo Abes im Folgejahr haben sich die japanisch-israelischen Beziehungen deutlich intensiviert. Japanische Unternehmen wurden zu wichtigen Investoren, um von der Innovationskraft des Landes zu profitieren. Im ersten Halbjahr 2023 machten japanische Investitionen 17 Prozent des Gesamtvolumens aus. Auf staatlicher Ebene wurde vor allem die sicherheitspolitische und militärische Zusammenarbeit gestärkt, was im August 2022 in der Unterzeichnung eines Memorandums über Verteidigungszusammenarbeit mündete. Die Formel Öl und Amerika wird auch nicht den politischen Veränderungen im Nahen Osten gerecht, insbesondere derer im Rahmen der Abraham Accords. Dies zeigte sich auch daran, dass die erste Stellungnahme der Vereinigten Arabischen Emirate vom 8. Oktober eine deutlichere Sprache wählte als die Japans.

Zudem war die Entführung von Zivilisten, darunter auch von Kindern, eine Grenzüberschreitung, die in Japan an die Verschleppung von Japanerinnen und Japanern durch Nordkorea in den 1970er und 80er Jahren erinnerte. Die genaue Zahl der Opfer ist immer noch nicht abschließend geklärt. Das japanische Außenministerium bemüht sich aktiv, andere Länder bei der Rückkehr der Opfer zu unterstützen. Außenministerin Kamikawas erwähnte die Entführungen durch die Hamas in ihrer ersten Stellungnahme am 8. Oktober ausdrücklich, wie auch Premierminister Kishida auf X (Twitter). In der Abschlusserklärung der G7-Außenministerinnen und -Außenminister vom 8. November wurden dann sowohl die Freilassung der Geiseln der Hamas als auch die Klärung der verbleibenden Entführungsfälle durch Nordkorea gefordert.

Japan betrachtet die Aufrechterhaltung der internationalen regelbasierten Ordnung als den Grundpfeiler der eigenen Außenpolitik.  

Es darf auch nicht übersehen werden, dass der Versuch, größtmögliche Neutralität zu wahren, nicht den strategischen Zielen der japanischen Außenpolitik entspricht. Japan als eine von drei latent feindlich gesinnten Nachbarn umgebene Mittelmacht betrachtet die Aufrechterhaltung der internationalen regelbasierten Ordnung als den Grundpfeiler der eigenen Außenpolitik. Einseitige Änderungen des Status quo werden grundsätzlich und strikt abgelehnt, was bereits 2015 deutlich wurde in der Darlegung von Japans Position zum Nahostkonflikt durch das Außenministerium. Laut Aussagen der Hamas selbst sollte der Terrorangriff die Normalisierung der Beziehungen zwischen Israel und arabischen Staaten unterminieren und letztlich zur Zerstörung Israels führen. Der Terrorangriff der Hamas war somit auch ein Angriff auf die internationale Ordnung. Eine echte japanische Neutralität würde daher den Grundsätzen japanischer Außenpolitik widersprechen.

Im Rahmen der Unterstützung der internationalen Ordnung hat Japan aber auch die eigene Unterstützung der Zweistaatenlösung bekräftigt und die humanitäre und die Entwicklungshilfe um 75 MillionenUS-Dollar aufgestockt. Seit Beginn der israelischen Offensive hat Tokio auch stets von beiden Seiten die Einhaltung des humanitären Völkerrechts und humanitäre Pausen in den Kampfhandlungen gefordert. Dass sich Japan am 26. Oktober, wie Deutschland, bei der Abstimmung in der UN-Generalversammlung über die von Jordanien eingebrachte Resolution enthielt, kann so nachvollzogen werden. Die Resolution verurteilte zwar nicht den Terror und forderte eine Waffenruhe ohne Hinweis auf das israelische Recht auf Selbstverteidigung, verlangte aber immerhin gleichzeitig die Einhaltung des Völkerrechts und die sofortige Freilassung aller Geiseln.

