Mit dem Amtsantritt des neuen südkoreanischen Präsidenten Yoon Suk-Yeol hält auch eine neue Nordkoreapolitik Einzug – eine Politik, die Beobachter in Europa und Deutschland aufhorchen lassen sollte. Bereits während des Präsidentschaftswahlkampfs stellte Yoon klar, dass er gegenüber der Führung in Pjöngjang eine härtere Linie verfolgen würde als sein Vorgänger Moon Jae-In. Beispielsweise betonte Yoon, dass er die militärische Zusammenarbeit zwischen Südkorea und den USA ausbauen werde und dass es Gespräche mit Nordkoreas Machthaber Kim Jong-Un nur mit einer realistischen Aussicht auf konkrete Ergebnisse geben werde. Welche Maßnahmen man zur Schaffung solcher Aussichten ergreifen würde, blieb allerdings unklar.
In seiner Rede zur Amtsübernahme am 10. Mai hat Präsident Yoon nun einige Hinweise darauf gegeben, wie seine Politik gegenüber Nordkorea aussehen soll: wirtschaftliche Unterstützung im Gegenzug für eine vollständige Denuklearisierung sowie deutliche politische und militärische Reaktionen auf weitere Provokationen aus Pjöngjang. Auffallend sind dabei die Gemeinsamkeiten mit den – gescheiterten – Politikansätzen konservativer Vorgängerregierungen, besonders unter Lee Myung-Bak von 2008 bis 2013. Diese hatten ebenfalls versucht, Nordkorea einerseits mit potenziellen wirtschaftlichen Anreizen zur Aufgabe des Nuklearprogramms zu bewegen und andererseits mit der Drohung von harten Reaktionen von einer weiteren Entwicklung militärischer Kapazitäten abzubringen. Ausgehend von Präsident Yoons Amtsantrittsrede ist zu erwarten, dass die nächsten fünf Jahre südkoreanischer Nordkoreapolitik sich vorrangig auf diese Ziele konzentrieren werden.
Es deutet viel darauf hin, dass Yoons Ziele und Methoden eher von ideologischen Vorstellungen und einer sichtbaren Abgrenzung zur Moon-Regierung motiviert und weniger an aktuellen Gegebenheiten ausgerichtet sind.
Leider scheint sich Yoon aber nicht im Klaren darüber zu sein, dass die Voraussetzungen für einen Erfolg alles andere als gegeben sind. Es deutet viel darauf hin, dass seine Ziele und Methoden eher von ideologischen Vorstellungen und einer sichtbaren Abgrenzung zur Moon-Regierung motiviert sind und weniger an aktuellen Gegebenheiten ausgerichtet sind. Diese Art der Politik droht, unabsichtlich oder nicht, das aufkeimende Wettrüsten in Ostasien zu befeuern.
Es ist äußerst unwahrscheinlich, dass Nordkorea auf wirtschaftliche Anreize aus Südkorea eingehen wird. Zum einen hat Yoon bereits klargestellt, dass es wirtschaftliche Hilfe erst nach Schritten in Richtung nuklearer Abrüstung geben wird, was Nordkorea seit jeher ablehnt. Zum anderen hat es selbst der ehemalige US-Präsident Donald Trump – aus der weitaus stärkeren Verhandlungsposition der USA – nicht geschafft, ein Abkommen mit Nordkorea auf Basis wirtschaftlicher Kooperation zu schließen. Kim Jong-Un kann es sich schlichtweg leisten, wirtschaftliche Hilfe auszuschlagen.
Nuklearwaffen sichern das politische System Nordkoreas symbolisch: Sie verkörpern den Schutz vor einer äußeren Bedrohung, mit der das diktatorische System gerechtfertigt wird, und sind als Geschenk der Kim-Familie an das nordkoreanische Volk mythologisiert.
Weiterhin ist das erklärte Ziel Präsident Yoons – die komplette, verifizierbare und unumkehrbare Denuklearisierung der koreanischen Halbinsel – ohne einen politischen Wechsel in Pjöngjang nicht vorstellbar. Das von Kim Jong-Un angeführte System braucht nukleare Waffen zur Abschreckung von potenziellen Feinden. Darüber hinaus sichern Nuklearwaffen das politische System symbolisch: Sie verkörpern den Schutz vor einer äußeren Bedrohung, mit der das diktatorische System gerechtfertigt wird, und sind als Geschenk der Kim-Familie an das nordkoreanische Volk mythologisiert. Nuklearwaffen erhalten das nordkoreanische System und werden deshalb nicht einfach gegen Wirtschaftsunterstützung eingetauscht werden.
