Ein wenig abseits der Weltpolitik nehmen die Spannungen zwischen Nord- und Südkorea in den letzten Monaten zu. Die Hauptverantwortung dafür trägt zweifellos die nordkoreanische Regierung. In diesem Jahr hat sie bereits über 40 Raketentests durchgeführt und ignorierte damit das seit langem existierende Verbot der Vereinten Nationen. Eine Langstreckenrakete schoss Nordkorea jüngst über Japan hinweg und hob damit das sich selbst auferlegte Moratorium auf, keine Langstreckenraketen zu testen. Eine weitere Rakete schossen die nordkoreanischen Streitkräfte provokativ unmittelbar in der Nähe Südkoreas ins Ziel.
Experten spekulieren darüber, ob Nordkorea in Kürze einen weiteren Atomtest – den siebten – durchführen wird. Aktivitäten im Nukleartestzentrum deuten jedenfalls darauf hin. Die Regierung Kim Jong-uns brüstet sich damit, taktische Atomwaffen einsetzen zu können, und unterstreicht dies mit entsprechenden Militärmanövern. Im September verabschiedete die Regierung ein Gesetz, in dem sich Nordkorea als Atomwaffenstaat bezeichnet und Gespräche über Denuklearisierung kategorisch und unwiderruflich ausschließt.
Es ist an der Zeit, der Realität ins Auge zu sehen und anzuerkennen, dass Nordkorea über einsatzfähige Atomwaffen verfügt. Sollte die internationale Gemeinschaft (oder zumindest Südkorea und die USA als Seouls enger Verbündeter) also Nordkorea als Nuklearmacht anerkennen? Bislang verfolgten die Vereinten Nationen und die USA, aber auch China, Russland, Japan, die EU und Südkorea über mehr als drei Jahrzehnte den Ansatz, gemeinsam das nordkoreanische Atomprogramm zu stoppen. Doch alle bisherigen Versuche sind gescheitert. Während Nordkoreas nukleare Bewaffnung vor drei Jahrzehnten lediglich eine theoretische Möglichkeit war, ist sie heute Realität geworden. Das Land verfügt nun über schätzungsweise 40 bis 50 Atomsprengköpfe.
Mittlerweile befinden wir uns in einem veränderten geopolitischen und regionalen Umfeld. Der Krieg in der Ukraine erfordert viel Aufmerksamkeit; die Spannungen auf der koreanischen Halbinsel sind aus amerikanischer, vor allem aber aus europäischer Sicht in den Hintergrund gedrängt. Wladimir Putins wiederholte Hinweise auf den möglichen Einsatz von Atomwaffen zeigen der Regierung Kim eindrucksvoll, wie mit Atomwaffen Machtpolitik betrieben werden kann.
Das Verhältnis zwischen den USA und China ist derzeit angespannt: Eine Initiative wie die Sechsparteiengespräche zur Rüstungskontrolle in Nordkorea in den Zweitausenderjahren, an denen auch Russland beteiligt war und die maßgeblich von China forciert wurden, ist heute völlig unrealistisch. Ein russisches und chinesisches Veto im UN-Sicherheitsrat im Juni 2022 gegen die Verschärfung der Sanktionen nach einem nordkoreanischen ballistischen Raketentest zeigt, dass heute noch weniger Gemeinsamkeiten bestehen als in den Jahren zuvor.
Es ist an der Zeit, der Realität ins Auge zu sehen und anzuerkennen, dass Nordkorea über einsatzfähige Atomwaffen verfügt.
Regional rüsten Nord- und Südkorea sowohl rhetorisch als auch militärisch auf. Seit Südkoreas neuer Präsident Yoon Suk-yeol im Mai 2022 sein Amt antrat, hat er zwar Angebote zur Zusammenarbeit mit dem Brudervolk im Norden gemacht, die aber die Kim-Regierung als nicht ernst gemeint ablehnte. Gleichzeitig setzt Yoon ganz auf militärische Abschreckung und drängt die USA zu noch stärkerem militärischem Engagement. Kim Jong-un fürchtet einen präventiven Militärangriff aus dem Süden, der Nordkoreas Führungselite ausschalten könnte. Deshalb auch kürzlich die Verabschiedung des neuen Atomgesetzes, das einen nuklearen Erstschlag nicht ausschließt.
Ist jetzt ein neuer, radikal anderer Ansatz erforderlich, wie er von einzelnen Experten gefordert wird? In der New York Times erschien Mitte Oktober 2022 ein Artikel mit Jeffrey Lewis, Nuklearexperte am Middlebury Institute of International Studies, in dem er die bisherige Politik zur Kontrolle von Nordkoreas Atomwaffen in Frage stellte: „Wenn die letzten 30 Jahre nicht überzeugend genug waren, zeigt die aktuelle Krise, dass ein neuer Ansatz dringend erforderlich ist.“ Und eine ebenfalls im Oktober veröffentlichte Studie der Stiftung Wissenschaft und Politik unterstellt, dass die internationale Gemeinschaft an einem „illusorischen Ziel festhält, das Land zum Verzicht auf seine Atomwaffen zu überreden oder zu zwingen“.