Dass Japan die gemeinsame Erklärung Deutschlands, Großbritanniens, Frankreichs, Italiens und der Vereinigten Staaten vom 9. Oktober nicht mit unterzeichnet hat, sollte daher nicht überbewertet oder fehlinterpretiert werden. Es ist anzunehmen, dass Japan die Formulierung „unsere Länder werden Israels Maßnahmen, sich zu verteidigen, unterstützen“ nicht hätte mittragen können, da die japanische Gesetzgebung den Export von Waffen weiterhin untersagt. Auch an die Ukraine wurden deshalb nur unbewaffnete Drohnen und Schutzausrüstung geliefert.

Auf Nachfrage bei der Pressekonferenz des Außenministeriums am 24. Oktober, warum Japan die gemeinsame Erklärung von fünf der G7-Staaten am Vortag nicht mitgetragen hätte, antwortete Außenministerin Kamikawa, dass die Erklärung nicht über die G7 koordiniert worden sei. Dies kann durchaus auch im Falle der ersten Erklärung der Fall gewesen sein. Da die zweite Erklärung keine Aussagen beinhaltete, die von Japan nicht bereits geteilt worden waren, ist die Aussage der Außenministerin glaubhaft. So hatte Vizeaußenminister Masataka Okano bereits am 11. Oktober bei einem Treffen mit dem israelischen Botschafter vorbehaltlos den Angriff der Hamas als „Terror“ verurteilt, Israel die Solidarität Japans zugesichert und das israelische Recht auf Selbstverteidigung im Rahmen des internationalen Rechts als „offensichtlich“ bezeichnet. Dies wurde am Folgetag von Außenministerin Kamikawa als Standpunkt der japanischen Regierung bestätigt.

Im Laufe der nächsten Wochen wurden diese Formulierungen fester Bestandteil japanischer Erklärungen, zum Bespiel auch bei einem Telefongespräch mit dem Außenminister der palästinensischen Autonomiebehörde. Im Sicherheitsrat stimmte Japan dann auch gegen den von Russland eingebrachten Resolutionsentwurf vom 16. Oktober, der keine Verurteilung der Hamas beinhaltete, aber für die Entwürfe Brasiliens und der USA vom 18. und 25. Oktober. Wie auch Deutschland stimmte Japan am Folgetag für den von Kanada eingebrachten Zusatz zur jordanischen Resolution, der den Terror der Hamas verurteilte, dann jedoch abgelehnt wurde. 

Die japanische Bürokratie, zu der das Außenministerium gehört, ist weithin als schwerfällig und vorsichtig bekannt, was Veränderungen angeht.

Die Überbewertung der ersten japanischen Stellungnahmen beruht aber auch darauf, dass bürokratischen Prozessen nicht genügend Beachtung geschenkt wird. Die japanische Bürokratie, zu der das Außenministerium gehört, ist weithin als schwerfällig und vorsichtig bekannt, was Veränderungen angeht. Japanische Politikerinnen und Politiker haben es schwer, sich gegen dieses Beharrungsvermögen der Bürokratie durchzusetzen, da sie oft nur kurz im Amt sind. Außenministerin Kamikawa hatte ihr Amt erst am 13. September 2023 angetreten und war kurz danach zu einem Antrittsbesuch bei den Vereinten Nationen in New York aufgebrochen. Vom 8. bis zum 13. Oktober machte sie dann Antrittsbesuche in Südostasien, was die Koordination sowohl mit ihrem eigenen Ministerium als auch mit dem Premierminister erschwert haben wird. Vor diesem Hintergrund scheinen sich die ersten Stellungsnahmen an Beispielen aus der Vergangenheit orientiert zu haben. Der Wortlaut der Presseerklärung vom 7. Oktober ähnelt stark einer Erklärung von 2019. Mit den Erklärungen vom 11. und 12. Oktober befand sich Japan dann bereits im Konsens mit den anderen G7-Staaten

Es ist festzuhalten, dass sich Japan in der gegenwärtigen Krise wieder als Wertepartner erwiesen hat, dessen Hauptaugenmerk auf der Bewahrung der regelgebundenen internationalen Ordnung liegt. Die ersten diplomatischen Reaktionen müssen dabei auch vor dem Hintergrund einer gewissen bürokratischen Schwerfälligkeit gesehen werden.