Die Nordkoreapolitik von Präsident Yoon hat Auswirkungen über die Region hinaus. In der Vergangenheit führte bereits eine Kooperation zwischen den USA und Südkorea zur Stationierung von Raketenabwehrsystemen zu Verstimmungen mit China. Wenn Präsident Yoon von der – zumindest nominellen – Balance-Politik abkehrt und sich den USA zuwendet, wird das die Spannungen in Ostasien verschärfen. Darüber hinaus hat Südkorea im März 2022 – wenige Tage nach dem Launch einer nordkoreanischen Interkontinentalrakete – eine eigene Rakete getestet. Die Entwicklung eigener Raketen und Atom-U-Boote wurde bereits unter Moon Jae-In vorangetrieben. Weder Sanktionen noch die Corona-Pandemie haben Nordkorea substanziell daran gehindert, Nuklearwaffen und Trägersysteme weiterzuentwickeln. Auf der koreanischen Halbinsel zeichnet sich ein Wettrüsten ab, das in Berlin wie in Brüssel Grund zur Sorge sein sollte.
Das nordkoreanische Regime hat in Krisenzeiten schon oft eine starke politische Resilienz gezeigt. Es ist daher nicht anzunehmen, dass eine Coronavirus-Welle einen politischen Wandel auslöst.
Der Ukraine-Krieg hat Europa vor Augen geführt, wie stark sich regionale Konflikte auf die Weltwirtschaft auswirken. Die koreanische Halbinsel ist längst einer der wichtigsten Welthandelsknotenpunkte. Die südkoreanische Stadt Busan hat einen der geschäftigsten Häfen der Welt, Südkorea gehört zu den zehn größten Volkswirtschaften. Während das destruktive Potenzial eines Konflikts enorm ist, befindet sich in der Region momentan glücklicherweise kein Akteur, der ernsthaft danach strebt, die nationalen Grenzen militärisch neu zu ziehen. Nichtsdestotrotz erhöhen Wettrüsten und aggressive Rhetorik die Unsicherheit in der Region. Es liegt daher auch im Interesse der EU, nicht erst später auf die Entwicklungen vor Ort zu reagieren, sondern jetzt zu agieren.
Die aktuell rasant ansteigende Zahl an Coronavirus-Fällen in Nordkorea gibt Grund zur Sorge – weniger wegen der politischen als wegen der humanitären Folgen. Das nordkoreanische Regime hat in Krisenzeiten schon oft eine starke politische Resilienz gezeigt. Es ist daher nicht anzunehmen, dass eine Coronavirus-Welle einen politischen Wandel auslöst. Die bisherige Abschottungs- und Leugnungspolitik der nordkoreanischen Führung wird – gepaart mit dem unzureichenden Gesundheitssystem – im schlimmsten Fall zu einer hohen Anzahl an Toten führen.
Die EU könnte ihr diplomatisches Kapital nutzen, um auf Basis humanitärer Hilfe die Grundlage für Dialogkanäle mit der politischen Führung Nordkoreas zu schaffen.
Dennoch ist es durchaus vorstellbar, dass Nordkorea angesichts steigender Inzidenzen im Ausland Hilfe sucht. Für Südkorea wäre diese Situation allerdings kompliziert. Einerseits stellte Präsident Yoon Nordkorea während des Besuchs von US-Präsident Joe Biden in Seoul am vergangenen Wochenende Unterstützung bei der Bekämpfung der Pandemie in Aussicht. Andererseits finden in Südkorea am 1. Juni Kommunalwahlen statt, die als erster Stimmungstest für die Yoon-Regierung gelten. Wenn Yoon sein politisches Profil schärfen will, wird er vermeiden, seinen politischen Gegnern das Argument zu liefern, er „belohne“ Nordkorea auch noch mit Impfstoff. Und wenn Südkorea und die USA zudem ihre gemeinsamen Militärmanöver ausweiten, dann wird ein bekannter Weg eingeschlagen, der traditionell darin mündet, dass Nordkorea den Dialog ablehnt.
In dieser Situation könnte die EU ihr diplomatisches Kapital nutzen, um auf Basis humanitärer Hilfe die Grundlage für Dialogkanäle mit der politischen Führung Nordkoreas zu schaffen. Dass die EU hiermit im Alleingang nicht die Denuklearisierung Nordkoreas oder einen Kurswechsel in Seoul bewirken kann, ist offensichtlich. Sie kann jedoch versuchen, über politische Netzwerke deeskalierend auf Pjöngjang einzuwirken. Und sie kann die Partnerschaft mit Seoul nutzen, um weitere Möglichkeiten der Kooperation voranzubringen. Auch wenn der neue Präsident in Seoul momentan nicht daran interessiert scheint, eine langfristige diplomatische Lösung für die aktuellen Probleme zu finden – im Angesicht der sich verhärtenden Fronten in Ostasien ist es jetzt an der Zeit, solche mögliche Dialogschienen aktiv vorzubereiten. Denn das Miteinander-Reden droht im Wettrüsten unterzugehen.