Tatsächlich sind bislang alle Rüstungskontrollversuche gescheitert. Weder Anreize noch Sanktionsdruck, weder Drohungen noch Isolierung haben in Nordkorea zum Einlenken geführt. Nordkorea hat der Integration in die internationale Gemeinschaft ohne Nuklearwaffen die Isolation mit einem Atomprogramm vorgezogen. Und jetzt, da Russland auf Waffenimporte aus Nordkorea zurückgreift, scheint selbst die Isolation zu bröckeln. Zurzeit wird international nicht viel mehr getan, als immer wieder zu betonen, dass Nordkorea seine Atomambitionen aufgeben muss.
So unterschiedlich sie gewesen sein mögen, bis dato scheiterten noch alle Konzepte. Die Clinton-Administration versuchte, zusammen mit der EU, Japan und Südkorea, in den Neunzigerjahren Nordkorea mit einer „Zuckerbrot-und-Peitsche-Politik“, mit wirtschaftlichen Anreizen und Sanktionen, zu einer Rückkehr in die internationale Gemeinschaft zu bewegen sowie dazu, ihr Nuklearprogramm aufzugeben. Die Bush-Regierung verhängte noch härtere Sanktionen und band China stärker in die Rüstungskontrollverhandlungen ein. Doch auch das damals geschlossene Abkommen scheiterte schließlich und Nordkorea kündigte seine Mitgliedschaft im Atomwaffensperrvertrag auf. Die Obama-Regierung setzte auf eine Politik der „strategischen Stabilität“, sprich die Einfrierung der Machtverhältnisse. Donald Trumps öffentlichkeitswirksame Treffen mit Kim Jong-un endeten bekanntlich ebenfalls erfolglos. Und auf Joe Bidens Gesprächsangebote reagierte Nordkorea mit dem kontinuierlichen Ausbau seiner militärischen Kapazitäten.
Das Problem zu ignorieren, ist jedenfalls keine sinnvolle politische Option.
Da das Regime in Pjöngjang seine Nuklearwaffen als Lebensversicherung betrachtet, ist das Ziel einer möglichen Denuklearisierung unrealistisch. Doch was ist die Konsequenz? Das Problem zu ignorieren, ist jedenfalls keine sinnvolle politische Option. Nordkorea wird zukünftig kontinuierlich seine Nuklear- und Raketenfähigkeiten ausbauen. Im Falle der Atomwaffenprogramme Indiens, Pakistans und Israels haben die Vereinten Nationen keine Schritte zur Sanktionierung unternommen. Stillschweigend wird akzeptiert, dass diese Länder sich außerhalb des Atomwaffensperrvertrags bewegen. Sollte dies auch eine Option im Falle Nordkoreas sein?
Der Ukrainekrieg hat unter anderem dazu geführt, dass Atomwaffen wieder ins Zentrum strategischer Überlegungen gerückt sind. Konzepte wie „Wandel durch Handel“ sind derzeit völlig diskreditiert, wie das Verhältnis des Westens zu Russland zeigt. In den Beziehungen zu Nordkorea haben wirtschaftliche Anreize nie die erhoffte Wirkung erzielt. Und jetzt stellt der Westen auch die Zusammenarbeit mit China immer häufiger in Frage und betont stattdessen die Systemkonkurrenz.
Immer mehr Länder setzen auf die Stärkung der militärischen Kapazitäten, um sich zu verteidigen oder andere Mächte abzuschrecken. Die politischen Realitäten nüchtern zu analysieren, bedeutet im Falle Nordkoreas, anzuerkennen, dass das Regime über einsatzfähige Atomwaffen verfügt. Das bedeutet nicht, den nordkoreanischen Völkerrechtsbruch zu legitimieren. Der Vorteil einer De-facto-Anerkennung á la Indien, Pakistan und Israel könnte jedoch darin bestehen, Verifikationsmaßnahmen der Internationalen Atomenergieagentur (IAEA) auszuhandeln und möglicherweise China wieder stärker in den Rüstungskontrollprozess in Nordkorea einzubinden. Denn die chinesische Regierung hat nach wie vor kein Interesse an einem atomar bewaffneten nordkoreanischen Nachbarn.
Es gibt aber auch einige negative Konsequenzen einer De-facto-Anerkennung. Es wäre ein Signal, beispielsweise an den Iran, dass sich illegitimes Verhalten lohnt. Ebenso bedeutete es eine weitere Aushöhlung des Atomwaffensperrvertrags. Schließlich würden die Positionen derjenigen gestärkt, die schon seit längerem die atomare Bewaffnung in Südkorea sowie in Japan befürworten. Dies ist, wie Jeffrey Lewis betont, zwar „alles andere als ideal, aber bei weitem besser, als dass Pjöngjang weiterhin Waffen anhäuft“.